Tagesblick – 3.8.2025 Sonntag

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FAZIT DES TAGES – oder: Nachrichten aus dem irrwitzigen Weltzirkus

  • Israel-Hamas-Hisbollah-Krieg: Erschütternde Bilder von den Geiseln empören Israel.
    Hamas knüpft Verhandlungen und Geiselfreilassung an vorherige Anerkennung eines Palästinenserstaates, der sich auf ganz Palästina erstrecken soll, Auslöschung Israels inbegriffen.
    Kommt es zu keiner Geiselfreilassung, dann geht der Gaza-Krieg weiter, so Israels Armeechef.
    Hilfslieferungen durch die Israeli gehen weiter.
    Bibi-Files und Netanjahu.
    ANALYSE: Die sicherheitspolitisch wichtige Rolle der Drusen in Israel erklärt Israels Verhalten in Syrien.
    ANALYSE: Politische Neuausrichtung: Saudi-Arabiens Freundschaft mit Israel ist einstweilen auf Eis gelegt.
  • Ukraine-Krieg: Heftigere ukrainische Nadelstiche.
    USA drohen Russland mit schwerwiegenden Konsequenzen.
    „Atomdrohungen“ als eskalatives Moment, so sieht es ein deutscher Oberst a.D.
    Russland erkennt die Taliban-Regierung an.
    ANALYSE: Wie schaut die Militärhilfe für die Ukraine aus? (Stand: 15.7.2025)
    INTERVIEW: Die Schweiz, Neutralität und die Möglichkeit eines Krieges.
  • BRASILIEN und der unmögliche Ort der 30. Weltklimakonferenz zeitigen Proteste.
  • SCHWEIZ: Finanzstabilität des Musterlandes wackelt, so der IMF.
  • EUROPÄISCHE UNION fordert neue KI-Regeln.
    ANALYSE: Europa wird zum Schuldendorado, eine bedenkliche Entwicklung.
  • POLEN als Profiteur der Globalisierung ist eine Art neue europäische Wirtschaftsmacht.
  • DEUTSCHLAND: Schuldenorgie zwingt zum Sparen – eigentlich.
    KOMMENTAR: hoffen auf Wirtschaftsaufschwung zwecks Schuldenreduktion ist eine Illusion.
    KOMMENTAR: Merz sollte Macron in seinen zentralistischen EU-Vorhaben stoppen.
  • ÖSTERREICH: Kaiser-Nachfolge in Kärnten dürfte in trockenen Tüchern sein.
    Nasser Juli nützt der Landwirtschaft.
  • Weitere COMMENTS vorhanden

ZEITTHEMA – Soft Power Tourismus: Hypertourismus, gibt es den?

MÄRKTE – Zuviel Energieverbrauch: Platzt die KI-Blase, wie eine Autorin meint.

Themenreigen – KI: Die KI-Blase wird wegen Energiemangels platzen, meint eine Autorin, die Blößen der KI-Wirtschaftler offenlegt. GENDER: Gendern als Bevormundung und Ausdruck des Machstrebens einer kleinen Gruppe. Operative Eingriffe und Transmenschen. 

Viel Stoff – Nutze die Suchfunktion!

Apropos Weltzirkus: Zirkus ist was für Kinder und Junggebliebene, Staunen und Lachen über die Clowns! Im Weltzirkus tummeln sich viele Zauberkünstler und Clowns. Lachen wir also, Lachen ist die beste Medizin gegen Depressionen. 

EMPFEHLUNG

INFORADIO als Nachrichtensender am laufenden Band ist mit einem DAB-fähigen Radio zu empfangen. Es wird betrieben von RTR – KommAustria.

Das INFORADIO ist eine wertvolle Ergänzung zu anderen Agenturmeldungen und zum ORF.

Dazu allerdings ca. 15 bis 20 Minuten Zeit für konzentriertes Zuhören einplanen.

MÄRKTE

DJI – BAHA *** DJI – KGV *** Rendite 10-jg. US-Anleihen

DAX Deutsche Börse *** DAX – KGV *** Rendite 10-jg. Bundesanl. *** Euro-Bund Futures

COMMENT: DAX fällt auf aus dem Frühjahr stammende, im Chart gepunktete Unterstützungslinie. Vernunft kehrt ein. Weder wirtschaftlich noch geopolitisch ist die Lage rosig. Wann der Ukraine-Krieg endet, weiß niemand, stattdessen gibt es in diesem geopolitischen Eck eskalative Verhärtungen.

«Diese Blase wird platzen.» Journalistin Karen Hao sieht im KI-Hype ein Risiko für die Weltwirtschaft – Ruth Fulterer, NZZ, 21.7.2025

Die Journalistin Karen Hao beschreibt die Chat-GPT-Firma Open AI in ihrem neuen Buch als Imperium. Und deren CEO Sam Altman als jemanden, dem man nicht vertrauen sollte. «Diese Blase wird platzen.» Journalistin Karen Hao sieht im KI-Hype ein Risiko für die Weltwirtschaft

Welches Problem sorgt Sie am meisten?

Die unglaubliche Zahl von Rechenzentren und Supercomputern, die Open AI und der Rest der Branche bauen. Kürzlich zeigte ein McKinsey-Report, dass diese Datenzentren gegen Ende des Jahrhunderts zwei bis sechs Mal so viel Energie wie Kalifornien verbrauchen könnten, die fünftgrösste Volkswirtschaft der Welt. Diese Energie muss konstant geliefert werden, daher kommt sie oft aus Gas- und Kohlekraftwerken, die die Luft vergiften. Dazu kommt, dass zwei Drittel der neuen Datenzentren in Gegenden mit zu wenig Wasser gebaut werden. Das heisst, dass Datenzentren Menschen lebenswichtige Ressourcen streitig machen. Dabei ist das alles total unnötig.

Wie meinen Sie das?

Anfang des Jahres hat die chinesische KI Deepseek die Branche schockiert, indem sie mit einem Bruchteil der Rechenpower die gleichen Fähigkeiten wie amerikanische Modelle erreicht hat. Bei der Bildgenerierung hat Stable Diffusion das Modell von Open AI geschlagen, obwohl es statt Tausende nur ein paar hundert Computerchips nutzte. Das zeigt: Wie Open AI Dinge angeht, ist ziemlich ineffizient. Leider interessieren sich die Firmen nicht für diese Verschwendung. Sie wollen einfach die Schnellsten im Rennen sein.

Sie denken, der Trend zu immer mehr Rechenaufwand für KI wird anhalten? Es sollten doch jene einen Marktvorteil haben, die dasselbe günstiger bieten.

Ich fürchte, der Trend zu mehr Rechenzentren wird weitergehen. In diese Systeme fliesst leider viel Geld von Menschen, denen die langfristige Entwicklung und Wirtschaftlichkeit egal ist. Sie wollen einfach, dass die Bewertungen der Firmen steigen. Dann können sie die Anteile, die sie ganz früh gekauft haben, mit hohem Gewinn loswerden, bevor die Blase platzt.

Sie glauben, dass wir uns in einer Blase befinden?

Ja. Diese Blase wird platzen. Und Investoren haben mich davor gewarnt, dass es schlimmer kommen könnte als bei der Finanzkrise 2008. Goldman Sachs versucht bereits, seine Risiken aus Investitionen in Rechenzentren loszuwerden. Sie versuchen, sie an Altersvorsorge-Fonds weiterzugeben. Es ist ein grosses Risiko für die Weltwirtschaft, dass so viel Kapital in einer Sache steckt, die eigentlich unnötig ist.

Unnötig, weil man dasselbe mit weniger Rechenleistung schaffen könnte?

Genau. Viele meinen, Open AI hätte den einzigen Weg gefunden, KI zu bauen. Aber das stimmt nicht. Es gibt viel effizientere Methoden. Spezialisierte KI-Systeme sind viel geeigneter, um Krebs zu erkennen, Medikamente zu entwickeln, Energiespeicher zu erfinden. Für all das braucht man keine massiven Modelle und Unmengen an Rechenleistung, sondern Spezialisierung und fachspezifische Daten mit hoher Qualität.

Mehr dazu unter IT – KI – ROBOTIK – INTERNET

ZEITDIAGNOSEN – ZEITTHEMEN

Soft Power Tourismus oder warum wir für jeden Rollkoffer dankbar sein sollten – NZZ, 26.7.2025

Der wachstumskritische Zeitgeist liebt die Debatte über «Overtourism». Doch Tourismus fördert nicht nur Binnenwirtschaft und Randregionen, sondern ist eine unentbehrliche Soft Power – erst recht in Zeiten von Trumps Zollwahnsinn.

Er ist an allem schuld, er ist der Vater aller Reise-Influencer, er ist Johann Wolfgang von Goethe. Zumindest mitschuldig an dieser totalen Überhöhung des Fernwehs, der Glorifizierung des Weges als Ziel, der Heiligsprechung der bewusstseinserweiternden Wirkung grenzüberschreitender Mobilität. Immerhin ahnt er im Bericht über seine italienische Reise am Ende des 18. Jahrhunderts das Unheil irgendwie schon. «In jeder grossen Trennung liegt ein Keim von Wahnsinn, man muss sich hüten, ihn nachdenklich auszubrüten und zu pflegen.»

Inzwischen droht der Wahnsinn über eine Milliarde Menschen pro Jahr zu befallen – plus ganz viele Zeitgeist-Politiker. Letztere verstehen unter Verreisen nicht mehr dieses Neapel-sehen-und-sterben-Gefühl, sondern die nächste Bühne des Kulturkampfes. Die existenzielle Erfahrung des Schönen wird auf das tödliche Selfie am Abgrund verkürzt. Tumbe Touristen gelten als Krach machende Klimakiller, die wie Heuschrecken über Länder herfallen und den Einheimischen ihre Idylle wegfressen. Der Rollkoffer ist der SUV des Fremdenverkehrs.

Jeden Sommer beklagen Aktivisten den «Overtourism» – selbst im Hochpreisland Schweiz, wo die Horden billiger Ballermänner kein Habitat vorfinden. Der Luzerner SP-Nationalrat David Roth steht stellvertretend für die Internationale der Unwillkommenskultur. Statt dem Kapitalismus für die Demokratisierung des Tourismus zu danken, die die Horizonterweiterung für superreiche Bildungsbürger in ein Vergnügen für die SP-Basis verwandelte, will er auf dem Altar der Wachstumskritik einen Teil der Auslandwerbung von Schweiz Tourismus opfern – und den Rollkoffer gleich mit.

Nun liegen Roth und Co. nicht nur falsch. Die globale Mobilität belastet das Klima mit einem Anteil am CO2-Ausstoss im einstelligen Prozentbereich, verursacht an wenigen Hotspots lokaler Exzesse. Aber das legitimiert keine pauschale Verurteilung, geschweige denn radikale Massnahmen – im Gegenteil.

Der Tourismus liefert rund drei Prozent des Bruttoinlandprodukts und sichert in den Bergregionen Existenzen, was sich gerade im gebeutelten Lötschental beobachten lässt. Ein dritter Vorteil wiegt fast noch schwerer. Zwanzig Millionen Ausländer bereisen jedes Jahr die Schweiz, erfahren das Land auf eine positive Art, kehren wie einst der Italien-Fan Goethe als Influencer für Swissness nach Hause zurück. Zwanzig Millionen Botschafter sind in Zeiten des neuen Protektionismus als Soft Power unbezahlbar. Trumpsche und andere Zollmauern lassen sich nur noch mit margenträchtigen Premiumprodukten überspringen. Der gute Ruf und der hohe Bekanntheitsgrad von Swissness sind mitverantwortlich dafür, dass viele Exportunternehmen bei ihren ausländischen Kunden eine Hochpreispolitik durchsetzen können.

«Wenn ich bei meiner Ankunft in Italien wie neu geboren war, so fang ich jetzt an, wie neu erzogen zu sein», beschreibt Goethe seinen Reifeprozess. David Roth und seine Freunde erleben in den Sommerferien hoffentlich Ähnliches.

Leserkommentare (Auswahl):

Ein sehr oberflächlicher Meinungsartikel, der dem Problem mE nicht annähernd gerecht wird. Gut, gibt es die Kommentare. Der Autor macht es sich mit dem Thema zu einfach. Ihm bzw. den Liberalen wird es wie bei der Masseneinwanderung ergehen, wenn sie das Problem partout nicht anerkennen wollen. Es wird ihnen in Form von Populismus ihrer politischen Gegner und in Gestalt von eigenem Bedeutungsverlust auf die Füsse fallen. Wetten?

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Overtourism? Barcelona und Venedig ja, Interlaken und Luzern sicher nicht. Seit dem 1. April 2025 gibt es am Schwanenplatz in Luzern neue Vorschriften für Reisebusse, die Cars müssen eine Gebühr bezahlen und Gäste dürfen nur noch aussteigen. Die Anzahl Cars hat um 2/3 abgenommen verglichen mit 2024 ! Es gilt überall dasselbe, nur wenn es übers Portemonnaie geht, ändert sich etwas. Es würde mal interessieren, wieviele Personen sich eigentlich über den Tourismus beschweren. Vermutlich ist das nur eine kleine laute Minderheit, die sich mit social media wichtiger und grösser macht also sie wirklich ist. Und wenn die Touristen dann wegbleiben? Dann wird auch gejammert. Siehe das Beispiel Mallorca.

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Der Vergleich zu Goethe ist schlecht gewählt. Damals waren Reisen noch deutlich weniger bequem. Natürlich gehörte Goethe einer reichen Oberschicht an, aber es brauchte doch zusätzlich auch ein grösseres Mass an Eigeninitiative, um solche Ausflüge zu unternehmen. Heute kann sich jede Sofakartoffel in die hintersten Winkel der Welt transportieren lassen, alles inklusive, null eigene Energie nötig. Das ist ein wichtiger Treiber des Übertourismus.

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Herr Balzli wohnt vermutlich kaum an einer kopfsteingepflästerten Strasse im Zentrum eines gut besuchten Stätdchens.

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Im Zweifelsfall wohnt Herr Balzli auch weit weg von einem touristischen Hotspot und geniesst die Ruhe ohne Touristen und Rollkoffer. Da kann er sich besser auf das Verfassen seiner Beiträge konzentrieren. Ist doch auch etwas, oder? Ich mag es ihm gönnen.

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Teilweise bedenkenswerte Argumente, die aber die negativen Seiten aus meiner Sicht doch zu wenig berücksichtigen. Als punktuell Direktbetroffener muss ich sagen, dass es nicht immer lustig ist, wenn plötzlich eine Reisegruppe bei einem im Garten am See „ausbricht“ und offensichtlich nicht zwischen Privatgrund und öffentlich zugänglichem Grund unterscheiden kann oder will. Ich bin ja selber auch immer mal wieder Tourist, aber bei solchen „Auswüchsen“ wünscht man sich doch die „Rollkoffer“ weit weg. Aus meiner Sicht geht es vor allem um das jeweilige Ausmass des Tourismus. Sicher profitieren die Berggebiete vom Tourismus und das sollen sie auch. Dieser ist in vielen Teile ein wirtschaftlich massgeblicher Treiber.

Erlebte „Auswüchse“ des Tourismus in Luzern, Interlaken etc. sind aber doch vom Ausmass her problematisch. Man fühlt sich manchmal dort plötzlich als der „Fremder“, wenn man in der Minderheit ist und Alles und Jedes eigentlich nur noch auf die Touristen ausgerichtet ist. Einfach nur für all das dankbar zu sein, erscheint mir doch etwa einfach gestrickt und braucht eine etwas differenzierte Betrachtung. Vor allem die betroffenen Orte sollten rechtzeitig versuchen, den Tourismus durch geeignete Massnahme in ein tragbares Mass zu lenken und negative Auswirkungen möglichst zu vermeiden.

GESELLSCHAFTSSEISMOGRAPH BÖRSEN

findet sich am Ende des Tagesblicks

HELLMEYER (Märkte u.a.m.)

ISRAEL-IRAN-HAMAS-HISBOLLAH-KRIEG

ISRAEL – NAHOST-KONFLIKT im n-tv Liveticker

03.08.2025 05:01

Witkoff trifft Geisel-Angehörige Hamas lehnt Entwaffnung ohne palästinensischen Staat ab

Die USA haben nach Aussagen ihres Sondergesandten Witkoff einen Plan zur Beendigung des Krieges. Medienberichten zufolge müsste die Hamas die Waffen niederlegen. Deren Antwort ist eindeutig.

03.08.2025 04:19

Entsetzen über Geiselvideos Zehntausende Israelis fordern Geisel-Deal

Ein Propaganda-Video der islamistischen Hamas zeigt eine bis auf die Knochen abgemagerte Geisel und schockiert die Menschen in Israel. Erneut gehen Zehntausende auf die Straßen. Scharfe Kritik kommt auch vom israelischen Präsidenten Herzog.

02.08.2025 20:30

In neuem Propaganda-Video Hamas zwingt Geisel, eigenes Grab zu schaufeln

Die Hamas nutzt das Aushungern ihrer Opfer für zynische Propaganda. Die Bilder von zwei abgemagerten israelischen Geiseln schockieren nicht nur die Angehörigen. Ein neues Video zeigt jetzt einen 24-jährigen Israeli, der vollkommen ausgemergelt sein eigenes Grab schaufelt.

02.08.2025 15:44

Zwischen 50 und 100 Prozent Bundesregierung sorgt sich, dass Hamas die Gaza-Hilfen einsackt

Israel lässt inzwischen mehr als 200 Hilfs-Lkw in den Gazastreifen. Doch das reicht der deutschen Regierung noch nicht. Tel Aviv müsse mehr leisten, sagt der Regierungssprecher nach der Sitzung des Sicherheitskabinetts. Währenddessen finden weitere Airdrops statt.

01.08.2025 16:50

„Solche Taten sind Verbrechen“ Wadephul verurteilt Siedlergewalt und ermahnt Israel

Bei seinem Besuch im Westjordanland spricht sich Außenminister Wadephul für die Perspektive eines palästinensischen Staates aus. Die Hamas dürfe dabei keinerlei Einfluss erhalten, betont der CDU-Politiker. Zugleich richtet er eine klare Warnung an die israelische Regierung.

ISRAEL – NAHOST-KONFLIKT – FAZ-Liveblog

Ein Video einer ausgehungerten Geisel in einem Tunnel im Gazastreifen hat in Israel für Entsetzen gesorg

Die Familie des 24-jährigen Evyatar David, der seit fast 22 Monaten im Gazastreifen festgehalten wird, warf der radikalislamischen Palästinenserorganisation Hamas am Samstag vor, den jungen Mann zu Propagandazwecken auszuhungern. Scharfe Kritik kam auch vom israelischen Präsidenten Isaac Herzog. Der US-Sondergesandte für den Nahen Osten, Steve Witkoff, traf sich derweil mit Geisel-Angehörigen.

„Die Hamas benutzt unseren Sohn als lebendes Versuchsobjekt in einer abscheulichen Hungerkampagne“, erklärte Davids Familie. „Das absichtliche Aushungern unseres Sohnes als Teil einer Propagandakampagne ist eine der schrecklichsten Taten, die die Welt je gesehen hat.“

David war während des Hamas-Angriffs auf Israel am 7. Oktober 2023 zusammen mit einem Freund vom Nova-Musikfestival im Süden Israels in den Gazastreifen verschleppt worden.

Am Donnerstag veröffentlichten die Hamas und die mit ihr verbündete militante Gruppe Islamischer Dschihad zwei Propagandavideos von israelischen Geiseln, darunter ein Video von David. Am Samstag veröffentlichte die Hamas noch eine längere Version dieses Videos. Die Aufnahmen des abgemagerten und geschwächten Israelis waren mit Bildern abgemagerter Palästinenser im Gazastreifen zusammengeschnitten.

Der israelische Präsident Herzog reagierte mit scharfer Kritik. „Die Gesichter der Geiseln (…) sagen alles. Sie werden gezwungen, ihre eigenen Gräber zu schaufeln. Sie werden mit Hinrichtungen gequält“, erklärte er im Onlinedienst X. Die Hamas hungere neben den Geiseln auch die Menschen im Gazastreifen aus, indem sie Hilfslieferungen plündere und humanitäre Lieferungen blockiere, die Israel gemeinsam mit seinen internationalen Partnern aufgestockt habe.

Frankreichs Außenminister Jean-Noël Barrot verurteilte die „abscheulichen, unerträglichen Bilder“ der israelischen Geiseln. Die Geiseln müssten bedingungslos freigelassen werden und die Hamas entwaffnet und von einer Regierung in dem Küstenstreifen ausgeschlossen werden.

Davids Familie forderte in ihrer Erklärung, dass die Hilfsgüter, die durch neue Hilfskonvois der UNO und Abwürfe aus der Luft in den Gazastreifen gelangen, auch ihren Sohn erreichen müssten. „Wir rufen die israelische Regierung, das israelische Volk, die Länder der Welt und den Präsidenten der USA auf, alles Mögliche zu tun, um Evyatar vor dem Tod zu bewahren und mit allen erforderlichen Mitteln sicherzustellen, dass er schnell Essen und medizinische Versorgung erhält“, forderte die Familie.

Unterdessen kam der US-Sondergesandte Witkoff in Tel Aviv mit Angehörigen israelischer Geiseln zusammen. Witkoff wurde unter Applaus und „Bringt sie jetzt nach Hause“-Rufen auf dem als „Platz der Geiseln“ bekannten Platz in Tel Aviv von hunderten Menschen empfangen. Viele von ihnen hatte Fotos von Verschleppten dabei, die noch immer im Gazastreifen festgehalten werden.

Die islamistische Hamas im umkämpften Gazastreifen lehnt eine Niederlegung ihrer Waffen entschieden ab, solange kein unabhängiger palästinensischer Staat gegründet wird.

Der bewaffnete Widerstand könne nur aufgegeben werden, wenn die Rechte der Palästinenser vollständig verwirklicht seien, insbesondere die Errichtung eines unabhängigen und vollständig souveränen palästinensischen Staates mit Jerusalem als Hauptstadt, heißt es in einer Erklärung der islamistischen Terrororganisation.

Die Hamas reagierte damit auf Äußerungen des US-Sondergesandten Steve Witkoff, der Medienberichten zufolge bei einem Treffen mit Angehörigen der im Gazastreifen weiterhin festgehaltenen Geiseln gesagt haben soll, dass die Hamas nach eigenen Aussagen zur Entmilitarisierung bereit sei. „Wir stehen kurz vor dem Ende dieses Krieges“, sagte Witkoff einer Mitteilung des Forums der Geiselfamilien zufolge bei dem Treffen in der israelischen Stadt Tel Aviv. „Wir haben einen Plan, den Krieg zu beenden und alle nach Hause zu bringen.“

Die Hamas beansprucht das gesamte historische Palästina – also einschließlich des heutigen Staatsgebietes Israels.

In einem Grundsatzpapier von 2017 akzeptiert sie jedoch einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 – das heißt bestehend aus dem Westjordanland, dem Gazastreifen und Ost-Jerusalem. Das Existenzrecht Israels erkennt sie nicht an. Israels Regierung ist ebenfalls gegen eine Zweistaatenlösung. Dort herrscht die Ansicht vor, dass das Westjordanland und Ost-Jerusalem aus historischen und religiösen Gründen Israel zustehen.

Nach Hannover will auch Düsseldorf Kinder aus dem Gazastreifen und Israel aufnehmen, die besonders schutzbedürftig oder traumatisiert sind.

Mit Blick auf die Ankündigung der niedersächsischen Landeshauptstadt sagte der Düsseldorfer Oberbürgermeister Stephan Keller (CDU): „Diese starke und zutiefst menschliche Geste wollen wir auch in Düsseldorf aufgreifen. Bei Fragen der Haltung und Menschlichkeit stehen wir in Düsseldorf über Parteigrenzen hinweg zusammen.“

Die Stadt Hannover hatte am Donnerstag angekündigt, bis zu 20 Kinder aufzunehmen. Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) sagte, aktuell stünden bis zu 20 Inobhutnahme-Plätze bereit. Eine Ausweitung sei denkbar, etwa über Gast- oder Pflegefamilien. Laut dem Oberbürgermeister haben sich auch andere Städte für eine Beteiligung an ähnlichen Programmen interessiert.

In Düsseldorf ist allerdings der Umfang der Hilfe noch unklar. „In der kommenden Woche wollen wir die Chancen der Realisierung unseres Vorhabens eruieren“, heißt es in dem von der Stadtverwaltung verbreitete Statement. Das wurde neben Keller noch von Bürgermeisterin Clara Gerlach (Grüne) und Oberbürgermeisterkandidat Fabian Zachel (SPD) unterzeichnet. Erste Gespräche seien bereits geführt worden – unter anderem mit der Jüdischen Gemeinde und dem Kreis der Düsseldorfer Muslime.

In Israel haben erneut zehntausende Menschen für die Freilassung der in den Gazastreifen verschleppten Geiseln demonstriert.

Wie das Forum der Geisel-Familien mitteilte, versammelte sich am Samstagabend fast 60.000 Menschen auf dem als „Platz der Geiseln“ bekannten Platz in Tel Aviv. Viele von ihnen hatten Fotos der Verschleppten dabei, die noch immer im Gazastreifen festgehalten werden. Zuvor war der US-Sondergesandte für den Nahen Osten, Steve Witkoff, in Tel Aviv mit Angehörigen der Geiseln zusammengetroffen. Witkoff wurde unter Applaus und „Bringt sie jetzt nach Hause“-Rufen auf dem „Platz der Geiseln“ von hunderten Menschen empfangen. Anschließend kam er in einem benachbarten Gebäude mit Angehörigen der Geiseln zusammen.

Das Forum der Geisel-Familien, die wichtigste Interessenvertretung der Angehörigen, erklärte nach dem Treffen, Witkoff habe „persönlich“ zugesagt, sich zusammen mit US-Präsident Donald Trump für die Freilassung der verbleibenden Geiseln einzusetzen. Yotam Cohen, der Bruder des von der Hamas verschleppten 21-jährigen Nimrod Cohen, sagte am Samstag der Nachrichtenagentur AFP:

„Der Krieg muss enden. Die israelische Regierung wird ihn nicht freiwillig beenden.“ Sie müsste daher „gestoppt werden“, sagte er mit Blick auf wichtige Verbündete wie die USA. Witkoff war am Donnerstag in Jerusalem bereits mit Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu zusammengetroffen

Die Bundeswehr hat den Abwurf von Hilfsgütern aus der Luft für die notleidende Bevölkerung im Gazastreifen fortgesetzt.

Ein Transportflugzeug vom Typ A400M habe am Samstag 22 Paletten mit knapp zehn Tonnen Hilfsgütern abgeworfen, teilte die Bundeswehr mit. Die Bundeswehr hatte am Freitag damit begonnen, Hilfsgüter über dem Gazastreifen abzuwerfen. Bis Samstag wurden den Angaben zufolge mit Fallschirmen insgesamt 56 Paletten mit knapp 24 Tonnen Hilfsgütern abgeworfen, vor allem Nahrungsmittel und medizinische Hilfsgüter.

Der Einsatz ist Teil einer von Jordanien koordinierten internationalen Luftbrücke, mit der die akute humanitäre Notlage im Gazastreifen gelindert werden soll. Deutschland stellt für den Einsatz zwei Transportflugzeuge vom Typ A400M sowie Logistikpersonal zur Verfügung. Hilfsorganisation kritisieren solche Luftbrücken als ineffizient und gefährlich und fordern stattdessen Hilfslieferungen über den Landweg.

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) dankte der Bundeswehr für ihre Beteiligung an einer Luftbrücke

… und betonte, dass die Bundesregierung weiter an der Ermöglichung von Hilfslieferungen über den Landweg arbeite. „Wir wissen: Airdops sind nur ein kleiner Beitrag, um das Leid der Menschen in Gaza zu lindern. Deshalb arbeiten wir weiter intensiv daran, Hilfe über den Landweg zu ermöglichen“, erklärte Merz am Freitagabend im Onlinedienst X

Die Türkei hat die Lieferung von aserbaidschanischem Erdgas nach Syrien aufgenommen.

„In der Anfangsphase können wir bis zu zwei Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr nach Syrien exportieren“, sagte der türkische Energieminister Alparslan Bayraktar am Samstag bei einer Eröffnungszeremonie in der Stadt Kilis nahe der syrischen Grenze. Die Gas-Lieferungen sollten zu einer Normalisierung der Lage in Syrien beitragen, dessen Energieinfrastruktur während des jahrelangen Bürgerkriegs zu großen Teilen zerstört wurde.

Neben Bayraktar nahmen auch der syrische Energieminister, der aserbaidschanische Wirtschaftsminister und der Leiter des Entwicklungsfonds von Katar an der Zeremonie in Kilis teil. Die Gaslieferungen sollen nach Angaben des türkischen Energieministers dazu beitragen, ein „Kraftwerk mit einer Leistung von rund 1200 Megawatt in Betrieb zu nehmen, das den Strombedarf von etwa fünf Millionen Haushalten decken wird“. Zudem solle Erdgas nach Aleppo und von dort weiter nach Homs transportiert werden, damit „die dortigen Kraftwerke in naher Zukunft in Betrieb genommen werden können“, fügte Bayraktar hinzu.

Katar finanziert seit März bereits Gaslieferungen über Jordanien. Damit werden in Syrien täglich 400 Megawatt Strom erzeugt. Während des rund 14-jährigen Bürgerkriegs wurden weite Teile der syrischen Strom- und Gasinfrastruktur zerstört. Stromausfälle, die über 20 Stunden dauern können, sind keine Seltenheit. Nach Einschätzung der UNO dürfte Syrien mehr als 50 Jahre brauchen, um seine Wirtschaftskraft wieder auf das Niveau vor Beginn des Krieges in dem Land zu bringen. Die von dem heutigen Übergangspräsidenten Ahmed al-Schaara angeführte islamistische HTS-Miliz und mit ihr verbündete Gruppierungen hatten den syrischen Langzeitmachthaber Baschar al-Assad im Dezember gestürzt. Die HTS ist ein früherer Zweig von Al-Kaida, hatte sich jedoch vor Jahren von dem Terrornetzwerk losgesagt. Der frühere Dschihadist al-Schaara bemüht sich seit seinem Amtsantritt um ein moderateres Image.

Außenminister Johann Wadephul hat am Samstag dem Kreis des Sicherheitskabinetts über seine Reise nach Israel und ins Westjordanland berichtet.

Regierungssprecher Stefan Kornelius teilte nach dem telefonischen Bericht in einer Stellungnahme mit, die Bundesregierung stelle „erste, leichte Fortschritte bei der humanitären Hilfe für die Bevölkerung im Gazastreifen fest“. Diese reichten jedoch bei weitem nicht aus, um die Notlage zu lindern. Israel sei „in der Pflicht, eine umfassende Versorgung“ sicher zu stellen.

Nach F.A.Z.-Informationen soll Wadephul ernüchtert berichtet haben. Aus den Reihen der SPD wurde die klare Erwartung wahrgenommen, dass der Kurs Israel gegenüber verschärft werden müsse. Eine Einigung auf konkrete Maßnahmen hat es aber nicht gegeben. Bei der Union gibt es erhebliche Bedenken gegen Sanktionen.

Der Bundesnachrichtendienst hat nach F.A.Z.-Informationen Daten vorgelegt, denen zufolge mittlerweile bis zu 220 Lastwagen täglich in den Gazastreifen kämen. Das wären deutlich mehr als in den vergangenen Wochen. Allerdings sei auch berichtet worden, dass bis zu 50 Prozent dieser Hilfe von der Hamas oder anderen Banden in Beschlag genommen werde.

Dem Kreis des Sicherheitskabinetts gehören neben Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), der Kanzleramtsminister Thorsten Frei (CDU), Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU), Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU), Außenminister Johann Wadephul, Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD), Bundesentwicklungshilfeministerin Reem Alabali Radovan (SPD), Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) und Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD) an.

Außenminister Wadephul hatte Israel bei seiner Reise wegen der humanitären Not im Gazastreifen deutlich kritisiert: „Das ist ein vollkommen untragbarer Zustand, der sich sofort ändern muss“. Eine „fundamentale Verbesserung für die Menschen im Gazastreifen“ sei nötig. Er fordert einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln.

Israels Armeechef hat vor einer Fortsetzung der Kämpfe im Gazastreifen gewarnt, falls die verbliebenen israelischen Geiseln nicht bald befreit werden

Er gehe davon aus, „dass wir in den nächsten Tagen erfahren werden, ob wir eine Einigung über die Freilassung unserer Geiseln erzielen können“, erklärte der Generalstabschef der israelischen Streitkräfte Eyal Zamir am Samstag in einer Mitteilung der Armee. Andernfalls werde „der Kampf ohne Unterbrechung weitergehen“.

Verhandlungen zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas unter Vermittlung der Vereinigten Staaten, Ägyptens und Qatars waren im vergangenen Monat gescheitert. Noch immer werden 49 israelische Geiseln von den Islamisten festgehalten, mindestens 27 von ihnen sind nach Armeeangaben tot. Palästinensische bewaffnete Gruppen veröffentlichten diese Woche zwei Videos, die ausgehungerte und geschwächte Geiseln zeigen.

Der Generalstabschef bezeichnete den Vorwurf einer „absichtlichen Hungersnot“, den unter anderem zahlreiche Menschenrechtsorganisationen erheben, als „Kampagne falscher Anschuldigungen“. Es handele sich dabei um einen „bewussten, geplanten und verlogenen Versuch“, den israelischen Streitkräften, die eine „moralische Armee“ seien, „Kriegsverbrechen“ vorzuwerfen. Verantwortlich für „das Töten und Leid“ der Bewohner des Gazastreifens sei die Hamas, erklärte Zamir.

Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen hat sich angesichts der Lage im Gazastreifen für EU-Sanktionen gegen Israel ausgesprochen.

„Wenn sich Israels Politik nicht sehr schnell ändern sollte, wäre auch Deutschland gezwungen, zusammen mit unseren Partnern konkrete Maßnahmen zu ergreifen“, sagte der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion der Wochenzeitung „Zeit“. „Das bedeutet auch, Projekte und Vereinbarungen auszusetzen, die ausdrücklich das Bekenntnis zu humanitären und völkerrechtlichen Verpflichtungen beinhalten.“

Die EU-Kommission hatte Anfang der Woche vorgeschlagen, die Teilnahme Israels am Forschungsförderungsprogramm Horizon Europe teilweise auszusetzen, das solche Bezüge enthält. Konkret geht es um die Förderung von Startups, die in rüstungs- und sicherheitsrelevanten Bereichen tätig sind. Deutschland hat dem bislang nicht zugestimmt.

„Die wichtigsten europäischen Akteure müssen schnellstens ihr dramatisches Auseinanderfallen in ihrer Nahostpolitik beenden“, forderte Röttgen. „Auch Deutschland muss hier seinen Beitrag leisten und kompromissbereit sein.“ Europa würde „sonst dauerhaft irrelevant im Nahen Osten, was wichtigen Interessen von uns entgegenliefe.“

Die Anerkennung eines Palästinenserstaats lehnte Röttgen aber ab: „Solche Forderungen drücken nicht nur Hilflosigkeit aus, sie wären sogar kontraproduktiv: Der ausbleibende Waffenstillstand würde für die Hamas den unerwarteten politischen Gewinn einbringen, die Anerkennung Palästinas als Staat sogar durch Deutschland erreicht zu haben.“ Ein Waffenstillstand würde damit unwahrscheinlicher, warnte der CDU-Politiker. In Israel würde die Anerkennung eines Palästinenserstaats wiederum voraussichtlich zu einer Verhärtung der Position und einer weiteren Schwächung des deutschen Einflusses auf die Regierung führen.

„Neuer Holocaust“: Angehörige israelischer Geiseln im Gazastreifen haben sich hinter einer Stacheldrahtinstallation in Tel Aviv versammelt, um an das Schicksal ihrer Liebsten zu erinnern.

„Unsere Kinder erleben einen Holocaust. Sie werden nicht mehr lange überleben“, sagte Einav Zangauker, die Mutter eines am 7. Oktober von der islamistischen Hamas in den Gazastreifen entführten Mannes mit amerikanischer und israelischer Staatsangehörigkeit. Es sei an der Zeit, „das Einzige zu tun, was alle Geiseln zurückbringen kann – ein umfassendes Abkommen auf den Tisch zu legen, das den Krieg beendet.“

In den vergangenen Tagen hatten die Hamas und andere islamistische Organisationen im Gazastreifen Videos von zwei Geiseln veröffentlicht. Die Angehörigen hatten nicht die Genehmigung zur Verbreitung der Videos gegeben, allerdings in einem Fall Standbilder erlaubt. Die Aufnahmen abgemagerter Geiseln in einem Tunnel hatten viele Israelis schockiert und an die Bilder befreiter Häftlinge der deutschen Konzentrationslager im Zweiten Weltkrieg erinnert.

Mit der Stacheldraht-Aktion in Tel Aviv mahnten die Angehörigen: „Nie wieder ist jetzt.“ Auch der US-Sondergesandte Steve Witkoff besuchte die Familien auf dem Platz, wie israelische Medien berichteten.

„Ich habe das Wort Holocaust bisher vermieden, weil ich die Tochter eines Holocaust-Überlebenden bin“, sagte Anat Angrest, Mutter eines am 7. Oktober in den Gazastreifen verschleppten Soldaten, einer Mitteilung des Forums der Geiselfamilien zufolge. Nun aber stehe sie zwischen Stacheldrahtzäunen, weil ihr Sohn Matan einen zweiten Holocaust erlebe.

Das Video seines Cousins sei in seinen Alpträumen, sagte der Cousin von Rom Braslavski, dessen Video die Hamas und die Terrorgruppe Palästinensischer Islamischer Dschihad vor wenigen Tagen veröffentlicht hatte. „Wo ist die humanitäre Hilfe für die Geiseln seit fast zwei Jahren?“

„Holt die lebenden Geiseln raus, bevor sie in meine Lage kommen“, forderte Jael Adar, die Mutter einer toten Geisel. „Als ich die Videos sah, stockte mir der Atem. Nur Haut und Knochen, und mein Sohn bekommt nicht einmal das Recht auf eine Beerdigung.“

Nach offiziellen israelischen Angaben befinden sich noch 50 Geiseln im Gazastreifen, von denen mindestens 20 am Leben sein sollen.

ISRAEL-IRAN-KRIEG im n-tv Liveticker

+++ 07:42 Angriff auf Atomkraftwerk Saporischschja gestern – Explosionen und Rauch +++
Das Team der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) hat gestern Explosionen und Rauch im ukrainischen Kernkraftwerk Saporischschja beobachtet. Sie gingen von einer nahe gelegenen Nebenanlage aus, die angegriffen worden sein soll, so meldet es Kyiv Independent. Demnach hörte das IAEO-Team die Explosionen und sah Rauch aus Richtung der Anlage aufsteigen, so Generaldirektor Rafael Mariano Grossi. Das Personal der Anlage teilte dem Team mit, dass die Nebenanlage gegen 9 Uhr Ortszeit von Granaten und Drohnen getroffen worden sei. Das Kernkraftwerk Saporischschja ist die größte Nuklearanlage Europas und eine der zehn größten weltweit. Seit März 2022 steht sie unter russischer Besatzung.

+++ 06:38 DRK-Präsidentin: Deutschland hat bei Bevölkerungsschutz „enorme Defizite“ +++
Deutschland muss sich laut DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt auf Krisen- und Katastrophenfälle vorbereiten. „Leider ist es kein Hirngespinst, dass wir uns auf bewaffnete Konflikte vorbereiten müssen“, sagte Hasselfeldt der Funke-Mediengruppe. Für den Bevölkerungsschutz werde viel zu wenig getan, es brauche dafür „eine ausreichende Ausstattung, die auch Vorräte für den Krisenfall umfasst, Menschen, die im Ernstfall versorgen können, und eine größere Widerstandsfähigkeit der Gesamtbevölkerung“. In jedem dieser Punkte sieht die frühere Ministerin derzeit „enorme Defizite“.

+++ 05:42 Drohnenangriff soll Öllager in Sotschi in Brand gesetzt haben +++
Nach einem ukrainischen Drohnenangriff sind russischen Angaben zufolge mehr als 120 Feuerwehrleute mit der Löschung eines Brandes in Sotschi beschäftigt. Das Feuer sei in einem Öllager in der russischen Stadt ausgebrochen, schreibt der Gouverneur der Region, Veniamin Kondratyev, auf Telegram. Laut der Zivilluftfahrtbehörde Rosaviatsia ist der Flugverkehr am Flughafen der Stadt aus Sicherheitsgründen eingestellt.

+++ 02:47 Kiew meldet Raketenangriff +++
Russland startet einen Raketenangriff auf Kiew, wie die Militärverwaltung der ukrainischen Hauptstadt über ihren Telegram-Messenger mitteilt. Zeugen berichten Reuters von einer lauten Explosion, die die Stadt erschüttert.

+++ 01:06 Gouverneur: Russische Rakete trifft Mykolajiw +++
Die südukrainische Stadt Mykolajiw wird am Abend Ziel eines russischen Angriffs: Eine Rakete habe ein Wohngebiet getroffen, teilt Gouverneur Vitalii Kim auf Telegram mit. Ihm zufolge wurden mehrere Menschen verletzt, drei von ihnen kamen in ein Krankenhaus. Mehrere Wohnhäuser seien beschädigt, schreibt der Gouverneur. Auf von ihm veröffentlichten Bildern ist zu sehen, wie Feuerwehrleute Brände bekämpfen.

+++ 22:32 Ukraines Oberbefehlshaber: Russen setzen auf „totale Infiltration“ +++
Die umkämpfte Stadt Pokrowsk im Oblast Donezk bleibe einer der „schwierigsten“ Abschnitte der Frontlinie, sagt der ukrainische Oberbefehlshaber Oleksandr Syrskyj. Russische Truppen versuchten mit einer Taktik der „totalen Infiltration“, die Verteidigungslinien der befestigten Stadt zu durchbrechen. Pokrowsk ist seit Monaten eines der am heftigsten umkämpften Schlachtfelder. „Der Feind verstärkt seine Bemühungen, sucht nach Schwachstellen in unserer Verteidigung und führt Kampfhandlungen in mehrere Richtungen durch“, berichtet Syrskyi. Die Russen setzten auch auf Sabotageaktivitäten hinter den ukrainischen Linien. Bislang hätten die ukrainischen Streitkräfte solche Aktionen sowie kleine Infanteriegruppen abgewehrt, sagt Syrskyj. Befestigungen und Hindernisse würden verstärkt, sowie Anti-Drohnen-Tunnel gegraben.

+++ 21:41 Selenskyj: Werden Langstreckenangriffe auf Russland fortsetzen +++
Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigt weitere Distanzangriffe in russischem Staatsgebiet an. Jeder einzelne sei „für den Feind greifbar“ sagt er: „Unsere Einsätze werden fortgesetzt.“ Kiew reagiere darauf, dass Moskau den Krieg in die Länge ziehe. Während die russischen Bodentruppen stetig in der Ukraine vorrücken, wehrt die sich mit Angriffen auf die russische Industrie und Infrastruktur aus der Luft. Kiew hat immer wieder seine Bereitschaft für Friedensgespräche signalisiert. Russland stellt Forderungen, die für die Ukraine und deren westliche Verbündete inakzeptabel sind.

+++ 20:58 Kiew ändert Reformplan wegen andauernden Krieges, damit EU ihre Zahlungen fortführt +++
Seit Anfang 2024 unterstützt die EU die Ukraine mit den „Ukraine Facility“-Finanzhilfen: Insgesamt 50 Milliarden Euro im Gegenzug für Reformen, die Kiew näher an einen möglichen EU-Betritt bringen sollen. Nun werden die Anforderungen für die Tranchen möglicherweise verändert. In der vergangenen Woche sagte ein Sprecher der EU-Kommission, dass die nächste Hilfstranche gekürzt werde, da Kiew die versprochenen Reformen nicht durchgeführt habe. Zudem warnte Brüssel die Ukraine: Sollte das ukrainische Parlament die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden nicht vollständig wiederherstellen, würde eine Reihe von Geldern eingefroren. Doch „Ukraine Facility“ ging von einem Kriegsende bis Ende 2024 aus. Nun schlägt Kiew einen der Realität angepassten Plan vor. Die EU-Kommission teilte mit, sie werde die Vorschläge angesichts das andauernden Krieges prüfen.

+++ 19:24 Ukraine: Russland greift mit so vielen Drohnen an wie nie +++
Russland hat im Juli eine Rekordzahl von 6129 Drohnen vom Typ Shahed gegen die Ukraine eingesetzt und damit den bisherigen Rekord von 5337 Drohnen des Juni deutlich übertroffen, gibt die ukrainische Luftwaffe an. Die Bombardierungen Russlands haben sich demnach in den beiden vergangenen Monaten dramatisch intensiviert. Schwarmangriffe würden häufiger und tödlicher. Im Juli 2024 habe Russland lediglich 423 Drohnen gegen die Ukraine gestartet. Es handle sich um ungefähre Angaben, sagt der Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, Yurii Ihnat, der Nachrichtenseite „Kyiv Independent“. Die tatsächliche Zahl der von Russland gestarteten Drohnen sei möglicherweise höher. Die analysierten Daten umfassen nicht die in den Frontgebieten eingesetzten Drohnen, wie beispielsweise die Kamikaze-Drohnen.

+++ 18:39 Britisches Verteidigungsministerium: Hart umkämpftes Pokrowsk immer stärker eingekreist +++
Russische Streitkräfte sind in der vergangenen Woche im Nordosten von Pokrowsk vorgerückt. Sie versuchen, die Stadt einzukreisen und ihre Logistikrouten und Bodenverbindungen abzuschneiden, meldet das britische Verteidigungsministerium. Dabei hätten sich die Soldaten unter anderem in Richtung der wichtigsten nördlichen Versorgungsroute bewegt. Seit Februar 2024 ist der ukrainische strategische Knotenpunkt Pokrowsk ein Hauptziel für Russland. Die befestigte Stadt hat seither hohe Verluste an Personal und Ausrüstung erlitten. Laut estnischem Geheimdienst geht die russische Armee mit der gleichen Taktik vor wie in den zuvor belagerten und eroberten Orten Wuhledar und Awdijiwka.

+++ 17:55 Ukraine nimmt Politiker und Beamte wegen illegaler Bereicherung an Rüstungsaufträgen fest +++
Das ukrainische Antikorruptionsbüro und die Sonderstaatsanwaltschaft überführen einen ukrainischen Abgeordneten, mehrere Leiter lokaler Behörden und einen Nationalgardisten wegen eines Bereicherungs. Den Behörden zufolge geht es um die Beschaffung von Drohnen und elektronischen Kriegsgeräts. Die Beteiligten sollen systematisch sichergestellt haben, dass der Staat bestimmte Lieferantenverträge zu absichtlich erhöhten Preisen abschlossen. Die beteiligten Personen strichen demnach bis zu 30 Prozent des Vertragswerts ein. Bislang wurden vier Personen festgenommen.

+++ 17:06 US-Botschafter bei Nato: Lenkt Putin nicht ein, verhängen die USA kommende Woche strenge Sanktionen +++
Der US-Botschafter bei der Nato, Matthew Whitaker, meint, dass Präsident Donald Trump immer noch Druckmittel habe, um den Krieg in der Ukraine diplomatisch zu beenden. Dem Diplomaten zufolge werden nächste Woche strenge Sanktionen gegen Russland und Länder, die mit Russland Geschäfte machen, verhängt, sollte Russlands Präsident Wladimir Putin einem Waffenstillstand nicht zustimmen. „Unter dem Strich muss Putin sein Öl verkaufen“, sagt Whitaker dem US-Fernsehsender Newsmax: „Er verkauft es an China. Er verkauft es an Indien. Er verkauft es an Brasilien. Und diese Länder spüren nun erhebliche Auswirkungen aufgrund ihrer Geschäftsbeziehungen zu Russland, und Russland wird keine Freunde mehr haben.“ Putins Finanzierungsmöglichkeiten, den Krieg in der Ukraine zu finanzieren, werde ein Ende haben. Dies werde Russland dazu zwingen sich an den Verhandlungstisch zu setzen.

+++ 15:52 Militärexperte Thiele im Video: Verlegung von Atom-U-Booten „brandgefährlich“ +++
Während andere Beobachter die jüngste Verlegung US-amerikanischer Atom-U-Boote als reine Symbolpolitik abstempeln, bewertet Ralph Thiele diese als „brandgefährlich“. Aktuell hält der Militärexperte Putin sogar einfacher zu berechnen als Trump.

Oberst a. D. Thiele besorgt U-Boot-Verlegung ist „Marsch in Eskalationsrhetorik“

+++ 15:31 Ukraine wählt Waffen aus, Nato-Staaten bezahlen USA +++
Die Nato-Staaten wollen die Waffenlieferungen an die Ukraine neu gestalten. Die Details würden derzeit ausgearbeitet, heißt es in Medienberichten. Demnach könne Kiew sich Waffen im Wert von insgesamt 10 Milliarden Dollar aussuchen, die von den USA geliefert, aber von den anderen Nato-Staaten bezahlt würde. Kiew wählt, Nato-Partner zahlen Neues Modell für US-Waffenlieferungen an die Ukraine

+++ 15:19 Ukraine meldet Treffer auf russische Ölraffinerie und Elektronikfabrik +++
Neben einem Drohnenflugplatz hat die Ukraine eigenen Angaben zufolge auch Ölanlagen und eine Elektronikfabrik in Russland angegriffen. Die Drohnenstreitkräfte des ukrainischen Militärs teilen mit, sie hätten eine Ölraffinerie in der Region Rjasan 180 Kilometer südöstlich von Moskau sowie ein Öllager in der Region Woronesch getroffen, die an die Ukraine grenzt. Der ukrainische Geheimdienst SBU meldet Angriffe auf eine Fabrik für Elektronik in Pensa. Das russische Verteidigungsministerium teilt lediglich mit, in der Nacht seien 338 ukrainische Drohnen abgewehrt worden.

+++ 14:41 Bericht: Explosionen legen russische Gas-Pipeline lahm +++
Ein Teil der zentralasiatischen Gas-Pipeline Russlands wird durch Explosionen beschädigt. Dies berichtet Ukrinform. Demnach sei der Betrieb in der Region Wolgograd unterbrochen. Die vom staatlichen Konzern Gazprom betriebene Pipeline transportiere Gas von Turkmenistan durch Usbekistan und Kasachstan nach Russland und versorge „mehrere Schlüsselanlagen“ der russischen Rüstungsindustrie. Darunter seien der Hersteller der MiG-Kampfflugzeuge sowie eine Munitionsfabrik.

+++ 13:42 Russen greifen Markt in Donezk bei Tage an +++
Heute tagsüber startete die russische Armee einen massiven Drohnenangriff auf Dzuzhkivka in der Oblast Donezk, bei dem mindestens fünf Menschen verletzt wurden. Laut Militärverwaltung der Oblast wurden insgesamt zwei Wohngebäude, ein Markt, ein Geschäft und ein Verwaltungsgebäude beschädigt. Die Drohnen schlugen zu einer Uhrzeit ein, zu der auf dem Markt viel Betrieb war.

+++ 13:10 Kremlnahe Experten: US-Atom-U-Boote keine Gefahr für Sicherheit +++
Kremlnahe Politiker und Experten in Moskau erklären die von US-Präsident Donald Trump verfügte Verlegung zweier Atom-U-Boote in die Nähe Russlands für ungefährlich für Russlands Sicherheit. Das sagte unter anderem der Ex-General und Duma-Abgeordnete Leonid Iwlew der staatlichen Nachrichtenagentur Tass. Der Parlamentsabgeordnete Viktor Wodolazki nannte es sinnlos, Russland Angst machen zu wollen. Die Nuklearmacht habe weit mehr und besser ausgestattete Atom-U-Boote in den Weltmeeren – und dabei auch die US-Flotte im Visier. Der Kreml selbst schweigt bislang zu Trumps Aussage.

+++ 12:33 Trump bestätigt, Atom-U-Boote seien „näher an Russland“ +++
US-Präsident Donald Trump hat bestätigt, dass die Atom-U-Boote, deren Verlegung er als Reaktion auf die Drohungen des ehemaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedew angeordnet hatte, sich bereits Richtung Russland bewegt haben. In einem Interview mit dem amerikanischen Sender „Newsmax“ merkte Trump an, Medwedew habe „eine große Klappe“ und solche Äußerungen nicht hätte machen sollen. Auf die Frage, ob sich die U-Boote Russland genähert hätten, antwortete Trump: „Ja, sie sind näher an Russland.“

Streit mit Medwedew eskaliert Trump verlegt Atom-U-Boote – und lässt Details offen

+++ 12:08 Bericht: Indien will weiter russisches Öl kaufen +++
Indien will einem Bericht der „New York Times“ zufolge trotz Zolldrohungen von US-Präsident Donald Trump weiter russisches Öl kaufen. Die Zeitung beruft sich auf indische Regierungsvertreter und deren Aussage, die Regierung habe Importeure nicht zur Drosselung der Einfuhren angewiesen. Russland ist mit einem Anteil von rund 35 Prozent der wichtigste Öllieferant Indiens. Trump hat sogenannte Sekundärzölle von 100 Prozent für Ölabnehmer Russlands angedroht, falls Russland keinen Frieden mit der Ukraine schließt.

+++ 11:49 Ukrainischer Militärgeheimdienst meldet Angriff auf russisches Drohnenlager +++
Der ukrainische Militärgeheimdienst (SBU) meldet einen erfolgreichen Drohnenanfgriff auf den Militärflugplatz Primorsko-Akhtarsk in der russischen Region Krasnodar. Nach seinen Angaben trafen die Drohnen dort Lager- und Abschussanlagen für Shahed-Kamikaze-Drohnen. Mit Drohnen dieser Bauart überzieht die russische Armee Nacht für Nacht ukrainische Städte. Mit Sprengstoff versehen können diese Drohnen, die zunächst vom Iran an Russland geliefert wurden, die inzwischen aber auch die russische Rüstungsindustrie selbst herstellt, erheblichen Schaden anrichten. Die Zahl der von Russland eingesetzten Drohnen hat sich in den vergangenen Wochen deutlich gesteigert, was die ukrainische Luftverteidigung enorm herausfordert.

Massenproduktion bei Jelabuga Warum jagt die Ukraine die russische Shahed-Fabrik nicht in die Luft?

+++ 11:06 Russische Flugbehörde schränkt Flugverkehr ein +++
Die russische Luftfahrtbehörde schränkt Starts und Landungen auf dem Flughafen Samara vorübergehend ein. Grund sei die Gewährleistung der Flugsicherheit, teilt ein Sprecher der Behörde auf Telegram mit. Weitere Details macht er nicht bekannt. Die Oblast Samara liegt südöstlich von Moskau und weit hinter der Grenze zur Ukraine im russischen Hinterland. Dort meldeten Militärblogger eine große Explosion in der Ölraffinerie von Nowokujbyschewsk.

+++ 10:35 Im besetzten Donezk geht das Wasser aus +++
Ein schneearmer Winter, ein heißer Sommer, verseuchtes Grundwasser und ein zerstörter Kanal: Im russisch besetzten Donezk ist die Wasserversorgung enorm eingeschränkt. Ein bekannter Kriegsblogger reagiert fast schon spöttisch.

Dürresommer setzt Menschen zu Im besetzten Donezk geht das Wasser aus +++ 09:58 US-Senator Graham warnt den Kreml +++
Der US-republikanische Senator Lindsey Graham warnt die Russen vor einer möglichen Eskalation und reagiert damit auf Drohungen des Vize-Chefs des russischen Sicherheitsrates, Dmitri Medwedew. Auf X schreibt Graham: „An meine Freunde in Russland: Präsident Trump strebt nach Frieden, nicht nach Konflikt. Bitte versteht jedoch, dass er nicht Obama ist, er ist nicht Biden, und man kann ihn nicht leichtfertig behandeln. Ihr übertreibt.“

+++ 09:37 Hacker verraten, wie sie Aeroflot lahmlegten +++
Lange Gesichter zur Ferienzeit: Hinter dem großflächigen Ausfall der russischen Fluggesellschaft Aeroflot sollen die proukrainische Gruppe „Silent Crow“ und das belarussische Kollektiv „Cyber Partisans“ stecken. Wie ihnen der Schlag gegen Aeroflot gelungen ist, schildert Sprecherin Yuliana Shemetovets ntv. Sprecherin erklärt ntv den Angriff Das sind die Hacker, die Moskaus Staats-Airline lahmlegten

+++ 08:55 Ukraine meldet 172 Gefechte seit gestern +++
In den vergangenen 24 Stunden verzeichnete der ukrainische Generalstab 172 Gefechte zwischen den eigenen Verteidigungskräften und russischen Invasoren entlang der Frontlinie. Die meisten davon im Sektor Pokrowsk, wo die Verteidiger nach eigenen Angaben 66 feindliche Angriffe erfolgreich abwehren konnten.

+++ 08:30 Russland: Drei Tote durch ukrainische Drohnenattacken +++
Bei ukrainischen Drohnenangriffen auf mehrere russische Gebiete sind nach Behördenangaben drei Menschen getötet worden. In Pensa wurde demnach das Gelände eines Unternehmens attackiert, dabei seien eine Frau getötet und zwei weitere Menschen verletzt wurden. In Rostow wurde in einer Industrieanlage ein Wachmann bei einem per Drohnenangriff ausgelösten Brand getötet. In Samara stürzten Trümmerteile einer Drohne auf ein Haus, dabei sei ein älterer Mann getötet worden, so der Gouverneur der russischen Region.

+++ 07:58 Deepstate: Russen machen Fortschritte in Tschassiw Jar +++
Die russische Armee erzielt Fortschritte in Tschassiw Jar, Toretsk und anderen Ortschaften in der Oblast Donezk. Das berichtet das DeepState-Überwachungsprojekt. Vorgestern früh hatte der Kreml bereits die vollständig Betzung des seit Monaten umkämpften Tschassiw Jar gemeldet, doch widersprach die Ukraine der Behauptung. Nach ukrainischer Darstellung befinden sich in der Stadt nahezu keine Zivilisten mehr, russische Truppen nutzen noch vorhandene Gebäude als Deckung für ihre Angriffe.

Schlacht um Tschassiw Jar Oberst Reisner erklärt drei Brennpunkte an der Ukraine-Front

WEITERE ISRAEL-MELDUNGEN

The Bibi Files – Die Akte Netanjahu

… ist ein US-amerikanischer Dokumentarfilm aus dem Jahr 2024 unter der Regie von Alexis Bloom. Der Film zeigt durchgesickertes Verhörmaterial aus dem Prozess gegen Benjamin Netanjahu. Er wurde auf dem Toronto International Film Festival 2024 als Work-in-Progress-Film gezeigt und hatte am 14. November 2024 seine offizielle Weltpremiere bei Doc NYC. Später wurde er am 11. Dezember 2024 auf der Direct-to-Consumer-Filmplattform Jolt in den Vereinigten Staaten veröffentlicht.

Siehe dazu Benjamin Netanjahu (WIKIPEDIA)

COMMENT: Als in den Mai-Wahlen 1996 Netanjahu zum ersten Mal als Regierungschef Israels gewählt wurde war klar, dass das eine für Israel bedenkliche Entwicklung einleiten würde. Die Arbeiterpartei hatte in den letzten Jahren zuvor politisch ausgespielt, die Galionsfigur Rabin wurde im November 1995 von einem jüdischen Extremisten ermordet. Die Bevölkerung sehnte sich nach einer ordnenden Macht. Netanjahu „ordnete“ – begleitet von einigen Skandalen und Gerichtsverfahren. Nicht umsonst verstehen sich Netanjahu und Trump so gut: beide begreifen sich als die „Aufräumer“ mit harter Hand.

KOMMENTARE – ANALYSEN – HINTERGRÜNDE

ANALYSE – Es geht nicht nur um den Schutz der Drusen: Warum Israel in Syrien eingreift – Richard C. Schneider, NZZ, 18.7.2025

Der jüdische Staat hat auf Forderungen der israelischen Drusen reagiert, ihren Glaubensbrüdern in Syrien zu Hilfe zu eilen. Doch hinter dieser militärischen Intervention verbirgt sich mehr: [die Drusen sind eine Art Rückgrat Israels im israelischen Sicherheitsapparat.]

Die israelischen Luftangriffe in Damaskus und auf militärische Stellungen bei Suweida markieren eine neue strategische Schwelle in Israels Verhältnis zum nördlichen Nachbarstaat. Offiziell begründet die Regierung die Angriffe mit der Notwendigkeit, die drusische Minderheit in Syrien zu schützen, deren Dörfer in der südlichen Provinz Suweida in letzter Zeit Ziel von Angriffen durch Beduinen, islamistische Gruppen und schliesslich von Regierungstruppen wurden.

Doch hinter dieser militärischen Intervention verbirgt sich mehr als reine Schutzverantwortung. Israel verfolgt eine langfristige Agenda gegenüber Syrien, in deren Zentrum die Wahrung regionaler Sicherheitsarchitekturen und die Eindämmung rivalisierender Akteure im Nachbarstaat ist.

Auslöser für die Eskalation war eine Kette von Ereignissen, die in ihrer Wucht das bisherige prekäre Gleichgewicht in Suweida erschütterten. Nach einem Raubüberfall auf einen drusischen Gemüsehändler entführten Drusen Angehörige von Beduinenstämmen in der Gegend, was weitere Gewalt auslöste. Als dann islamistische Regierungstruppen mit schwerem Gerät in mehrere Dörfer eindrangen und vor allem gegen Drusen gewaltsam vorgingen, geriet die Lage vor Ort ausser Kontrolle.

Al-Sharaa will Autonomieansprüche bekämpfen

Beobachter sprechen von über 300 Toten binnen weniger Tage, eine Zahl, die selbst für syrische Verhältnisse nach Jahren des Bürgerkriegs ungewöhnlich hoch ist. Dass diese Gewalt ausgerechnet unter der Führung des neuen Präsidenten Ahmad al-Sharaa stattfindet, einem ehemaligen Islamisten der al-Kaida, der sich nun offiziell als moderat darstellt, verleiht dem Vorgang eine zusätzliche Brisanz. Al-Sharaa, dessen Macht auf einem labilen Bündnis zwischen alten Baath-Strukturen, loyalen Armeeteilen und regionalen Clans beruht, schien zunächst entschlossen, alle abweichenden Autonomieansprüche im Süden, wie die der Drusen, militärisch zu neutralisieren.

Israel reagierte mit militärischer Härte, aber auch mit strategischer Präzision bei Luftangriffen auf die Hauptstadt Damaskus, wo unter anderem ein Teil des Präsidentenpalastes und das Verteidigungsministerium angegriffen wurden. Diese Luftangriffe waren nicht etwa als rein symbolische Abschreckung gedacht, sondern sie zielten auf das Zentrum der militärischen Steuerung. Gleichzeitig wurden logistische Knotenpunkte, Munitionsdepots und Kommandostrukturen zerstört.

In der offiziellen Rhetorik betonte der Verteidigungsminister Israel Katz, man werde nicht tatenlos zusehen, wenn «Glaubensbrüder» der israelischen Drusen in Gefahr seien. Doch der Einsatz ist sehr viel mehr als nur ein Ausdruck der Solidarität mit der drusischen Minderheit, von der etwa 150 000 in Israel und rund eine Million in Syrien leben. Vielmehr offenbart sich hier ein Muster von Einflussnahme, wie es Israel seit Jahren in Syrien testet, nun aber offen anwendet.

Das ist auch eine Folge des 7. Oktober 2023, als die islamistische Hamas von Gaza nach Israel eindrang und dort ein Massaker unter überwiegend israelischen Zivilisten anrichtete. So etwas will Israel nie wieder zulassen. Eine eher defensive politisch-militärische Strategie des «Containment», der prinzipiellen, reaktiven Eindämmung von Gefahren, ist nun der Bereitschaft gewichen, mit präemptiven und aggressiven militärischen Mitteln für Sicherheit an allen Grenzen zu sorgen.

Im israelischen Sicherheitsapparat stark vertreten

Die Drusen in Israel gelten seit Jahrzehnten als loyale Minderheit. Ihre religiösen Lehren gelten als geheim, ihre monotheistische Religion entstand im 11. Jahrhundert in Ägypten als Abspaltung vom schiitischen Islam. Anders als die muslimischen Araber in Israel unterliegen sie der allgemeinen Wehrpflicht, stellen überproportional viele Offiziere und sind im gesamten Sicherheitsapparat stark vertreten, ebenso in politischen Parteien und der Knesset.

Ihre Position innerhalb der israelischen Gesellschaft ist zugleich Symbol und Realität: eine Minderheit, die staatstreu, aber kulturell eigenständig ist. Daher sind die Drusen für das israelische Selbstverständnis als jüdisch-demokratischer Staat mit pluralistischem Fundament von erheblicher Bedeutung. Diese Rolle überträgt sich beinahe zwangsläufig auch auf den Blick Israels auf die drusische Gemeinschaft jenseits der Grenze, denn die israelischen Drusen haben dort Verwandte und Freunde.

Die Provinz Suweida, in der eine grosse Mehrheit der syrischen Drusen lebt, hat sich inzwischen faktisch zu einer halbautonomen Enklave entwickelt, die weder vom Regime kontrolliert noch von islamistischen Kräften dominiert wird. Israel betrachtet dieses Gebiet als strategischen Puffer zwischen den instabilen Regionen Syriens und den Golanhöhen, die seit 1967 unter israelischer Kontrolle stehen.

Nach dem Umsturz in Syrien mussten die iranischen Revolutionswächter und der libanesische Hizbullah Syrien verlassen. Das neue sunnitisch-islamistische Regime will das eigene Land vor dem Einfluss des schiitischen Iran schützen. Doch Syrien steht nach Jahren des Bürgerkriegs vor enormen innenpolitischen Belastungen. Die chaotischen Macht- und Staatsstrukturen führten in weiten Teilen Süd-Syriens zu einem sicherheitspolitischen Vakuum. Israel nutzte dies.

Auf dem Golan nahm Israel nach dem Sturz von Präsident Bashar al-Asad weiteres Gebiet zwar völkerrechtswidrig ein, doch aus strategischer Sicht ergibt dies Sinn, um die eigene Grenze besser schützen zu können. Gleichzeitig begann Israel Verbindungen zu lokalen Milizen aufzubauen und logistische Unterstützung zu gewähren. Auf diese Weise versucht Jerusalem Kontrolle auszuüben, ohne eigene Truppen auf syrischem Boden längerfristig zu stationieren. Die Luftangriffe auf Damaskus waren in diesem Sinne eine Warnung. Wer die Drusen angreift und damit die Region an der Grenze destabilisiert, muss mit israelischer Intervention rechnen.

Keine Kriegserklärung

Der Schlag gegen das syrische Regime ist allerdings keine Kriegserklärung, sondern ein gezieltes Warnsignal. Präsident al-Sharaa wurde unmissverständlich vorgeführt, dass militärische Gewalt gegen Autonomiebestrebungen nicht ohne Kosten bleibe. Zugleich sendet Israel ein Signal an alle regionalen Akteure, vor allem Iran, dass es in der Lage ist, punktuell überall einzugreifen, ohne sich langfristig militärisch zu binden. Die Strategie, die Israel in Syrien also verfolgt, hat damit drei Ziele: die Verhinderung eines Wiedererstarkens islamistischer oder gar iranischer Kräfte in Grenznähe; die Absicherung lokaler, pragmatischer Allianzen wie mit den Drusen in Suweida; die Schaffung einer präzedenzlosen Abschreckungspolitik, die auf punktuelle Dominanz setzt.

Diese Politik ist riskant. Suweida mag stabil genug erscheinen, um als Pufferzone zu fungieren, doch das Machtgefüge ist vor Ort und erst recht in Damaskus fragil. Die gegenwärtige militärische Konfrontation belastet auch die ersten Gespräche über eine Kooperation oder gar eine Aussöhnung zwischen Israel und Syrien. Doch nach den Gewaltexzessen in Suweida werden in Israel Stimmen lauter, die davor warnen, dem Islamisten al-Sharaa voreilig zu vertrauen. Wird es dem syrischen Regierungschef gelingen, sein Land zusammenzuhalten und Gewalt gegen Minderheiten grundsätzlich einzudämmen? Oder hat das israelische Eingreifen vielleicht sogar seine Machtposition geschwächt?

Für Israel sind auch internationale Reaktionen über das eigene Vorgehen in Syrien ein Faktor, den Jerusalem mit einkalkulieren muss. Während Washington und Brüssel bisher nur zu «Zurückhaltung» mahnten, könnten weitere, zukünftige Luftangriffe auf Damaskus eine breitere diplomatische Protestwelle auslösen.

Für Israel ist der Moment dennoch günstig. Der internationale Fokus auf die syrische Krise ist punktuell, die Konfliktlinien innerhalb des Landes sind unübersichtlich, die Akteure diffus. Genau in diesem Vakuum operiert Israel. Die Hilfe für die Drusen ist damit weniger Ausdruck von Loyalität als vielmehr Element einer umfassenderen Strategie zur Neuordnung der syrischen Peripherie und damit der israelischen Nordgrenze. Und sie zeigt, dass Israel nicht mehr bereit ist, nur zuzusehen, wenn an seinen Grenzen neue Ordnungen entstehen, sondern sie entscheidend mitgestalten will. Auch mit militärischen Mitteln.

ANALYSE – Saudi-Arabiens Freundschaft hat ihren Preis: warum Mohammed bin Salman Israels Avancen zurückweist – Daniel Böhm (Beirut), NZZ, 10.7.2025

Vor ein paar Jahren noch wollte Saudiarabien sein Verhältnis zu Israel normalisieren. Jetzt scheinen die Pläne erst einmal vom Tisch zu sein. Der mächtige Kronprinz kann sich Zeit lassen.

Die Normalisierung werde kommen, da ist sich der junge Saudi sicher. Er sitzt im Garten eines Hauses in Riad bei einer Privatparty, trinkt Gin Tonic und zieht an einer Elektrozigarette. Neben ihm sitzt eine Frau, das Haar offen, die Lippen geschminkt. Im Hintergrund blinken die Lichter von Riad. Es ist der 6. Oktober 2023, und das Königreich steht offenbar kurz davor, diplomatische Beziehungen zu Israel aufzunehmen.

Jahrelang hatte Saudiarabiens mächtiger Kronprinz Mohammed bin Salman darauf hingearbeitet. Jetzt ist er angeblich entschlossen, den historischen Schritt zu gehen. Ein Abkommen zwischen dem saudischen Königreich und Israel würde den Nahen Osten revolutionieren. «Es wird die Region komplett umkrempeln», schwärmt der junge Saudi. «Die wirtschaftlichen Möglichkeiten sind unbegrenzt. Das ist der Beginn eines neuen Nahen Ostens»

Nur ein paar Stunden später überfällt die palästinensische Hamas Israel und richtet ein Massaker an. Knapp zwei Jahre später ist von der Euphorie des Herbstes 2023 nichts mehr übrig. In Gaza herrscht ein nicht enden wollender Krieg. Gleichzeitig droht die ganze Region in einem Feuersturm zu versinken. In letzter Zeit lieferten sich Israeli und Iraner einen gnadenlosen Luftkrieg, Raketen und Kampfflugzeuge donnerten über den Nahen Osten hinweg.

Israel ist nicht mehr die umworbene Braut

Und die gross angekündigte Normalisierung? Sie ist auf der langen Bank gelandet, obwohl Israel immer noch dafür wirbt. Eine Freundschaft gebe es nur im Gegenzug zu einem Palästinenserstaat in den Grenzen von 1967, sagt bin Salman. Die gewaltigen Umwälzungen der letzten Monate haben den Prinzen seine Position überdenken lassen. Israel ist für ihn nicht mehr die heiss umworbene Braut.

Stattdessen trifft sich der Herrscher von Riad mit Jerusalems Erzfeinden und gewährt am Dienstag Irans Aussenminister Abbas Araghchi eine Audienz. Ausgerechnet jetzt, da Israel so mächtig ist wie nie, wendet sich Saudiarabien anscheinend ab. Kurz nachdem Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu seine Kampfflieger nach Teheran losgeschickt hatte, bezeichnete bin Salman die Islamische Republik sogar als Bruderstaat.

Dabei hatten die Saudi-Herrscher vor ein paar Jahren in Washington noch regelrecht darauf gedrängt, die verhassten Iraner mit einer Bombenkampagne zu überziehen. Doch aus der saudischen Sicht haben sich die Zeiten geändert. Statt auf ein enges Bündnis mit Israel setzt Riad jetzt auf gute Beziehungen in alle Welt – und ist bereit, auf eine Normalisierung mit Jerusalem vorerst zu verzichten. Wie konnte es so weit kommen?

Das Umdenken begann schon vor dem 7. Oktober

Im Sommer 2019 sind die Fronten noch klar. Mohammed bin Salman, der junge Kronprinz, der erst vor ein paar Jahren die Macht in Riad an sich gerissen hatte, verfolgt eine aggressive Politik. Er lässt die Huthi in Jemen bombardieren und versucht, in Libanon gegen den Hizbullah vorzugehen. Er will Iran schwächen, welches Saudiarabien seit Jahrzehnten als existenzielle Bedrohung sieht. Dabei setzt er auf eine Partnerschaft mit Amerika – und dessen wichtigstem Verbündeten Israel.

Doch Teheran schlägt zurück und greift im September 2019 Riads Ölanlagen an. Die saudische Abwehr ist machtlos. Schlimmer noch: Keiner kommt bin Salman zu Hilfe. Donald Trump, der damals im Weissen Haus sitzt und eigentlich als enger Freund Riads gilt, lässt bloss ausrichten, die Saudi müssten sich selbst um ihre Verteidigung kümmern.

Der Schock führt bei bin Salman zu einem Umdenken. Er fährt sein Engagement runter und setzt statt auf Konfrontation auf Zusammenarbeit. Der Prinz will sein Land reformieren und vom Öl unabhängig machen. Kriege kann er da nicht gebrauchen. Deshalb schwenkt er um auf Diplomatie. Mit Erfolg: Im Frühling 2023 gelingt es ihm, mit den Iranern ein Übereinkommen zu erzielen. Die beiden Länder nehmen wieder diplomatische Beziehungen auf.

Wie ein Haufen Hasardeure

Fortan verfolgt Riad eine Null-Probleme-Politik. Der Deal mit Israel ist deshalb nicht vom Tisch – aber er ist nicht mehr überlebenswichtig. Bin Salman erhofft sich von einer Zusammenarbeit immer noch viel: Israel gilt als technologische und wirtschaftliche Supermacht. Er träumt zudem von einem Militärpakt mit Amerika. Die Abraham-Abkommen, die die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain 2020 mit den Israeli unterzeichnen, gelten als erster Schritt.

Doch nach dem 7. Oktober 2023 ziehen dunkle Wolken auf. Vor allem das harte Vorgehen der Israeli in Gaza irritiert die Saudi. Nicht dass bin Salman viel an den Palästinensern gelegen wäre. Doch die Zehntausende Tote im Küstenstreifen bringen die arabische Welt in Wallung. Und als Herr über die heiligen Stätten des Islam kann der Prinz die Gefühle seiner Untertanen nicht ignorieren.

Zudem wirkt Israels ultrarechte Regierung, deren Minister offen von einer Vertreibung der Palästinenser träumen, auf die nach Stabilität strebenden Golfherrscher wie ein Haufen entfesselter Hasardeure. Zwar herrscht in Riad durchaus Freude, als Israels Militärmaschinerie erst die Hamas in Gaza und später den Hizbullah in Libanon dezimiert. Ein unkontrollierbarer Krieg im Nahen Osten ist aber nicht in bin Salmans Sinne.

Auf dem Weg zur Weltmacht

Spätestens als Donald Trump im Mai 2025 nach Riad zum Staatsbesuch kommt, macht ihm der Kronprinz klar: Eine Normalisierung mit Israel ist derzeit nicht mit ihm zu machen. Als Preis für die Freundschaft mit Jerusalem nennt er erneut einen Palästinenserstaat – wohlwissend, dass die Regierung Netanyahu darauf nicht eingehen wird. Aber bin Salman kann sich solche Forderungen leisten: Er hat die Zeit auf seiner Seite.

Denn seit dem 7. Oktober befindet sich der Prinz in einer komfortablen Lage. Sein Königreich, das 2019 noch so schwach wirkte, ist inzwischen auf dem Weg zur Weltmacht. Tech-Millionäre pilgern genauso in das Land wie Weltfussballer. Auf dem diplomatischen Parkett gilt bin Salman längst als Schwergewicht. Er vermittelt sogar zwischen Russland und der Ukraine und pflegt gute Beziehungen in alle Welt.

Plötzlich ist Riad die umworbene Braut: Trump will dort Geschäfte machen, Iran versucht, mithilfe der Saudi einen Keil zwischen Araber und Israeli zu treiben und seine Isolation zu durchbrechen. China ist auf das Erdöl aus dem Wüstenreich angewiesen. Bin Salman kann deshalb abwarten und seine Freundschaft dem Meistbietenden verkaufen. Sollte Netanyahu keine Konzessionen machen, dürfte der Prinz dessen Annäherungsversuche auch in naher Zukunft zurückweisen.

Ein Huthi-Angriff als Warnung

Aber der Kurs des Prinzen ist nicht ohne Risiko. Denn obwohl Saudiarabien jetzt Weltpolitik betreibt, ist das Land immer noch angreifbar. So sorgt der derzeit tiefe Ölpreis bei Riads Wirtschaftsplanern für Kopfschmerzen. Und die Stabilität, die Saudiarabien so dringend braucht, lässt sich nicht nur mit diplomatischen Pirouetten erreichen.

Das zeigt sich am Sonntag, als die mit Iran verbündeten Huthi im benachbarten Jemen nach monatelanger Pause wieder ein Handelsschiff attackieren. Am Dienstag folgt ein Angriff auf einen weiteren Frachter, wobei mehrere Seeleute getötet werden. Und dies, obwohl die mit Iran verbündeten Jemeniten seit ihrem Waffenstillstand mit den Amerikanern vor drei Monaten eigentlich als eingehegt gelten.

Der plötzliche Angriff dürfte bin Salman eine Warnung sein. Saudiarabien ist immer noch auf amerikanische Militärunterstützung angewiesen, um sich zu verteidigen. Und trotz allen Freundschaftsbekundungen traut bin Salman den Iranern nicht über den Weg. Zwar hat er derzeit keinen Appetit auf eine offene Partnerschaft mit Israel. Als Jerusalems Kampfjets aber Teheran im Juni einen Schlag nach dem anderen versetzten, dürfte er sich heimlich trotzdem ein bisschen gefreut haben.

URAINE-KRIEG im n-tv Liveticker

Detaillierte Meldungsübersicht. Daraus eine Auswahl:

WEITERE UKRAINE-MELDUNGEN

Oberst a. D. Thiele besorgt U-Boot-Verlegung ist „Marsch in Eskalationsrhetorik“ – n-tv, 2.8.2025 (5:10-min-VIDEO)

Während andere Beobachter die jüngste Verlegung US-amerikanischer Atom-U-Boote als reine Symbolpolitik abstempeln, bewertet Ralph Thiele diese als „brandgefährlich“. Aktuell hält der Militärexperte Putin sogar für einfacher zu berechnen als Trump.

COMMENT: dem ist nichts hinzuzufügen.

Aus «Terroristen» werden «vollwertige Partner»: Russland anerkennt als erster Staat die Taliban-Regierung – Inna Hartwich (Moskau), NZZ, 5.7.2025

Moskau bringt sich im Kampf um Einfluss am Hindukusch in eine privilegierte Position.

Zu fünft stehen die Männer in Turbanen auf einem Balkon mitten in Moskau und applaudieren. Eine Kamera hat sie aufgenommen, über ihren Köpfen weht die Taliban-Flagge mit dem islamischen Glaubensbekenntnis. Die radikalen Islamisten zeigen ihren Stolz über diesen historischen Schritt, wie es wenig später aus Kabul heisst.

Als erstes Land der Welt hat Russland die Machthaber in Afghanistan als legitime Regierung anerkannt. Russlands stellvertretender Aussenminister Andrei Rudenko hatte kurz zuvor im Aussenministerium in Moskau das Beglaubigungsschreiben des neuen afghanischen Botschafters in Russland, Gul Hassan, entgegengenommen.

Moskau sieht in dem Schritt, der aus der bis vor kurzem noch als Terroristen bezeichneten Regierung vollwertige Partner macht, einen «Anstoss für die Entwicklung produktiver bilateraler Kooperation zwischen unseren Ländern auf verschiedenen Gebieten». So heisst es in einer Mitteilung des russischen Aussenministeriums.

Der russische Botschafter in Kabul, Dmitri Schirnow, sagte, Russlands Präsident Wladimir Putin sei mit dieser Entscheidung dem aufrichtigen Wunsch des russischen Aussenministers Sergei Lawrow nachgekommen, die Beziehungen auszubauen. Fünf weitere Länder haben bereits Taliban-Botschafter akkreditiert, allerdings wollen sie das nicht als eine offizielle Anerkennung des Regimes in Kabul werten.

China, als Nachbarland Afghanistans, hatte das bereits im Dezember 2023 getan, die Vereinigten Arabischen Emirate und Usbekistan folgten im vergangenen Jahr. Im Mai dieses Jahres entschied sich auch Pakistan dazu, und erst vor einer Woche die Türkei.

Moskaus Schritt kommt nicht überraschend. Seit einiger Zeit nähert sich Russland den neuen Machthabern in Kabul an. Die bärtigen Mullahs in wehenden Gewändern sind seit Jahren – wenn auch zum Erstaunen des eigenen Publikums – immer wieder Gäste auf Konferenzen in Russland.

Lawrow empfing die Taliban in seinem Gästehaus, als seine eigene Regierung diese noch als Terroristen führte und selbst ihre blosse Erwähnung unter Strafe stellte. Die Auflistung als «terroristische Organisation», als die die Taliban seit 2003 in Russland galten, ist erst im April aufgehoben worden.

Überzeugt, die «westlich dominierte Weltordnung» gehe ihrem Ende zu, sucht Moskau nach neuen Partnern, zumal der Westen nach Russlands Überfall auf die Ukraine sich von Moskau abwandte. Neue Partner sind unter anderem Iran, Nordkorea und die Taliban. Es sind Freunde, die nicht auf die Einhaltung von Menschenrechten drängen, sondern zuverlässig Waffen und im Fall Nordkoreas auch Soldaten für die Front liefern.

Schadenfreude über die amerikanische Niederlage

Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan vor bald vier Jahren frohlockten russische Propagandisten ob des überstürzten und ungeordneten Abzugs der Amerikaner. Die russische Führung rühmte sich, zu den neuen Machthabern bereits früh Kontakte geknüpft zu haben. Sie bescheinigte den Taliban, für Sicherheit im Land zu sorgen, und gab sich zuversichtlich, die Mullahs seien ihrerseits an guten Beziehungen zu Moskau interessiert.

Immer wieder betont Putin den Aufbruch in eine «multipolare Welt» und inszeniert sich als Kenner und Versteher des «globalen Südens». Händeschütteln mit den Taliban gehört nach der Überzeugung des Kreml genauso zu den Erfordernissen der neuen Weltordnung wie der Krieg in der Ukraine.

Doch eigentlich ist Afghanistan ein wunder Punkt in der sowjetisch-russischen Geschichte. Die zehn Jahre Krieg von 1979 bis 1989 – nachdem die sowjetische Führung unter Leonid Breschnew den Einsatz zunächst lediglich auf drei Monate geplant hatte – trugen letztlich zum Fall des kommunistischen Regimes in Moskau bei.

Es war ein Krieg, vor dem alle Familien in der Sowjetunion Angst hatten, weil sie ihre Söhne nicht in den als sinnlos betrachteten Kampf schicken wollten. Einen Krieg, der in den 1980er Jahren das Strassenbild auch in den entlegensten Regionen der Sowjetunion prägte, weil verstümmelte Kriegsveteranen, vom Staat im Stich gelassen, vor den leeren Läden bettelten, um zu überleben.

Im Dezember 1989, auf dem Höhepunkt der Perestroika von Michail Gorbatschow, verurteilte der Kongress der Volksdeputierten der UdSSR die Truppenentsendung nach Afghanistan als moralische und politische Fehlentscheidung. Es ist ein einzigartiges Dokument, das die Niederlage der Sowjetunion in Afghanistan eingesteht.

Heute gelten die «Afganzy» wieder als Helden

Es bezeichnete die 15 000 sowjetischen Toten, die über 50 000 Verletzten und die eineinhalb Millionen Afghaninnen und Afghanen als Opfer von «schrecklichen politischen Fehlern». Die Zeiten aber haben sich seither geändert. Putin verklärte die Afghanistan-Soldaten, in Russland «Afganzy» genannt, bereits im zweiten Tschetschenien-Krieg (1999–2009) zu Vorbildern in Sachen Widerstandskraft und patriotischer Selbstlosigkeit.

Der militaristische Patriotismus ist längst zu einem Grundpfeiler der politischen Identität Russlands geworden. Der Afghanistan-Krieg ist nach diesem Verständnis kein Fehler, sondern eine Ruhmestat, auch wenn es dabei wenig zu rühmen gibt.

In die zur Schau gestellte Zuversicht Moskaus, in den Taliban Partner gefunden zu haben, mischt sich die Sorge, Afghanistan könnte wieder zu einer Brutstätte für gewaltbereite Islamisten aus aller Welt werden. Die Sicherheitslage in Afghanistan betrifft Russland nahezu direkt, weil die beiden ehemaligen Sowjetrepubliken Tadschikistan und Usbekistan, Afghanistans Nachbarn, mit islamistischen Bewegungen zu kämpfen haben.

Russland betrachtet diese Länder nicht nur als Teil seines Vorhofes, sondern sieht in ihnen auch strategische Puffer. Die Anerkennung der Taliban zeigt deshalb auch, dass sich die Russen im Wettkampf um Einfluss am Hindukusch in eine gute Startposition bringen wollen.

COMMENT: Ein Hintergrund könnte sein, von dort junge Männer zum Kriegsdienst zu gewinnen.

KOMMENTARE – ANALYSEN – HINTERGRÜNDE

ANALYSE: Was ändert sich nun an der Militärhilfe für die Ukraine? Noch wirkt der neue Trump-Plan unausgereift und vage – Andreas Rüesch, NZZ, 15.7.2025

Die USA lassen sich nicht in die Karten blicken, wie genau sie zu Waffenlieferungen beitragen wollen. Klar ist nur der Grundsatz: Bezahlen sollen die Europäer. Aber auch da stehen schwierige Verhandlungen bevor.

Der amerikanische Präsident Donald Trump hat am Montag in seiner mit Spannung erwarteten «grossen Erklärung» zur Ukraine zumindest in einem Punkt Klarheit geschaffen: Er sperrt sich nicht mehr gegen die Idee, Waffen nach Europa zu liefern, die der Ukraine im Krieg gegen Russland helfen sollen. Die entscheidende Bedingung ist für ihn einfach, dass nicht die USA, sondern die europäischen Nato-Partner die Finanzierung dieser Waffen übernehmen. «Wir kaufen sie nicht, aber wir werden sie herstellen. Und sie werden sie bezahlen», sagte er an die Adresse der Europäer während seines Treffens mit dem Nato-Generalsekretär Mark Rutte im Oval Office.

Im Grunde ist dies kein neuer Plan. Vertreter der Administration Biden hatten dieses Modell schon vor einem halben Jahr während des Regierungswechsels mit Trumps Team besprochen. Aber der neue Präsident legte sich monatelang nicht fest. Vorrang hatte für ihn, die Rolle des Friedensvermittlers zwischen Russland und der Ukraine zu spielen. Nun gibt er selber zu, dass ein Abkommen nicht so schnell erreichbar ist und die Ukraine dringend Waffen benötigt. Aber selbst jetzt zeigt er eine gewisse Ambivalenz. In den Details wirkt der Plan noch unausgereift und voller offener Verhandlungspunkte.

Werden weitere Monate verstreichen?

Trump überspielte dies mit vollmundigen Ankündigungen. Mehrere Batterien des Flugabwehrsystems Patriot könnten innerhalb von Tagen geliefert werden. Waffen im Wert von mehreren Milliarden Dollar würden bald transferiert. Der Präsident sprach auch von einem ungenannten Land, das 17 Patriot-Systeme nicht mehr benötige. Die Idee ist offenbar eine Art Ringtausch, bei dem die Europäer die Finanzierung sicherstellen und die Luftverteidigung der Ukraine gestärkt wird.

Für die Führung in Kiew, die derzeit über etwa 7 Patriot-Batterien verfügt und 10 weitere erbeten hat, wäre dies ein grosser Erfolg. Patriot-Systeme leisten bei der Abwehr von russischen Raketen und Marschflugkörpern hervorragende Dienste, schützen derzeit aber erst wenige Zonen im Land, vor allem die Hauptstadt Kiew.

Trumps Angaben sind jedoch mit Vorsicht zu behandeln. Es gibt nach öffentlich verfügbaren Quellen kein Land, das 17 Patriot-Batterien herumstehen hat. Am ehesten ist Israel gemeint, das seine Flugabwehr modernisiert und nach unbestätigten Angaben 8 Batterien ausmustert, wovon eine gewisse Anzahl Abfangraketen bereits in der Ukraine eingetroffen sein soll. Möglicherweise hat sich Trump bei der Zahl geirrt, oder er meinte nicht Batterien, sondern Startgeräte, von denen es in jeder Batterie 6 bis 8 Stück gibt.

Voraussichtlich müssten die israelischen Geräte jedoch zuerst überholt werden, bevor sie bereit für einen Transfer in die Ukraine sind. Daher ist die optimistische zeitliche Prognose Trumps mit einem Fragezeichen zu versehen.

Einen anderen Zeitrahmen nannte der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius bei seinem Washington-Besuch am Montag. Er sprach von einer Lieferung innert Monaten, falls jetzt eine Entscheidung über die Patriots falle. Pentagon-Beamte sagten gegenüber der «New York Times», dass es noch viele Details geklärt werden müssten.

Hinzu kommen offene Finanzierungsfragen. Festzustehen scheint derzeit nur, dass Deutschland 2 und Norwegen eine zusätzliche Patriot-Batterie für die Ukraine zu finanzieren bereit sind.

Aber die Regierung in Berlin will aus verständlichen Gründen ein breiteres Engagement innerhalb Europas. Laut Pistorius verfügt Deutschland nur noch über 6 seiner 12 Patriot-Systeme, nachdem es 3 an die Ukraine abgegeben und 2 vorläufig nach Polen an die Nato-Ostflanke verlegt hat. Nun müssten bei dem neuen Patriot-Plan mehr Länder mithelfen: «Das ist ein Appell an alle anderen europäischen Mitgliedstaaten der Nato. Hier müssen alle gewissermassen ihre Portemonnaies öffnen», sagte er gegenüber der ARD.

Welche Portemonnaies nun gezückt werden, bleibt abzuwarten. Am EU-Aussenministertreffen vom Dienstag in Brüssel gab es keine neuen Angebote, dafür Hinweise auf erheblichen Verhandlungsbedarf. Die Formulierung des deutschen Staatsministers für Europa im Auswärtigen Amt, Gunther Krichbaum, wonach «bei gutem Willen» alles schnell gehen könnte, deutet an, dass die Willensbildung noch bevorsteht. Krichbaum erwähnte auch zwei grundlegend verschiedene Arten der Finanzierung: entweder durch einzelne Staaten oder durch die EU insgesamt. Letzteres wäre ein neuer Akzent, denn die EU spielt bei der Militärhilfe an die Ukraine im Vergleich zu den Aufwendungen der Mitgliedstaaten erst eine untergeordnete Rolle.

Die USA sind als Financier ersetzbar

Unabhängig davon stellt sich die Frage, was es für Europa bedeutet, wenn die USA als direkter Unterstützer der Ukraine wegfallen sollten und nur noch die Rolle eines Waffenverkäufers spielen wollen. Die Befürchtung über weitere finanzielle Lasten ist in der EU verbreitet. Doch ein Blick auf die Zahlen relativiert dies stark.

Die USA leisteten bisher Militärhilfe an die Ukraine im Umfang von rund 20 Milliarden Dollar pro Jahr. Wenn künftig die europäischen Mitglieder der Nato diesen Betrag schultern, entspricht dies nur 0,09 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung. Das ist verschwindend wenig gemessen am neuen Ziel der Nato, die Verteidigungsausgaben von 2 auf 3,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts anzuheben. Die Ukraine-Hilfe darf dem Nato-Ausgabenziel angerechnet werden und bedeutet deshalb keine zusätzliche Last. Es dürfte zudem in vielen Fällen besser investiertes Geld zur Abwehr Russlands sein, als eigene Kapazitäten für einen Kriegsfall aufzubauen.

Und die übrigen Waffen?

Die bisher bekannten Bruchstücke des Trump-Plans betreffen die Patriot-Abwehrsysteme. Offen bleibt, inwieweit auch anderes Militärmaterial mithilfe des neuen Finanzierungsmodells in die Ukraine fliessen wird. Die Ukraine ist bei einer Reihe von Waffenarten auf die USA angewiesen, weil die europäische Rüstungsindustrie nicht in die Lücke springen kann. Dazu zählt Präzisionsmunition für Himars-Raketenwerfer. Damit hat die Ukraine kürzlich die Kommandozentrale einer feindlichen Brigade getroffen und auf einen Schlag deren gesamte Führungsspitze sowie den Chef der russischen Marineinfanterie getötet. Der vom Pentagon kürzlich verhängte Lieferstopp betraf allerdings auch die Himars-Munition.

Trump hat solche Angriffe tief im russischen Hinterland in der Vergangenheit kritisiert. Nun scheint er ihnen offener gegenüberzustehen. Wie die «Financial Times» und die «Washington Post» am Dienstag unter Berufung auf Insider berichteten, fragte er seinen Amtskollegen Wolodimir Selenski bei einem Telefonat kürzlich, ob die Ukraine auch Moskau oder St. Petersburg angreifen könne. Es gehe darum, Russland empfindlicher zu treffen. Selenski soll die Frage bejaht haben, «wenn Sie uns die Waffen dafür geben».

Möglich wäre dies beispielsweise mit amerikanischen Tomahawk-Marschflugkörpern. Doch ein solcher Transfer ist höchst unwahrscheinlich, zumal Trump Selenski noch vor Monaten vorgeworfen hat, einen «dritten Weltkrieg» zu riskieren.

Hingegen erhofft sich die Ukraine amerikanische Raketen und Marschflugkörper kürzerer Reichweite, mit denen sie die russischen Aufmarschgebiete 100 bis 300 Kilometer hinter der Front treffen könnte.

«Ihre geografische Lage macht die Schweiz zu einem Schlüsselgelände», sagt die Nato-Zukunftsforscherin – Peter A. Fischer, Georg Häsler, NZZ, 30.7.2025

INTERVIEW – «Ihre geografische Lage macht die Schweiz zu einem Schlüsselgelände», sagt die Nato-Zukunftsforscherin – Peter A. Fischer, Georg Häsler (Interlaken), NZZ, 30.7.2025

Florence Gaub denkt in ihrem Job das Undenkbare. Im Gespräch mit der NZZ sagt sie, die direkte Konfrontation zwischen Russland und dem Westen habe längst begonnen.

Florence Gaub denkt über den Horizont der militärischen Szenarien hinaus. Am Nato Defense College in Rom erforscht sie unter anderem die Auswirkungen der grossen Trends auf die Sicherheitspolitik und die Folgen für die Allianz. Bei ihren öffentlichen Auftritten nimmt Gaub ihre Zuhörerinnen und Zuhörer mit auf eine Reise in eine manchmal nicht so erfreuliche Zukunft, allerdings stets so, dass am Ende auch Raum für eine positive Wendung bleibt.

Die Menschen, ob Politiker, Militärs oder Zivilgesellschaft, haben es in der Hand, den Gang der Welt zu beeinflussen: indem sie sich mit dem auseinandersetzen, was kommen könnte – und daraus kluge Entscheidungen ableiten.

Die NZZ hat die deutsch-französische Zukunftsforscherin am Swiss Economic Forum (SEF) in Interlaken getroffen.

Frau Gaub, als Zukunftsforscherin bei der Nato beschäftigen Sie sich mit der Welt von morgen. Wie denkt man das Undenkbare?

Indem man sich diszipliniert aus der Gegenwart herauslöst. Wir haben bei der Nato mehrere Institutionen, die sich mit Zukunft befassen. Die Teams von Allied Command Transformation etwa, die Streitkräfte-Entwickler des Nato-Oberkommandos, denken über langfristige, wahrscheinliche Entwicklungen nach – bis zu zwanzig Jahre voraus. Unser Team hingegen bearbeitet die Zone dazwischen, sagen wir fünf bis zehn Jahre, und wir fokussieren uns besonders auf das Unwahrscheinliche – das, was am Rande des Denkbaren liegt.

Also das Gegenteil von Trendforschung?

Genau. Wenn ein Thema schon in aller Munde ist – etwa ein chinesischer Angriff auf Taiwan –, dann beschäftigen wir uns nicht mehr damit. Dann fragen wir eher: Was, wenn ein Erdbeben Taiwan trifft? Oder wenn ein Konflikt zwischen China und den USA nicht um Taiwan, sondern im Weltall ausbricht? Gerade dort gibt es ein wachsendes Arsenal sogenannter «Counter Space Weapons». Das sind Technologien, mit denen etwa Satelliten gestört oder zerstört werden können. Der Unterwasserbereich ist ein anderes solches Gebiet – Drohnen, Datenkabel, U-Boote, all das findet unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung statt.

Und was passiert mit den Szenarien, die Sie entwickeln?

Wir beenden jedes Szenario mit einer Rückprojektion in die Gegenwart. Es geht nicht darum, Science-Fiction zu schreiben. Sondern um die Frage: Was müssen wir heute tun, wenn dieses Szenario eintreten könnte? Was sind die Lehren für unsere Fähigkeiten, unsere Verträge, unsere Infrastruktur? Nur so wird aus spekulativem Denken eine sicherheitspolitische Handlungsempfehlung.

Was konkret ergibt sich daraus, etwa für das Weltall?

Wir müssen zuerst ein Bewusstsein für die Bedeutung des Weltalls entwickeln. Viele Nato-Staaten besitzen keine eigenen Fähigkeiten im Weltraum. Dabei wäre es dringend nötig, sich dieser Dimension bewusst zu werden. Es gibt Überlegungen für internationale Verträge zur Regulierung militärischer Aktivitäten im All – momentan gibt es da nur vage Prinzipien, aber keine belastbaren Mechanismen. Das ist gefährlich.

Sie sagen, Krieg sei nicht das wahrscheinlichste Szenario – aber das gefährlichste. Wie verkauft man diese Logik demokratischen Gesellschaften?

Es ist wie mit dem Fahrradhelm. Vielleicht stürzt man nie – aber wenn doch, dann ist man froh, vorbereitet zu sein. Es geht nicht darum, Panik zu erzeugen. Sondern um die Erkenntnis: Krieg ist möglich, auch wenn er unwahrscheinlich scheint. Die Wahrscheinlichkeit ist seit 2022 gestiegen. Und selbst unwahrscheinliche Szenarien können enorme Konsequenzen haben.

Wie nahe sind wir einem Konflikt zwischen der Nato und Russland?

Die direkte Konfrontation hat längst begonnen. Russland führt seit Jahren Cyberoperationen gegen westliche Staaten durch. Was viele befürchten – ein klassischer Einmarsch in ein Nato-Land –, halte ich für wenig wahrscheinlich. Viel eher erwarte ich hybride, schwer zuzuordnende Ereignisse. Nehmen wir an, eine norwegische Forschungsexpedition wird von einer Unterwasserdrohne gerammt. Alle Zeichen sprechen für eine russische Aktion – aber man kann es nicht beweisen. Was dann?

COMMENT: Die direkte Konfrontation begann schon viel früher und jenseits völkerrechtlicher Definitionen, wie Tagesblickleser wissen. Aber hier spricht eine der NATO und ihren Auffassungen verpflichtete Dame. Die Rolle des Westens wird ausgeblendet.

Die entscheidende Frage ist: Wer interpretiert den Vorfall wie? Wer entscheidet, ob das ein Bündnisfall ist?

Eben. Wenn die Reaktion uneinheitlich ausfällt, droht die Abschreckungswirkung zu zerfallen. Deshalb sind Szenarien so wichtig – nicht, um sie exakt vorherzusagen, sondern um die Entscheidungsfähigkeit in der Krise zu verbessern.

Sind die westlichen Demokratien überhaupt in der Lage, in solchen Szenarien zu denken?

Sehr unterschiedlich. Finnland ist da vorbildlich. Politik und Bevölkerung haben eine hohe Bedrohungswahrnehmung. Es besteht ein hoher gesellschaftlicher Zusammenhalt. Andere Länder – nun ja. Wir bei der Nato reisen viel nach Helsinki, um zu lernen, wie strategisches Szenario-Denken institutionell verankert werden kann. In Ländern mit weniger Krisenerfahrung fehlt oft der Reflex, systematisch über das Undenkbare nachzudenken.

Die Schweiz weigert sich in weiten Teilen sogar, die gegenwärtige Lage zu verstehen. Spielen wir bei Ihren Nato-Überlegungen überhaupt eine Rolle?

Natürlich. Die Schweiz ist ein Nato-Partner – und zwar nicht irgendeiner, sondern ein relevanter. Auch wenn sie kein Mitglied ist, wird sie über ihre Beteiligung am Nato-Programm «Partnership for Peace» als Teil der erweiterten Familie wahrgenommen. Ihre geografische Lage macht die Schweiz zu einem Schlüsselgelände: bei der Resilienz von kritischen Infrastrukturen, als Knotenpunkt des europäischen Stromnetzes oder auch bei der Mobilität militärischer Kräfte.

Das spricht für eine Verantwortung, die über ein neutrales Schulterzucken hinausgeht.

Mindestens sollte die Schweiz aktiv mitdenken. Es wäre irritierend, wenn rundherum alle Staaten aufrüsteten und ihre Resilienz auch militärisch stärkten – und nur die Schweiz im Beobachtungsmodus verharren würde. Das passt nicht in ein Netzwerksicherheitsdenken. Sicherheit kann man heute nur gemeinsam verteidigen.

Reden wir über die Zukunft des Krieges: Der Krieg in der Ukraine verläuft konventionell: Artillerie, Bodentruppen, hohe Verluste. Wie passt das zu den ganzen Zukunftsszenarien?

Zwei Punkte: Erstens hat Russland ein klassisch strukturiertes Militär mit hoher Toleranz gegenüber eigenen Verlusten und riesigen Reserven an Artilleriemunition. Wer genau hinsah, konnte das vor dem Einmarsch am 24. Februar 2022 erwarten. Zweitens kam die Überraschung von den Ukrainern – primär von ihrer operativen Kreativität im Umgang mit Drohnen und ihrer mentalen Standfestigkeit. Technologische Innovation allein ist nie entscheidend – entscheidend ist, was die Menschen damit tun.

Also ist auf dem Gefechtsfeld der Zukunft auch weiterhin die menschliche Denkkraft gefragt, in der geschickten Kombination von modernsten und konventionellen Mitteln?

Ganz genau. Deshalb warnen wir auch vor einer auf Technologie fixierten Denkweise. Denken Sie nicht nur in Waffen oder Sensoren. Denken Sie darüber nach, wie Sie Ihre Mittel operativ und taktisch geschickt einsetzen. Denken Sie kreativ. Wir hatten eine Simulation, in der Nato-Offiziere die Rolle russischer Offiziere übernehmen sollten. Dieser Perspektivenwechsel ist entscheidend für neue Ideen.

Und doch: Der Krieg in der Ukraine stagniert. Beiden Seiten gelingt es nicht, die Initiative zu übernehmen.

Es geht eben nicht um möglichst viel Zerstörung – es geht darum, den Gegner zu einer Handlung zu zwingen, die er eigentlich nicht will. So sagt es der preussische Kriegsphilosoph Carl von Clausewitz. Deshalb sind psychologische, moralische und kognitive Dimensionen mindestens so wichtig wie die kinetischen am Boden und in der Luft. Überraschung, Durchhaltefähigkeit und symbolische Wirkung – das sind die echten Entscheidungsfaktoren.

Sie sagten bei einem Auftritt, die Nato habe sich wieder auf einen eingefrorenen Konflikt eingestellt, aber diesmal mit mehr Truppen im Baltikum. Ist das nicht gefährlich?

Immer, wenn man sich auf nur ein Szenario einschiesst, wird es gefährlich, weil dann das Denken endet. Genau dann passieren Überraschungen. Russland hat kürzlich seine neue Marinedoktrin veröffentlicht – für uns ein Alarmzeichen, dass wir wieder mehr über die maritime Sphäre nachdenken müssen. Auch das Mittelmeer hat die Nato zu lange vernachlässigt. Dort zeigt Russland Präsenz – übrigens zusammen mit China. Die Überraschung ist ein zentrales Element der Kriegsführung.

Treffen Überraschungen Demokratien besonders hart?

Leider ja. Demokratien sind friedenssozialisiert. Sie tun sich schwer mit der Vorstellung, dass es echte Feindschaft, Gemeinheit, sogar Bosheit gibt. Deshalb ist das Denken in Szenarien so wichtig. Es erlaubt, geistig durchzuspielen, was niemand erleben will. Nicht um es wahrscheinlicher zu machen – sondern um vorbereitet zu sein.

Abschreckung war früher auch ein ökonomisches Argument: Krieg lohnt sich nicht. Gilt das noch?

Nur sehr bedingt. Der ökonomische Rationalismus greift bei Akteuren wie Russland nicht. Es geht um Identität, geopolitisches Ego, um die Wiederherstellung verlorener Grösse. Das lässt sich mit einer Kosten-Nutzen-Rechnung nicht fassen. Russland ist wirtschaftlich angeschlagen – und trotzdem expandiert es militärisch, sogar im Mittelmeer. Warum? Weil es um symbolische Macht geht, nicht um materielle Effizienz.

Was bedeutet das für europäische Demokratien?

Dass wir lernen müssen, jenseits der wirtschaftlichen Bilanzen zu denken. Warum kämpfen Ukrainer, obwohl der Preis so hoch ist? Weil sie wissen, was auf dem Spiel steht: Identität, Freiheit und Geschichte. In der Sicherheitspolitik müssen wir solche Werte wieder ernst nehmen. Nicht nur rhetorisch, sondern in der Planung unserer gesellschaftlichen und militärischen Fähigkeiten. Sonst werden wir immer wieder überrascht – und zahlen einen hohen Preis dafür.

COMMENT: Kriege sind teuer, aber der Wiederaufbau bringt das große Geld, speziell wenn man einen Stellvertreter als Kriegsführenden hat.

ZENTRALBANKEN

WIRTSCHAFTSMELDUNGEN IM ÜBERBLICK

WEITERE MELDUNGEN

ORF MELDUNGBÜNDEL WELT

Ukraine-Krieg

Ukraine: Drohnenangriffe auf militärische Ziele

Festnahmen wegen Korruption bei Drohnenkauf in Ukraine

Ausland

Neue Hamas-Videos sorgen für Empörung

GB: Zusammenstöße bei einwanderungsfeindlichen Protesten

US-Berufungsgericht untersagt willkürliche Festnahme

Zehntausende ziehen bei Regenbogenparade durch Prag

Serbien: Vucic will Hafturteil gegen Dodik nicht anerkennen

Türkei beliefert Syrien mit Erdgas aus Aserbaidschan

USA

AMERIKA

„Absolut absurd“

Weltklimakonferenz in Brasilien: COP-Austragungsort schreckt Besucher ab – ORF, 3.8.2025

Im November findet im brasilianischen Belem, dem „Tor zum Amazonas“, die 30. Weltklimakonferenz (COP30) statt. Doch schon jetzt mehrt sich die Kritik am Austragungsort – zu abgelegen und schwer erreichbar sei dieser, vor allem aber nicht ausgerichtet für ein Massenevent wie die internationale Klimakonferenz. Tatsächlich werden bereits Stundenhotels umfunktioniert, da die Bettenanzahl bei Weitem nicht ausreicht. Und die Preise für Privatunterkünfte sind laut dem COP-Präsidenten Andre Aranha Correa do Lago „absolut absurd“. All das führte zu ersten Absagen, wie die „Financial Times“ am Freitag berichtete.

In Belem die Klimakonferenz auszurichten, das sei, wie wenn der Songcontest in Oberwart stattfinden würde, sagte ein österreichischer Brasilien-Experte kürzlich gegenüber ORF.at. Die im Norden von Brasilien gelegene Hafenstadt mit 1,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern soll vom 10. bis 21. November etwa 50.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus fast 200 Staaten empfangen – darunter Staats- und Regierungsspitzen, NGOs und Aktivisten. Bisher sieht der Unterkunftsplan rund 36.000 Betten vor.

COP-Präsident Correa do Lago sagte kürzlich gegenüber der „FT“, dass die Preise für private Hotels „absolut absurd“ seien: „Wir dachten, die Hotels würden vernünftig sein, doch sie sind es nicht.“ Er fügte aber hinzu, dass sein Team „alle rechtlichen Mittel versucht, um die Preise zu senken“. Auch Recherchen von ORF.at ergaben, dass die Preise für ein Appartement für zwei Personen im Zeitraum der COP mehrere zehntausend Euro betragen können – einige davon sogar weit über 100.000 Euro.

„Bring deine Liebe“: Stundenhotels als billige Alternative

Mittlerweile sicherte die brasilianische Regierung sogar Kreuzfahrtschiffe als zusätzliche Unterkünfte. Zudem werden Schulen umgebaut, temporäre Unterkünfte eingerichtet und neue Hotels errichtet.

Und wie bereits bei der UNO-Artenschutzkonferenz (COP16) in Kolumbien werden auch in Belem Stundenhotels umfunktioniert – mit Pole-Dance-Stangen, Leoparden-Print-Wänden, Spiegeldecken und herzförmigen roten Badewannen, wie die „New York Times“ („NYT“) kürzlich berichtete. Zitiert wird hierbei Andre Godinho, der Belem bei der Planung der COP30 vertritt: „Die Möglichkeit, in einem Liebeshotel zu übernachten – das ist nicht hässlich, das ist nicht falsch. Es ist Teil der Lösung.“

Privatunternehmen sagen ab, Delegationen verkleinert

Für viele Besucherinnen und Besucher scheint die Lösung aber eine andere zu sein: nämlich schlicht abzusagen. So schreibt die „FT“: Eine Vielzahl von Unternehmen und Beratern ziehe sich, abgeschreckt von der langen Anreise und den hohen Preisen, vom Klimagipfel zurück.

Weltklimakonferenz

Bei der Conference of the Parties (COP) kommen die 197 beteiligten Staaten zusammen, die 1992 in Rio de Janeiro die UNO-Rahmenkonvention zum Klimawandel (UNFCCC) unterzeichnet haben. Die COP findet jährlich statt, die zweiwöchigen Verhandlungen dienen der Formulierung eines Beschlusstextes über weitere Schritte im internationalen Klimaschutz.

Konkret heißt es dort: „Finanzinstitute, Beratungsfirmen und Unternehmensberater, die in den Vorjahren an den Klimagesprächen teilgenommen haben, teilten der Financial Times mit, dass sie stattdessen eine kleinere Delegation nach Sao Paulo oder Rio de Janeiro entsenden wollten, wo angrenzende Finanz- und Klimakonferenzen stattfinden.“

Zitiert wird hierbei ein Berater des COP30-Teams: „Unternehmen sagen, es wird zu teuer und schwer, Unterkünfte zu finden. Sie konzentrieren sich stattdessen auf Veranstaltungen in Rio und Sao Paulo.“ Der Rückzug des Privatsektors laufe jedoch den Bemühungen öffentlicher Stellen entgegen, Unternehmen zu ermutigen, eine größere Rolle im Klimaschutz zu spielen – und wichtige Investitionen zu tätigen.

Van der Bellen stellte Teilnahme infrage

Auch europäische Beamte, die sich zur Teilnahme angemeldet haben, hätten der „FT“ gesagt, sie seien unsicher, wo sie untergebracht würden, und würden ihre Verhandlungsteams infolgedessen möglicherweise verkleinern.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen zeigte sich Anfang Juli ebenso skeptisch, was seine Teilnahme betrifft: Wenn die Infrastruktur dort nicht ausreichend ist, werden wir trotz der Bedeutung der Konferenz zögern hinzufahren.“ Er selbst habe an der Klimakonferenz in Scharm al-Scheich teilgenommen und gesehen, „wie viel Vorbereitung das braucht“, sagte Van der Bellen. „Ob das in Belem rechtzeitig gelöst werden kann, weiß ich nicht.“

Lula will der Welt den Amazonas zeigen

Die Wahl von Belem als Austragungsort geht nicht zuletzt auf den brasilianischen Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva zurück. Er wolle die Delegierten nahe zur Natur bringen – noch dazu in eine Region, die stark von der Klimakrise betroffen ist, so die Argumentation.

Bei der BBC ist dazu zu lesen: „Der brasilianische Präsident und sein Umweltminister sagen, dass das ein historischer Gipfel sein wird, weil es sich um eine COP im Amazonasgebiet handelt und nicht um eine COP über das Amazonasgebiet.“

Das Treffen böte laut Lula eine Gelegenheit, sich auf die Bedürfnisse des Amazonasgebiets zu konzentrieren, der Welt den Regenwald zu zeigen und zu präsentieren, was die Regierung zu seinem Schutz unternommen hat.

Kritik kam kürzlich aber auch von Umweltschützerinnen und Umweltschützern selbst: Denn Brasilien lässt anlässlich des Klimagipfels in Belem eine vierspurige Autobahn errichten. Doch gebaut wird diese nicht nur in der Stadt selbst, sondern ausgerechnet durch einen geschützten Bereich im Amazonas.

Rufe nach Verlegung

In den vergangenen Wochen wurden jedenfalls viele Rufe laut, die Klimakonferenz in eine größere Stadt wie Rio de Janeiro oder Sao Paulo zu verlegen. „Sowohl reiche als auch Entwicklungsländer, einschließlich kleiner Inseln und afrikanischer Nationen, haben ihre Bedenken über die Logistik lautstark geäußert, die die UNO-Vorbereitungen überschattet haben“, schreibt die „FT“.

Erst diese Woche habe das COP30-Team bei einem von der afrikanischen Verhandlungsgruppe einberufenen Notfalltreffen gesagt, dass es in den kommenden zwei Wochen über Kosten und andere Probleme berichten werde und intensiv an Lösungen arbeite.

So werde etwa das Flugnetz sowie der Flughafen selbst erweitert – derzeit hätte er Schwierigkeiten, viele Präsidenten- oder Privatjets gleichzeitig zu beherbergen. COP-Präsident Correa do Lago habe jedoch darauf bestanden, dass die Konferenz in Belem stattfindet.

sita, ORF.at

Links:

NAHER OSTEN – MENA WATCH (Mena-Watch auf Wikipedia)

EUROPA

Lehren aus der Credit-Suisse-Krise: Internationale Experten sind für eine stärkere Regulierung als der Bundesrat – Hansueli Schöchl, NZZ, 1.7.2025

Die Schweizer Grossbankenregulierung ist mangelhaft, und die Finma muss mehr «proaktiv» handeln. Das sagt der Internationale Währungsfonds in seinem neusten Länderexamen zur Finanzstabilität.

Bedeutende Finanzplätze bekommen alle fünf Jahre ein Sondergeschenk: ein Länderexamen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zur Finanzmarktstabilität. Dass ein solches Geschenk in der Schweiz derzeit willkommen ist, lässt sich indes bezweifeln. Denn das jüngste IWF-Länderexamen zur Schweiz ist geprägt durch die Eindrücke der Credit-Suisse-Krise.

Das Prüfteam des IWF hat am Dienstag in Bern nach zweiwöchigem Aufenthalt im Land kritische Einschätzungen vorgelegt. Die Krise der Credit Suisse habe «Lücken» bezüglich Aufsicht und Krisenmanagement offengelegt, heisst es im IWF-Papier. Auf Nachfrage sagten Prüfer im Gespräch, dass die Schweiz hinter den international empfohlenen Standards und Praktiken zurückliege.

Für «proaktive» Finma

Die Prüfer wollen gemäss dem Papier unter anderem eine stärkere Finanzmarktaufsicht (Finma) sehen. Wie stark der geltende Rechtsrahmen die Finma im Fall Credit Suisse gebremst hat, ist Gegenstand von unterschiedlichen Interpretationen – was auch den IWF-Prüfern bewusst ist. Aus Gesprächen mit Prüfern geht hervor, dass sie nicht nur eine Stärkung der Rechtsgrundlagen für die Aufsichtsbehörde sehen wollen, sondern auch ein insgesamt forscheres Verhalten der Behörden. «Die Finma muss im Umgang mit den beaufsichtigten Firmen proaktiv und direkt sein», heisst es im IWF-Papier.

Die rechtlichen Eingriffsmöglichkeiten für die Finma sollten laut der IWF-Analyse ausgedehnt werden – einschliesslich sofort durchsetzbarer Frühinterventionen etwa zur Einschränkung der Geschäftsaktivitäten von Banken, zur Sicherung der Eigenkapitaldecke und zur Korrektur von Managementproblemen. Die Finma solle bei Bedarf auch institutsspezifische Zusatzanforderungen zum Kapitalpolster stellen können, eine Bussenkompetenz bekommen und generell eine stärkere Kompetenz zur Durchsetzung verbindlicher Aufsichtsmassnahmen erhalten.

Sukkurs für Paket des Bundesrats

Der Bundesrat und die Finma können die Einschätzungen der IWF-Prüfer als deutliche Kritik empfinden oder auch sehr positiv lesen – als Sukkurs für die Regierungsvorschläge zur künftigen Bankenregulierung. Das von der Regierung vorgeschlagene Massnahmenpaket entspreche im Grossen und Ganzen den IWF-Empfehlungen, schreiben die IWF-Experten. Das gilt auch für die hierzulande besonders stark umstrittenen Vorschläge zu den Eigenkapitalvorgaben für die UBS, wie es im Gespräch auf Nachfrage hiess. Das Massnahmenpaket des Bundesrats stärkt laut dem IWF den Finanzsektor und reduziert damit das Risiko für den Staat, die Steuerzahler und die Wirtschaft.

In gewissen Punkten will der IWF noch weiter gehen als der Bundesrat. So empfehlen die Prüfer unter anderem einen Ausbau der Einlagensicherung. Zudem sollen die zurzeit «nur» für die vier systemrelevanten Banken geltenden Vorgaben zu einer speziellen Krisenplanung einschliesslich eines Liquidationsszenarios auch für weniger grosse Banken gelten.

Der IWF meint damit Banken und Versicherungen der Kategorie 3. Die Finma hat die beaufsichtigten Banken je nach Grösse in fünf Kategorien eingeteilt. Die Institute der Kategorien 1 (UBS) und 2 (Raiffeisen-Gruppe, Zürcher Kantonalbank, Postfinance) gelten offiziell als systemrelevant. Zur Kategorie 3 gehörten 2024 total 27 Banken. Eines der genannten Kriterien für diese Gruppe ist eine Bilanzsumme zwischen 17 und 115 Milliarden Franken. Dazu gehören um Beispiel Institute wie Julius Bär, Valiant, Vontobel und diverse Kantonalbanken.

Soll die Schweiz damit die Definition von «systemrelevanten Banken» stark ausdehnen? Nein, sagen die IWF-Prüfer im Gespräch; aber es könne sein, dass Banken, die im Voraus nicht als systemrelevant gälten, in einer Krise von den Entscheidungsträgern plötzlich als systemrelevant eingestuft würden – weshalb es auch für solche Institute zusätzliche Anforderungen brauche. Ein jüngeres Beispiel aus den USA war die Krise von einigen regionalen Banken, die im Vorfeld nicht als systemrelevant eingestuft waren, aber in der Hitze des Gefechts die Behörden trotzdem zu Interventionen inspirierten.

Die Unterscheidung zwischen systemrelevant im Voraus und systemrelevant erst in einer Krise erscheint merkwürdig. Die Beurteilung der Systemrelevanz beruht von Anfang an auf der Einschätzung eines künftigen Krisenszenarios. Hier zeigt sich ein klassisches Problem der Zeitinkonsistenz: Die Behörden wollen im Voraus Diskussionen um eine Staatsgarantie auf wenige Institute beschränken (die offiziell systemrelevanten Banken), doch in einer Krise will die Feuerwehr breitere Löschmöglichkeiten haben.

Generell bezeichnet der IWF die systemischen Finanzmarktrisiken in der Schweiz als «hoch» – wegen der starken Exponierung vieler Akteure mit Krediten im Immobiliensektor. Die IWF-Prüfer orten in der Schweiz eine «Überbewertung» der Hauspreise und eine «Lockerung» der Standards bei der Vergabe von Hypotheken. Die Prüfer empfehlen strengere Regeln zur Kreditvergabe, einschliesslich Eigenmittelvorgaben für die kreditgebenden Institute.

SNB-Interventionen nötig?

Ein ausführlicher IWF-Bericht zur Schweiz ist für diesen Herbst zu erwarten. Nebst der Finanzmarktregulierung beurteilten die IWF-Prüfer auch die Geld- und Finanzpolitik des Landes. Die jüngste Zinssenkung der Nationalbank von 0,25 auf 0 Prozent erachten die Prüfer als «angemessen». Den Schweizerfranken bezeichnen die Experten im Gespräch als derzeit etwa fair bewertet.

Unter besonderer Beobachtung steht die Schweizer Geldpolitik vor allem in den USA aufgrund von gelegentlichen Devisenmarktinterventionen. Mit dem erneuten Erreichen des Nullzinsniveaus mag sich bei Deflationsdruck die Güterabwägung zwischen einer weiteren Zinssenkung und Fremdwährungskäufen verändern. Negativzinsen könnten laut dem IWF die Risiken im Finanzsektor ausdehnen – wegen tieferer Margen und möglicherweise ausgebauter Exponierung im Immobiliensektor.

Bei grossen Fluchtbewegungen von Kapital in den Schweizerfranken könne eine Intervention am Währungsmarkt «nötig» werden, schreibt der IWF. Doch solches sei mit «Vorsicht» zu erwägen, auch angesichts des bereits grossen Fremdwährungsbestandes in der Bilanz der Nationalbank. Mit dieser Mahnung dürfte die Notenbank gut leben können.

EUROPÄISCHE UNION

Neue EU-Regeln fordern Transparenz von KI-Anbietern – APA, 2.8.2025

ChatGPT, Gemini und andere Anbieter von KI-Modellen müssen sich seit dem heutigen Samstag an neue EU-Regeln halten. Dann gelten spezifische Transparenzpflichten für KI-Modelle mit allgemeinem Verwendungszweck („General-Purpose AI“) – also Systeme, die vielseitig einsetzbar sind und etwa Texte schreiben, Sprache analysieren oder programmieren können.

Die Betreiber müssen künftig etwa offenlegen, wie ihre Systeme funktionieren und mit welchen Daten sie trainiert wurden. Besonders leistungsstarke Modelle, die potenziell auch eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen könnten, sollen zudem Sicherheitsvorkehrungen protokollieren müssen. Grundlage der neuen Vorgaben ist das EU-KI-Gesetz („AI Act“), das im Mai 2024 beschlossen wurde.

Durch die neuen Regeln soll unter anderem das Urheberrecht gestärkt werden. Die Entwickler müssen nun etwa berichten, welche Quellen sie für ihre Trainingsdaten genutzt und ob sie Internetseiten automatisch ausgelesen haben. Zudem sollen sie angeben, welche Maßnahmen zum Schutz von Urheberrechten ergriffen wurden. Für Rechteinhaber soll es nach den Vorgaben der EU eine Kontaktstelle bei den Unternehmen geben.

Mehrere nationale und internationale Bündnisse von Autoren, Künstlern und Verlegern beklagen in einer gemeinsamen Mitteilung, dass die Gesetzgebung geistiges Eigentum nicht genug schütze. Aus Sicht der Initiative Urheberrecht blieben die Maßnahmen wirkungslos, da etwa eine Verpflichtung zur Nennung konkreter Datensätze, Domains oder Quellen fehle.

Private Klägerinnen und Kläger können auf Grundlage des KI-Gesetzes gegen Anbieter klagen. Das neue Europäische Amt für Künstliche Intelligenz setzt die Regeln allerdings erst später durch: Das EU-KI-Amt kontrolliert neue Modelle ab August 2026. Modelle, die vor dem 2. August 2025 auf den Markt kamen, kontrolliert es ab August 2027. Bei Verstößen drohen dann Geldstrafen von bis zu 15 Millionen Euro oder drei Prozent des gesamten weltweiten Jahresumsatzes.

KOMMENTARE – ANALYSEN – HINTERGRÜNDE

ANALYSE – Europa steuert auf eine Spirale aus hohen Schulden und steigenden Zinsen zu – Malte Fischer (Düsseldorf), NZZ, 21.7.2025

Die wachsenden Verteidigungsausgaben, die Alterung der Bevölkerung und die zunehmenden Zinskosten treiben die Staatsschulden in Europa in die Höhe. Das hat weitreichende Folgen – auch für die EZB.

Wenn Bundeskanzler Friedrich Merz am Mittwoch dieser Woche den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron in Berlin empfängt, dürfte die Atmosphäre zwischen den beiden freundschaftlich und locker sein. Ganz anders jedenfalls als zwischen Macron und Olaf Scholz, dem Amtsvorgänger von Merz. Während Scholz die Beziehungen zu den Nachbarn in Europa schleifen liess, bemüht sich Merz um ein entspanntes Verhältnis. Allein schon, um die Reihen Europas gegenüber Russland zu schliessen.

Bei Macron rennt der deutsche Kanzler mit seinem proeuropäischen Kurs offene Türen ein. Denn der Franzose plädiert seit langem für mehr Europa. Doch es ist nicht nur der Blick auf das geopolitische Geschehen, der Frankreich und Deutschland in diesen Wochen verbindet. Paris und Berlin eint noch etwas anderes: das Problem rasant steigender Staatsschulden.

In beiden Ländern legen die Ausgaben im Staatshaushalt schneller zu als die Einnahmen. In Frankreich ist das Problem chronisch. Den letzten ausgeglichenen Haushalt gab es in der Grande Nation vor mehr als 50 Jahren. Die Zinsen für die aufgelaufenen Schulden absorbieren mittlerweile knapp 2 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung.

In Deutschland wirtschafteten die Finanzminister sparsamer, zwischen 2014 und 2019 gab es Jahr für Jahr sogar Überschüsse in den Haushalten von Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen. Daher muss Deutschland zurzeit nur 0,9 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für die Zinsen auf Staatsschulden aufwenden. Doch das dürfte sich bald ändern. Denn seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie befinden sich die öffentlichen Haushalte auch in Deutschland in den roten Zahlen.

Deutschland wird zum Land mit hohen Defiziten

In Frankreich, dessen Schulden in diesem Jahr auf mehr als 116 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) klettern dürften, versucht die Regierung, die Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben durch Sparmassnahmen etwas zu verkleinern. Die Defizitquote soll von 5,4 Prozent in diesem auf 4,6 Prozent im nächsten Jahr sinken.

Ob das gelingt, ist fraglich. Zum einen reichen die Sparmassnahmen nicht aus, um das Defizit nennenswert zu drücken. Zum anderen hat die französische Regierung keine eigene Mehrheit im Parlament. Daher ist sie auf die Zustimmung von Parteien am rechten oder linken Rand angewiesen. Diese haben angekündigt, das Sparpaket, das Nullrunden für Rentner und Beamte sowie die Streichung von Feiertagen enthält, abzulehnen.

Während Frankreich zumindest versucht, seine Staatsschulden in den Griff zu bekommen, treibt die Regierung in Berlin diese mit Verve in die Höhe. In der vergangenen Woche nahm das milliardenschwere Schuldenpaket, das die deutsche Regierung für die Sanierung der maroden Infrastruktur und die Aufstockung der Verteidigungsausgaben auf den Weg gebracht hat, die letzte Hürde. Die EU-Kommission erteilte dem Paket ihren Segen, obwohl sie die Fiskalregeln des Stabilitätspaktes dafür grosszügig dehnen musste.

Die Ökonomen der Commerzbank rechnen damit, dass das gesamtstaatliche Defizit in Deutschland in diesem Jahr auf rund 4 Prozent des BIP in die Höhe schnellt. Damit nimmt das Land im Verhältnis zu seiner Wirtschaftsleistung mehr neue Kredite auf als die hochverschuldeten Länder Italien und Spanien, deren Haushaltsdefizite in diesem Jahr zwischen 3,0 und 3,5 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung liegen dürften.

Verteidigung auf Kredit

In den nächsten Jahren werden die Schulden der öffentlichen Haushalte in Europa weiter steigen. Das hat mehrere Gründe und weitreichende Folgen.

Spätestens nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine und allerspätestens nach dem Amtsantritt von Donald Trump in den USA ist den Regierungen auf dem alten Kontinent klar, dass sie mehr in die eigene Verteidigung investieren müssen. 3,5 Prozent ihrer nationalen Wirtschaftsleistung wollen sie demnächst pro Jahr für das Militär ausgeben.

Dazu kommen 1,5 Prozent des BIP für militärisch nutzbare Infrastruktur. Für Deutschland heisst dies, dass künftig 30 Prozent des Bundeshaushalts in die Verteidigung fliessen. Rechnet man die Ausgaben für die militärisch nutzbare Infrastruktur hinzu, sind es sogar fast 44 Prozent.

Die meisten Länder können oder wollen solche Kraftanstrengungen nicht aus dem regulären Staatshaushalt finanzieren. Daher greifen sie auf Kredite zurück. So hat sich die deutsche Regierung mit der Änderung des Grundgesetzes die Möglichkeit verschafft, Ausgaben für Verteidigung, die über ein Prozent des BIP hinausgehen, durch neue Schulden zu finanzieren.

Ausgaben-Tsunami durch Demografie

Ein weiterer Treibsatz für die Schulden ist die Demografie. Die Anzahl der Einwohner im erwerbsfähigen Alter wird in den nächsten Jahren in Europa deutlich schrumpfen. Am stärksten wird das Deutschland zu spüren bekommen. Nach einer Projektion von Eurostat wird das Arbeitskräfteangebot in den nächsten zehn Jahren zwischen 0,7 und 0,8 Prozent pro Jahr schrumpfen. In Italien werden Arbeitskräfte ebenfalls knapper, ihre Verfügbarkeit wird sich bis 2035 um 0,4 bis 0,7 Prozent jährlich verringern. Etwas günstiger sieht es für Spanien und Frankreich aus, doch auch dort wird die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter schrumpfen.

Weil die Älteren immer länger leben, steuern die sozialen Sicherungssysteme in den nächsten Jahren auf einen Ausgaben-Tsunami zu. Ohne Zuschüsse aus den Staatshaushalten drohen sie zu kollabieren.

Aber auch bei den öffentlichen Haushalten wird der demografische Druck steigen. Denn wenn es weniger Erwerbstätige gibt, dann gibt es auch weniger Wachstum. Und weniger Wachstum bedeutet weniger Steuereinnahmen. Zumal kein Produktivitätsschub in Sicht ist, der der Verknappung der Arbeitskräfte entgegenwirkt.

Teufelskreis aus hohen Zinsen und Schulden

Greifen die Regierungen weiter in die Kreditschatulle, droht ein Teufelskreis aus steigenden Zinsen und wachsenden Schuldenbergen. Noch profitieren die Staaten von den niedrigen Finanzierungskosten, die sie sich in den Jahren mit Null- und Negativzinsen durch die Ausgabe länger laufender Anleihen gesichert haben. Doch wenn die Billigkredite in den nächsten Jahren auslaufen, müssen die Regierungen sie durch neue Kredite zu höheren Zinsen ablösen.

In Deutschland liegen die Finanzierungskosten der Regierung nach Berechnungen der Commerzbank derzeit bei knapp 1,5 Prozent. Bis zum Jahr 2035 werden sie sich auf 2,7 Prozent nahezu verdoppeln. Die Finanzierungskosten für Frankreich dürften in dieser Zeit von unter 2 Prozent auf 3,7 Prozent zulegen, die für Italien von rund 3 auf 4,4 Prozent.

Steigen die effektiven Zinskosten der Staaten über die Wachstumsrate des nominalen BIP, setzt dies eine Aufwärtsdynamik bei der Schuldenquote in Gang, die nur durch hohe Überschüsse im Primärhaushalt (ohne Zinsausgaben) gestoppt werden kann. Derartige Überschüsse sind jedoch nicht in Sicht. Den Regierungen fehlt es am Willen und an der Kraft für einen radikalen Sparkurs.

Steigende Risikoprämien

Die Schulden dürften daher rasant steigen. Die Ökonomen der Commerzbank rechnen für Deutschland mit einem Anstieg der Schuldenquote von rund 62 Prozent im vergangenen Jahr auf über 92 Prozent im Jahr 2035. In Frankreich wird die Quote von 113 auf knapp 146 Prozent steigen, in Italien von 135 Prozent auf 153 Prozent und in Spanien von 101 Prozent auf 110 Prozent.

COMMENT: Nicht die Schuldsummen werden genannt, sondern ihr Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt; das ist sinnvoll; denn: in den Schuldsummen und dem Bruttoinlandsprodukten steckt der Kaufkraftverlust – als Erhöhung der entsprechenden nominalen Werte. Die Diskussion wird mit Blick auf Vermögenszuwächse genau anders geführt: die nominalen Zuwächse werden erwähnt, nicht die realen unter Einrechnung der Geldentwertung (Kaufkraftverlust).

Das wird nicht ohne Reaktion der Finanzmärkte bleiben. Steigen die von den Investoren geforderten Risikoprämien in den Zinsen, beschleunigt sich die Zins-Schulden-Spirale. Dann dürfte es nicht lange dauern, bis die Europäische Zentralbank (EZB) unter Druck gerät, die Finanzierungskosten der Regierungen durch Zinssenkungen und Anleihekäufe zu drücken.

Der alte Kontinent gelangte wieder an jenen Punkt, an dem er vor mehr als 10 Jahren in der Euro-Krise schon einmal stand. Damals mutierte die EZB zum Büttel der Regierungen, kaufte deren Staatsanleihen und pumpte massenhaft Liquidität ins Bankensystem. In der Corona-Pandemie liess die Zentralbank die Käufe eskalieren und löste dadurch eine Inflationswelle aus.

COMMENT: Das ist so nicht richtig, die Inflation kam über die teuren Gaspreise bzw. Energiepreise nach Europa – eine Frucht der überaus klugen Sanktionspolitik gegenüber Russland. Die Erhöhung der umlaufenden Geldmenge tat dazu ein Übriges.

Finanzielle Repression durch Kapitalverkehrskontrollen

Der Mix aus expansiver Finanz- und Geldpolitik droht sich in den nächsten Jahren zu wiederholen. Zieht die Inflation an, könnten Regierungen und Zentralbanken versucht sein, den höheren Renditeforderungen der Anleger mit dem Mittel der finanziellen Repression zu begegnen. So wie in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg.

Damals wiesen die Regierungen die Zentralbanken an, die Zinsen nach unten zu drücken, legten Obergrenzen für die Verzinsung von Spareinlagen fest, verpflichteten institutionelle Anleger zum Kauf von Staatsanleihen und verhängten Kapitalverkehrskontrollen, um Investoren die Flucht ins Ausland zu erschweren.

Was wie ein Doomsday-Szenario anmutet, könnte schneller Realität werden als gedacht. Für die Bürger und Sparer sind das keine guten Aussichten. Doch solange die Regierungen nicht den Mut aufbringen, das Ruder in der Finanzpolitik herumzureissen, tun die Bürger gut daran, sich auf ein neuerliches Zeitalter der finanziellen Repression einzustellen. Darüber können auch telegen in Szene gesetzte Freundschaftstreffen der Staats- und Regierungschefs nicht hinwegtäuschen.

HINTERGRUND – Kein Land des ehemaligen Ostblocks hat sich schneller entwickelt als Polen. Bald überholt es Japan – Volker Pabst (Poznan), NZZ, 29.7.2025

Polen hat stark von der Integration in die Europäische Union profitiert. Doch wie hat es das angestellt? Ein Besuch in Poznan, der wirtschaftlichen Boom-Region des Landes.

Das Umland von Poznan wirkt wie ein einziger Gewerbepark. Egal, in welcher Himmelsrichtung man aus dem Zentrum der westpolnischen Metropole ins Umland fährt: Industrieanlagen, Lagerhallen und Bürogebäude säumen kilometerlang die Ausfallstrassen der Stadt. Im Wachstumsland Polen ist Poznan (Posen) eine der grossen Boom-Regionen.

Auf vier Einwohner kommt eine Firma

Hier verbergen sich einige Hidden Champions – Orte, deren Name nur wenigen bekannt ist, die aber über einen eindrücklichen Leistungsausweis verfügen. Tarnowo Podgorne etwa ist ein solcher Ort. Die 20 Kilometer nordwestlich gelegene Gemeinde, die zu preussischer Zeit Schlehen hiess, hat 33 000 Einwohner und 7557 Betriebe. Auf vier Einwohner kommt also eine Firma.

Dazu zählen zwar, wie überall in Polen, viele Kleinstunternehmen, die oftmals nur aus steuerlichen Gründen ins Leben gerufen werden oder ein Konstrukt für Scheinselbständigkeit sind. Aber auch eine beträchtliche Zahl von KMU und mehrere Grossfirmen wie die polnischen Niederlassungen des britischen Tabakkonzerns Imperial Tobacco oder des deutschen Lebensmitteldiscounters Lidl sind hier ansässig. Letzterer ist der wichtigste Steuerzahler im Ort.

Insgesamt wird Tarnowo Podgorne in diesem Jahr voraussichtlich mehr als 400 Millionen Zloty, knapp 90 Millionen Franken, an Steuern einnehmen. In Polen, wo nur 5 Prozent der Firmensteuern an die Standortgemeinde fliessen, eine erkleckliche Summe.

Den Preis für das lieblichste Ortsbild Polens wird die stark von Industrie und Gewerbe geprägte Gemeinde vermutlich nie gewinnen. Den Wohlstand sieht man Tarnowo Podgorne aber durchaus aus. Die Gemeinde leistet sich mit dem «Zentrum für Demokratie und Integration der Bevölkerung» eine sehr grosse, sehr moderne Mehrzweckhalle, die auch architektonische Akzente setzt. Die Strassen sind in einwandfreiem Zustand. Am Ortsrand steht eine neue Sekundarschule mit technischem Fokus. Die vor zehn Jahren eröffnete Therme gegenüber ist die grösste des Landkreises.

Investitionen in die Standortqualität

Tadeusz Czajka hat den Wandel seines Heimatortes vom landwirtschaftlich geprägten Dorf mit sozialistischen Produktionsgenossenschaften zum boomenden Wirtschaftsstandort miterlebt. Seit 31 Jahren arbeitet Czajka für die Gemeinde Tarnowo Podgorne, die letzten zwei Jahrzehnte davon als Bürgermeister.

«Wir hatten schon früh einen Entwicklungsplan für unsere Gemeinde», sagt Czajka in seinem Büro im Rathaus. So sei man bereit gewesen, als die ersten internationalen Firmen in den neunziger Jahren in die Region gekommen seien. «Zuerst kam ein israelischer Kaffeeröster, dann ein deutscher Schokoladenhersteller. Danach sprach sich herum, dass es hier gut ist.»

Bis heute bemüht sich Tarnowo Podgorne, Firmen anzulocken. Für die ersten drei Jahre gibt es für neue Firmen im Ort Steuererleichterungen. Die besten Unternehmen werden jedes Jahr an einer Gala geehrt. Bei der Gestaltung des Lehrplans für die neue Sekundarschule wurde das lokale Gewerbe mit einbezogen, damit die Absolventen auch über die geforderten Qualifikationen verfügen.

Und natürlich sei die Lage ein Vorteil, sagt Czajka. In der Nähe der Grossstadt gibt es viele gut ausgebildete Arbeitskräfte. Und über die Autobahn ist man in weniger als zwei Stunden an der deutschen Grenze.

Bildung und Unternehmertum

Was sich in Tarnowo Podgorne im Kleinen betrachten lässt, gilt in vieler Hinsicht für das Land als Ganzes. «Kein ehemals sozialistischer Staat hat die Transformation so gut gemeistert wie Polen», erklärt Marcin Piatkowski. Der Wirtschaftsprofessor an der privaten Kozminski-Universität in Warschau forscht zur wirtschaftlichen Entwicklung Polens nach dem Systemwechsel und hat ein Buch über «Europas Wachstums-Champion» geschrieben.

«Polens Wirtschaftsleistung ist dreieinhalbmal so hoch wie vor 35 Jahren», sagt Piatkowski. Laut dem Internationalen Währungsfonds werde das Land bis Ende des Jahres beim kaufkraftbereinigten Pro-Kopf-Einkommen Japan überflügeln. «Das ist eine unglaubliche Erfolgsgeschichte.»

Piatkowski nennt fünf Faktoren, die den erfolgreichen Strukturwandel begünstigt haben. Nach dem Anfangsbuchstaben der englischen Begriffe spricht er von seiner «Theorie der fünf E»: Neben der guten Ausbildung (education) der Bevölkerung und der soliden Wirtschaftspolitik (elites) betont der Ökonom das Unternehmertum (enterpreneurship), das auch in sozialistischer Zeit fortbestand. Immerhin 20 Prozent der Wirtschaftsleistung wurden damals durch den Privatsektor erbracht.

Zudem betont Piatkowski die egalitäre Gesellschaft nach der Zäsur von 1989, welche die alten Eliten entmachtete und soziale Mobilität ermöglichte, und den Einfluss der EU. Dabei seien die institutionellen Reformen vor dem Beitritt jedoch wichtiger gewesen als die Gelder aus dem EU-Haushalt danach.

Boom-Region Poznan

Obwohl ganz Polen als Erfolgsmodell gilt, ist die Entwicklung nicht überall gleich eindrucksvoll vonstattengegangen. «Die 350 Milliarden an ausländischen Direktinvestitionen seit 1990 wurden mehrheitlich in Regionen westlich von Warschau getätigt. Die Absorptionsfähigkeit ist dort einfach grösser», sagt der Wirtschaftsprofessor Piatkowski.

Die Nähe zu den grossen Märkten, vor allem zu Deutschland, sei ein Grund. Das höhere Ausbildungsniveau der Bevölkerung ein anderer. Der Westen Polens liegt traditionell in allen Entwicklungsindikatoren weit vor den östlichen Gebieten des Landes.

Besonders stark profitiert hat die Region um Poznan. Der Erfolg Tarnowo Podgornes ist dort kein Einzelfall. Suchy Las, ein anderer Vorort der westpolnischen Metropole, schnitt im Vorjahr auf der Rangliste der wirtschaftlich erfolgreichsten Gemeinden Polens sogar noch besser ab. Auch in Swarzedz im Osten haben sich zahlreiche Grossbetriebe angesiedelt.

Erfolgreiche Integration in globale Märkte

Wegen des grossen VW-Werks, das bereits in den neunziger Jahren in Poznan gegründet wurde, spielt die Zuliefererbranche für die Autoindustrie eine grosse Rolle. Zu einem Klumpenrisiko wie etwa in Tschechien, wo man das Formtief der deutschen Autohersteller direkt spürt, wurde diese aber nie.

Die Wirtschaftsstruktur ist durchmischt. Neben dem produzierenden Gewerbe gehört hierzu auch die Logistikbranche, die nicht zuletzt wegen des Online-Handels boomt. Die erfolgreiche Integration in globale Wertschöpfungsketten und Märkte, vor allem in Deutschland, ist für alle Sektoren zentral.

In Robakowo südöstlich der Stadt hat der deutsche Konzern DHL vor einem Jahr auf der grünen Wiese, aber unweit der Autobahn Berlin–Warschau, das modernste Logistikzentrum des Landes eröffnet. «Viele Menschen, die in Deutschland online etwas bestellen, würden nicht erwarten, dass ihr Paket oftmals aus Polen kommt», sagt der Standortleiter Piotr Mierzwicki. «Die Hersteller produzieren hier und haben hier auch ihre Lagerhallen. Und wir sorgen dafür, dass die Ware am nächsten Tag beim Kunden ist.»

Das Geschäft läuft gut laut Mierzwicki. Am bisher umsatzstärksten Tag seit Eröffnung des Werks, kurz nach dem «Black Friday», hätten seine Mitarbeiter 682 000 Pakete verarbeitet. Und es sollen noch mehr werden. Mierzwicki kalkuliert für sein Zentrum mit einem Wachstum von 20 Prozent pro Jahr.

Die Region Poznan zeigt eindrücklich, wie stark Polen von der Integration in Europa profitiert hat. Abschottungstendenzen, wie sie im Rahmen der immer hitziger geführten polnischen Migrationsdebatte zutage treten, werden hier deshalb auch mit besonderer Sorge betrachtet.

«30 Prozent aller polnischen Exporte gehen nach Deutschland. Bei unseren Firmen liegt der Wert wahrscheinlich sogar bei 50 Prozent», sagt Tadeusz Czajka, der Bürgermeister von Tarnowo Podgorne. Polen führt seit kurzem wieder Kontrollen an der Grenze zu Deutschland durch. Auf deutscher Seite gibt es bereits seit zwei Monaten Grenzkontrollen. «Staus kosten Geld», sagt Czajka.

Demografische Probleme

Der Wirtschaftsprofessor Piatkowski fasst das Problem weiter. «Migration ist zum Unwort geworden», sagt der Ökonom. Eine unvoreingenommene Diskussion über die demografischen Herausforderungen in Polen sei zurzeit fast nicht möglich. Dabei sei dies dringend nötig.

Tatsächlich ist die Bevölkerung in absoluten Zahlen im vergangenen Jahr in keinem EU-Land stärker zurückgegangen als in Polen. Die Geburtenrate gehört zu den tiefsten des Kontinents. Die Überalterung der Gesellschaft schreitet in Polen besonders schnell voran. Das spürt auch die Wirtschaft. In Boom-Regionen wie Poznan gehört der Arbeitskräftemangel zu den grössten Sorgen der Unternehmer.

«Schon jetzt bringen unsere Firmenbusse Angestellte aus einer Entfernung von bis zu 70 Kilometern in den Betrieb», sagt der DHL-Manager Mierzwicki. Bei einer Arbeitslosenquote von 1 bis 2 Prozent kann man im Grossraum Poznan von Vollbeschäftigung sprechen.

«Polen muss offenes Land bleiben»

Das Auswandererland Polen ist somit zunehmend auf Einwanderung angewiesen. Tatsächlich sind im vergangenen Jahr erstmals mehr Menschen aus Deutschland nach Polen gezogen als in die andere Richtung. Viele Polinnen und Polen, die einst auf der Suche nach besseren Verdienstmöglichkeiten ins Ausland gegangen sind, kehren nun in die alte Heimat zurück.

Die grösste Ausländergruppe im Land stellen die Ukrainerinnen und Ukrainer. Dieses Potenzial an zusätzlichen Arbeitskräften ist jedoch bereits fast ausgeschöpft, trotz dem Zustrom von allein einer Million Flüchtlingen seit Kriegsbeginn. 80 Prozent der Ukrainer in Polen arbeiten, ein Spitzenwert in Europa.

An einer gesteuerten Zuwanderung auch aus anderen Staaten führe kein Weg vorbei, sagt der Ökonom Piatkowski. «Polen muss ein offenes Land bleiben. Sonst gefährden wir unseren Erfolg.»

HINTERGRUND – Ein Land als europäische Erfolgsgeschichte: Polen ist erfrischend selbstbewusst – Dominik Feldges, NZZ, 9.9.2024

Der Wirtschaftsaufschwung in Polen lässt zunehmend breitere Bevölkerungsschichten reicher werden. Der einst arme Nachbar Deutschlands macht vieles richtig.

Noch steigen eher Passagiere aus Polen in Zürich um, als Schweizer Flugreisende Warschau für einen Transfer nutzen. Aber die beiden jungen Schweizerinnen auf dem Swiss-Flug von Zürich nach Warschau sind auf dem Weg nach Seoul. Die Verbindung via Polen sei die günstigste gewesen, sagen sie.

Neuer Grossflughafen für Warschau

Die Zahl von Umsteigepassagieren ist in Warschau mit gutem Grund noch nicht gross. Für mehr ist der nach Frédéric Chopin benannte Flughafen der polnischen Hauptstadt zu klein.

Doch in Polen rechnet man mit einem baldigen Boom in der Luftfahrt. Ab 2032 soll an einem komplett neuen Grossflughafen in Baranow, 42 Kilometer südwestlich von Warschau, der Betrieb starten. Das Vorhaben beweist das neue Selbstbewusstsein Polens. Das Land traut sich offenkundig grosse Würfe zu.

Ende Juni kündigte der – aus den Reihen der Liberalkonservativen stammende – Ministerpräsident Donald Tusk an, das Projekt nun doch weiterzuverfolgen, das die Vorgängerregierung der nationalkonservativen Partei PiS initiiert hatte. An einer Medienkonferenz schwärmten Tusk und seine Mitstreiter davon, dass Polen «Europas modernsten Flughafen» bekommen werde.

Noch ist völlig offen, ob es Polen gelingen wird, das Mammutprojekt innerhalb des neu kalkulierten Budgets von umgerechnet knapp 29 Milliarden Franken und vor allem termingerecht zu vollenden. Die jahrelangen Verzögerungen beim Bau des nur rund fünfhundert Kilometer entfernten Flughafens Berlin Brandenburg sind ein mahnendes Beispiel dafür, was bei der Realisierung komplexer Infrastrukturprojekte alles schieflaufen kann. Gleichzeitig ist es Polen, wo die Fähigkeit zur Improvisation auf allen gesellschaftlichen Ebenen gepflegt wird, zuzutrauen, nicht in denselben Schlendrian wie im bürokratischen Deutschland zu verfallen.

Selbstvertrauen im Strassenbau getankt

Bei der Umsetzung dürfte das Land von der grossen Erfahrung profitieren, die es in den vergangenen Jahren bei anderen bedeutenden Infrastrukturvorhaben gesammelt hat. So wurde bereits das Strassen- und Eisenbahnnetz stark modernisiert, wobei die Finanzierung massgeblich Gelder aus EU-Töpfen ermöglichten.

In einem Land, in dem sich bis vor wenigen Jahren der Transitverkehr auf der Strasse noch weitgehend über Landstrassen sowie mitten durch Dörfer und Städte quälte, gibt es nun ein hochmodernes Autobahnnetz, dessen Lücken laufend kleiner werden. Auch bei der Erneuerung des Schienennetzes ist viel passiert. Polnische Intercity-Züge verkehren – ganz anders als in Deutschland – in der Regel pünktlich, und sie sind gepflegt.

Für die Wirtschaft Polens ist die Verbesserung der Transportinfrastruktur ein Segen. Angelockt vorab von der polnischen EU-Mitgliedschaft, der zentralen Lage sowie gut qualifizierten Arbeitnehmern, haben sich viele ausländische Konzerne im Land niedergelassen. Ihre neuen, meist hoch automatisierten Fabriken sind darauf angewiesen, dass Produkte rasch per Lastwagen, Bahn oder auf dem Luft- und Seeweg zu Abnehmern in aller Welt befördert werden.

Hungrige polnische Unternehmer

Während sich Deutschland deindustrialisiert, passiert beim einst armen Nachbarn das Gegenteil. Nicht nur internationale Multis wie Mercedes-Benz, ABB, Intel oder Nestlé haben Polen als wichtigen Standort für die Fertigung sowie zunehmend auch für die Erbringung von Dienstleistungen vorab im IT-Bereich auserkoren. In den vergangenen Jahren sind auch einheimische Unternehmer als Investoren verstärkt aktiv geworden. In der Regel handelt es sich um Zulieferer, die sich erfolgreich in einer Nische eine führende Position erarbeitet haben und grosse Konzerne aus dem Ausland zu ihren Kunden zählen.

Damit wiederholt sich in Polen etwas, was sich in westeuropäischen Ländern wie der Schweiz und Deutschland im grossen Stil bereits während der Hochkonjunktur der 1960er und 1970er Jahre abspielte: der Aufstieg mittelständischer Unternehmen, die umfangreiche Investitionen im eigenen Land tätigen.

Bei den meisten Firmen steht noch immer die erste oder höchstens die zweite Generation in der Verantwortung. Es sind hungrige Persönlichkeiten, die Grosses schaffen wollen.

Sichtbarer Ausdruck davon sind nicht nur unzählige neue Fabrikations- und Bürogebäude. Die ambitionierten einheimischen Unternehmer lassen auch schicke Verkaufsräume einrichten, um ihre Produkte der Kundschaft im besten Licht präsentieren zu können. Und viele leisten sich luxuriöse Eigenheime sowie gerne auch Extravagantes wie Kunstwerke, Oldtimer oder gar Privatjets. Ihre Konsumfreudigkeit ermöglicht zahlreichen Geschäften ein Auskommen.

Hohe Lohnerhöhungen steigern Kaufkraft

Anders als in Teilen Deutschlands, in Frankreich oder in Grossbritannien konzentriert sich der Wohlstand in Polen nicht nur auf einige wenige Metropolregionen. Der anhaltende Boom der polnischen Wirtschaft zeichnet sich dadurch aus, dass er zunehmend in die Breite geht. Er erfasst neben den Ballungsräumen auch weite Teile des ländlichen Raums. Von der depressiven Stimmung, wie sie in manchen Regionen Westeuropas herrscht, ist in Polen wenig zu spüren.

Vielmehr dominiert in wachsenden Teilen der Bevölkerung der Eindruck, dass es materiell für jeden Einzelnen aufwärtsgehe. Grosszügige Lohnerhöhungen, die angesichts grosser Knappheiten am Arbeitsmarkt jüngst zweistellige Raten erreicht haben, sorgen dafür, dass die Kaufkraft der Angestellten rasch zunimmt.

Die Aufholjagd polnischer Arbeitnehmer schlägt sich auch in internationalen Vergleichen eindrücklich nieder. So kam eine Auswertung der EU-Statistikbehörde vor einem Jahr zu dem Schluss, dass die kaufkraftbereinigte Konsumkraft der polnischen Bevölkerung auf 86 Prozent des europäischen Durchschnitts gestiegen sei und damit neu vor dem Niveau Spaniens (85 Prozent) und nur noch knapp hinter jenem Irlands (87 Prozent) liege.

Zu wohlhabend für Jobs als Erntehelfer in Deutschland

Nach wie vor deutlich mehr können sich die Einwohner der Spitzenreiter innerhalb der EU, Luxemburg, Deutschland und Österreich, leisten. Doch die Wohlstandsunterschiede selbst zu Deutschland sind zu klein geworden, als dass sich Polinnen und Polen weiterhin in grosser Zahl als Erntehelfer, Lastwagenfahrer oder für Einsätze in der Altenpflege nach Westeuropa begäben. Und jene Polen, die trotz allem weiterhin emigrieren, sind heute eher Führungskräfte, die in Ländern wie Deutschland oder der Schweiz internationale Managementerfahrung sammeln wollen.

Je länger, desto mehr entwickelt sich Polen von einem Land der Emigration zu einem der Immigration. Dabei scheint es die amtierende wie schon die vormalige Regierung zu schaffen, weitgehend jene Leute anzulocken, die nicht nur die auf dem Arbeitsmarkt benötigten Fertigkeiten mitbringen, sondern die sich darüber hinaus auch in die Gesellschaft integrieren.

Weiterhin mit Abstand die grösste Gruppe unter den Immigranten bilden Ukrainer, viele von ihnen Kriegsflüchtlinge, vor Weissrussen. Angehörigen beider Nationen fällt es leicht, die polnische Sprache zu lernen. Die grosse Mehrheit von ihnen ist denn auch erwerbstätig. Aber auch Kasachen, Inder, Nepalesen und Filipinos arbeiten in wachsenden Gruppen in Polen. Bei ihnen wird sich allerdings erst noch zeigen müssen, ob beziehungsweise wie gut die Integration längerfristig gelingt.

Probleme bei der Geburtenentwicklung

Zugleich frönen viele junge Polen, verwöhnt vom steigenden Wohlstand, dem Individualismus und lassen sich Zeit mit der Familiengründung. Im vergangenen Jahr erreichte die Geburtenrate im Land nur noch 1,16 – einer der tiefsten Werte weltweit.

Um einem dramatischen Bevölkerungsschwund zu entgehen, wird Polen künftig noch viel mehr Einwanderer benötigen. Ob das Land dafür angesichts seiner meistenorts noch sehr homogenen, sprich grösstenteils einheimischen Bevölkerung bereit ist, muss sich weisen.

Zahlmeister Deutschland erhält einen Juniorpartner

Im Fall von Polen zeigt sich, dass die üppigen Transferleistungen der EU im Zuge der Osterweiterung grösstenteils gut investiertes Geld waren. Inzwischen ist das Land beim Aufbau seines Wohlstands derart vorangekommen, dass es in der Zeit des nächsten EU-Finanzrahmens, der sich von 2027 bis 2033 erstreckt, möglicherweise letztmals als Nettoempfänger von Transferleistungen figurieren wird. Die Regierung ist vor diesem Hintergrund gut beraten, sich bei der Umsetzung verbleibender grosser Infrastrukturprojekte wie dem Bau des neuen Warschauer Flughafens zu sputen.

Künftig wird Polen vieles selber finanzieren und darüber hinaus – als frisch gekürter Nettozahler – wohl auch noch Steuergelder an wirtschaftlich weniger erfolgreiche europäische Länder abführen müssen. Für viele Polinnen und Polen mag dies eine bittere Erkenntnis sein, aber wer reicher ist, muss zahlen. So funktioniert die Solidargemeinschaft der EU. Und Deutschland, das die vielen Infrastrukturinvestitionen in seinem Nachbarland massgeblich finanziert hat, kann sich darauf freuen, als Zahlmeister einen weiteren Juniorpartner zu erhalten.

DEUTSCHLAND – WAHLUMFRAGEN

UMFRAGEN

00:06Umfrage: Jeder Zweite für Austausch des Bahn-Vorstands1.457dts Nachrichtenagentur
SaUmfrage August 2025: Social Media erst ab 16 Jahren – bist du dafür?1Caschys Blog
SaAfD erreicht in Umfrage höchsten Wert seit Mai – Union und SPD unverändert2FOCUS
SaUmfrage: 78% der Händler wollen Shops wie Temu und Shein verbieten7WinFuture.de
SaAuswertung Umfrage Juli 2025: EU-Energielabel für mobile Endgeräte sorgt für gemische Reaktionen2Caschys Blog

Lars Klingbeil setzt den Rotstift an: «Jeder am Kabinettstisch muss sparen» – Malte Fischer (Düsseldorf), NZZ, 30.7.2025

Nicht nur im Haushalt der Bundesregierung, auch in den Kassen von Ländern und Gemeinden klaffen die Einnahmen und die Ausgaben weit auseinander. Das könnte gravierende politische Folgen haben.

Abstürzende Staatsfinanzen: Die deutschen Staatsfinanzen rutschen immer tiefer in die roten Zahlen.

Deshalb hat Bundesfinanzminister Lars Klingbeil seine Kabinettskollegen zu äusserster Sparsamkeit aufgefordert. Auch bei den Sozialversicherungen soll der Rotstift angesetzt werden.

Die Staatsfinanzen in Deutschland rutschen immer tiefer in die roten Zahlen. Das gilt nicht nur für den Haushalt der Bundesregierung, die die Schulden in den nächsten Jahren weiter hochfahren will. Auch in den Haushalten der Bundesländer und der Gemeinden übersteigen die Ausgaben die Einnahmen immer stärker.

Im Bundeshaushalt belief sich der Schuldenstand im vergangenen Jahr nach Angaben des Statistischen Bundesamtes auf 1732,7 Milliarden Euro. Das ist ein Plus von 35 Milliarden Euro beziehungsweise 2,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Umgerechnet auf die Bevölkerung beträgt die Schuldenlast 20 748 Euro pro Kopf.

In den nächsten Jahren werden die Aussenstände der Regierung kräftig zulegen. An diesem Mittwoch beschloss das Bundeskabinett den Haushaltsentwurf für 2026 sowie die Finanzplanung für die Jahre bis 2029. Demnach werden die Schulden bis 2029 um insgesamt 850 Milliarden Euro zulegen, das ist ein Plus von rund 50 Prozent gegenüber dem Stand von Ende 2024. Mit dem Geld will die Bundesregierung die Infrastruktur sanieren und die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr wiederherstellen.

Klingbeil fordert Sparsamkeit von Ministern

Bundesfinanzminister Lars Klingbeil wies nach dem Kabinettsbeschluss darauf hin, Deutschland benötige hohe Investitionen, um die Rückstände aufzuholen, die sich in den vergangenen Jahren aufgebaut hätten. In diesem und dem nächsten Jahr erreichten die Investitionen des Bundes daher neue Rekordstände von 115,7 beziehungsweise 126,7 Milliarden Euro, so Klingbeil.

Die trotz den Schulden nach wie vor im Bundeshaushalt klaffende Finanzierungslücke für die Jahre 2027 bis 2029 von 172 Milliarden Euro werde die Regierung nicht mit neuen Schulden schliessen, sagte er. Auch werde es kaum gelingen, diese allein durch mehr Steuereinnahmen als Folge eines höheren Wirtschaftswachstums zu beseitigen. Im zweiten Quartal dieses Jahres schrumpfte die Wirtschaftsleistung in Deutschland um 0,1 Prozent gegenüber dem Vorquartal. Der von der Regierung erhoffte Aufschwung ist nicht in Sicht.

Klingbeil forderte seine Kabinettskollegen daher zu äusserster Sparsamkeit auf. «Jede und jeder, der da am Kabinettstisch sitzt, wird sparen müssen», sagte er. Von den Sparbemühungen dürften auch die Sozialversicherungen nicht ausgenommen werden. Diese erhalten derzeit milliardenschwere Zuschüsse der Bundesregierung, damit sie ihre Beiträge nicht weiter anheben. Auch beim Bürgergeld kündigte Klingbeil Einsparungen an. Allerdings dürfe der Sozialstaat dabei nicht auf der Strecke bleiben, mahnte er. Um die Einnahmebasis zu verbessern, werde die Regierung härter gegen Schwarzarbeit und Geldwäsche vorgehen, kündigte Klingbeil an.

Prekäre Finanzlage der Kommunen

Auch in den Haushalten der Länder und Gemeinden wächst die Diskrepanz zwischen Einnahmen und Ausgaben. Im vergangenen Jahr stiegen die Schulden der Bundesländer nach Angaben des Statistischen Bundesamtes um 2,1 Prozent auf 607,3 Milliarden Euro. Umgerechnet auf die Bevölkerung war die Verschuldung in den Stadtstaaten Bremen, Berlin und Hamburg am höchsten. Pro Kopf lagen die Schulden dort zwischen knapp 34 000 Euro (Bremen) und rund 18 000 Euro (Berlin). Am geringsten fielen die Pro-Kopf-Schulden in Bayern und Sachsen aus, dort lagen sie jeweils unter 1500 Euro.

Prekär ist die finanzielle Lage in den Kommunen. Im vergangenen Jahr verbuchten sie mit rund 25 Milliarden Euro das grösste Defizit in der bundesdeutschen Geschichte, zeigt ein aktueller Report der Bertelsmann-Stiftung. Nachdem die Haushalte der Kommunen von 2015 bis 2022 Überschüsse erzielten, rutschten sie 2023 ins Defizit. Die Ausgaben überstiegen die Einnahmen um 6,8 Milliarden Euro. 2024 weitete sich das Defizit auf 24,8 Milliarden Euro aus.

Ursächlich hierfür war das rasante Wachstum der Ausgaben. Diese legten 2024 um 10 Prozent und damit doppelt so stark zu wie die Einnahmen. Grösster Ausgabenblock der Kommunen waren die Personalaufwendungen, auf die rund ein Viertel aller Ausgaben entfällt. In den vergangenen 10 Jahren hätten sie sich durch den Stellenaufwuchs im öffentlichen Dienst sowie die kräftigen Tariferhöhungen fast verdoppelt, heisst es in dem Bericht der Bertelsmann-Stiftung. Die Dynamik sei «angesichts der aktuellen finanziellen Lage nicht mehr finanzierbar», schreiben die Autoren.

Steigende Ausgaben, Flaute bei den Einnahmen

Auch beim zweiten grossen Ausgabenblock der Kommunen, den Sachausgaben für Gebäude, Dienstleister und Büroausstattung, weist der Trend steil nach oben. Die hohen Inflationsraten hätten die Sachaufwendungen in den vergangenen beiden Jahren um 26 Prozent sprunghaft steigen lassen, so der Bertelsmann-Bericht. Fast ebenso kräftig, um ein Viertel, seien die Sozialausgaben gestiegen. Sie liegen derzeit bei 85 Milliarden Euro. Allerdings übernahmen Bund und Länder knapp die Hälfte davon durch Finanzzuweisungen an die Kommunen.

Die Steuereinnahmen der Kommunen, die nach den Finanzzuweisungen die zweitwichtigste Einnahmequelle der Gemeinden darstellen, stiegen im vergangenen Jahr kaum noch. In den zehn Jahren davor hatten sie gemäss dem Bericht noch um 60 Prozent zugenommen. Ausschlaggebend für die Flaute bei den Einnahmen sei die schwache wirtschaftliche Entwicklung, heisst es in dem Bericht.

Immer mehr Kommunen seien daher auf Kassenkredite zur Überbrückung kurzfristiger Finanzierungsengpässe angewiesen. Für die künftigen kommunalen Finanzen zeigen sich die Autoren daher pessimistisch. Das Problem der Sozialausgaben sei ungelöst, die Inflation habe das Niveau der Ausgaben dauerhaft erhöht und die Steuereinnahmen dümpelten wegen der schwachen Konjunktur vor sich hin. Mittelfristig seien daher Kürzungen bei den Investitionen und ein Einstellungsstopp zu erwarten.

Gefahr für die Demokratie?

Brigitte Mohn, Vorständin der Bertelsmann-Stiftung, warnte vor einer «Zeitenwende, welche die finanzielle Handlungsfähigkeit der Kommunen nachhaltig infrage stellt». Die Kommunen schulterten über 50 Prozent der öffentlichen Investitionen und seien wichtig für den sozialen Zusammenhalt, sagte sie.

Thomas Kufen, Oberbürgermeister der Ruhrgebietsstadt Essen und stellvertretender Vorsitzender des NRW-Städtetags, fürchtet, die prekäre Finanzlage der Kommunen werde gravierende politische Folgen haben. «Wenn wir unsere Aufgaben nicht erfüllen können, dann höhlen wir Stück für Stück die Demokratie aus», sagte Kufen dem Sender WDR 5.

Um die Finanzierung der Kommunen auf ein tragfähiges Fundament zu stellen, schlagen die Autoren des Bertelsmann-Berichts ein gemeinsames Bund-Länder-Sondervermögen oder einen privat-öffentlichen Zukunfts- und Transformationsfonds vor.

KOMMENTARE – ANALYSEN – HINTERGRÜNDE

KOMMENTAR –  Die Bundesregierung hofft auf mehr wirtschaftliches Wachstum, um das Schuldenproblem zu lösen. Das ist naiv – Malte Fischer (Düsseldorf), NZZ, 30.7.2025

Der Staatshaushalt rutscht immer tiefer in die roten Zahlen. Doch die Bundesregierung hält an ihrem politischen Wunschdenken fest, statt Einschnitte zu wagen.

Es ist gerade einmal ein Jahr her, da stritten sich die Parteien der Ampelregierung erbittert über den Kurs in der Finanzpolitik. Damals ging es um eine Finanzierungslücke im Bundeshaushalt von 5 Milliarden Euro. Heute erscheint das lächerlich. Die Löcher, die derzeit im Bundeshaushalt klaffen, sind von einem ganz anderen Kaliber.

Um 172 Milliarden Euro muss die Bundesregierung die Ausgaben in den nächsten Jahren senken oder die Einnahmen erhöhen, um nicht gegen die Regeln der gelockerten Schuldenbremse zu verstossen. Das zeigt die Finanzplanung der Bundesregierung für die Jahre 2027 bis 2029.

Ein Grund für die wachsenden Löcher sind Zahlungen an die Bundesländer. Sie sollen Mindereinnahmen ausgleichen, die entstehen, weil die Steuern für die Unternehmen sinken. Dazu kommen Mehrausgaben für die Mütterrente und höhere Zinsausgaben. Finanzminister Lars Klingbeil dürfte seine Ministerkollegen daher zu erhöhter Sparsamkeit ermahnen, wenn das Bundeskabinett an diesem Mittwoch den Haushaltsentwurf für 2026 beschliesst – und dazu die Finanzplanung für die Jahre 2027 bis 2029.

Griff in die Schuldenkiste

Die meisten Minister aber werden dazu wenig Bereitschaft zeigen. Finanzpolitische Bescheidenheit ist nicht die Überschrift, unter der sich Union und SPD zusammengerauft haben. Sie wollen gestalten. Und weil das Geld dazu fehlt, greifen sie tief in die Schuldenkiste.

Nach einer Nettokreditaufnahme von rund 143 Milliarden Euro im Kernhaushalt einschliesslich der Sonderschulden für Bundeswehr und Infrastruktur in diesem Jahr steigt die Neuverschuldung nächstes Jahr auf 174,3 Milliarden Euro. 2029 sind dann sogar neue Schulden von 186 Milliarden Euro geplant.

Dass die Ausgaben den Einnahmen davongaloppieren, liegt an den rasant steigenden Verteidigungsausgaben. Auch die Mehrausgaben für Soziales und den Schuldendienst treiben die Defizite in die Höhe.

Um sie unter Kontrolle zu bringen, setzt die Bundesregierung auf mehr Wirtschaftswachstum. Doch davon ist bis jetzt wenig zu sehen. Die für diesen Mittwoch zur Veröffentlichung anstehende Wachstumsrate für das zweite Quartal dürfte kaum mehr als eine Stagnation anzeigen. Dass die Regierung in ihrer Finanzplanung dennoch davon ausgeht, dass der Wachstumstrend bald steiler wird, ist politisches Wunschdenken.

Wie kräftig eine Volkswirtschaft langfristig wächst, hängt von drei Faktoren ab: der Menge an Arbeitskräften, dem Bestand an Maschinen und Anlagen sowie der Produktivität von Arbeit und Kapital.

Bildungsmisere bremst Produktivität

In den nächsten Jahren werden Arbeitskräfte wegen der Alterung der Bevölkerung knapper. Das drückt den Wachstumstrend. Die Bundesregierung unterstellt in ihrer Finanzplanung, dass die Produktivität kräftig anzieht und den Demografie-Dämpfer ausgleicht. Doch das ist naiv. Denn eine höhere Produktivität fällt nicht vom Himmel. Sie ist das Ergebnis technischen Fortschritts. Dessen Quelle sind die Bildung, die Kreativität und die Innovationsfähigkeit der Menschen.

Blickt man auf die Pisa-Tests, in denen Deutschland in den vergangenen Jahren massiv abgerutscht ist, sowie auf die Einwanderungspolitik, die mehr Bezieher von Transferleistungen als Fachkräfte anlockt, ist die Produktivitätsprognose der Regierung äusserst gewagt. Solange sich an der Bildungs- und Einwanderungspolitik nichts ändert, ist daher keine höhere Produktivität in Sicht – und damit auch kein Rückgang der Schuldenquote durch mehr Wachstum. Das Prinzip Hoffnung hat in der Politik noch nie viel bewirkt.

KOMMENTAR – Friedrich Merz muss Emmanuel Macrons zentralistischen Bestrebungen in Europa entgegentreten – NZZ, 23.7.2025

Frankreich nutzt die Institutionen der EU, um sein etatistisches Wirtschaftsmodell in ganz Europa durchzusetzen. Das ist eine Gefahr für den Wohlstand auf dem alten Kontinent.

Es gehört zu den Grundüberzeugungen in Berlin und Paris, dass die deutsch-französische Freundschaft der tragende Pfeiler der europäischen Nachkriegsordnung ist. Ohne die Achse Paris–Berlin, so die Überzeugung der politischen Eliten, läuft in der EU wenig bis gar nichts. Der Besuch des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron bei Bundeskanzler Friedrich Merz an diesem Mittwoch dient daher dem Ziel, diese Achse zu stärken.

Nachdem Merz’ Vorgänger im Kanzleramt, Olaf Scholz, die Beziehungen zu Frankreich stiefmütterlich behandelt hatte, will Friedrich Merz sie revitalisieren, um das europapolitische Geschehen wirkmächtig mitzugestalten.

Planification versus Marktwirtschaft

Dabei sind die beiden grössten Volkswirtschaften Europas wirtschaftlich eng miteinander verflochten. Mit einem Anteil von mehr als 13 Prozent ist Deutschland der wichtigste ausländische Absatzmarkt für Frankreich. Frankreich wiederum nimmt als zweitwichtigster Exportmarkt Deutschlands mehr als 7 Prozent der deutschen Ausfuhren auf. Beide Länder eint das Interesse, die Stellung Europas in der durch geopolitische Umbrüche geprägten Welt zu stärken.

Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Konzepte beider Länder in der Wirtschaftspolitik fundamental unterscheiden. Frankreich ist ein zentralistisch organisiertes Gemeinwesen, dessen Eliten davon überzeugt sind, dass dem Staat eine lenkende Aufgabe in der Wirtschaft zukommt (Planification).

Dagegen gesteht das ordnungspolitische Leitbild der sozialen Marktwirtschaft, das dem wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg zugrunde liegt, dem Staat lediglich die Aufgabe zu, den Rahmen für die Wirtschaft zu setzen.

Vergleicht man die Pro-Kopf-Einkommen, zeigt sich die Überlegenheit des deutschen Modells. Dem um Unterschiede im Preisniveau bereinigten realen Pro-Kopf-Einkommen eines Einwohners in Deutschland von 45 500 Euro steht ein Pro-Kopf-Einkommen von lediglich 39 100 Euro in Frankreich gegenüber.

Dennoch hat es Frankreich in den vergangenen Jahrzehnten vermocht, durch die geschickte Besetzung einflussreicher Posten in den Institutionen der EU mit Franzosen sein Modell der Planification nach Brüssel zu exportieren. Dass die EU-Agrarsubventionen weiterhin sakrosankt sind, die EU-Kommission an ihrer protektionistischen Handelspolitik festhält und mit dem Corona-Hilfsfonds ein Präzedenzfall für die Vergemeinschaftung von Staatsschulden in Europa geschaffen wurde, ist vor allem auf den Einfluss und das Drängen Frankreichs zurückzuführen.

Pariser Machtpolitik

Mit Blick auf die ökonomische Potenz Deutschlands ging es Paris stets darum, Deutschland mithilfe europäischer Institutionen wirtschaftlich und politisch einzuhegen. So drängte Paris nach der Wiedervereinigung Deutschlands darauf, den Euro als gemeinsame Währung in Europa einzuführen, um sich aus der währungspolitischen Hegemonie Deutschlands und der D-Mark zu befreien.

Merz ist daher gut beraten, die europapolitischen Vorschläge Macrons immer auch unter dem Aspekt französischer Machtpolitik zu bewerten. Dem Drängen Macrons nach mehr Kompetenzen für Brüssel und nach gemeinsamen Schulden in der EU sollte der deutsche Kanzler ein konsequentes Nein entgegensetzen.

Eine solide Freundschaft muss Widerspruch ertragen können. Sonst ist sie keine Freundschaft.

ÖSTERREICH – WAHLUMFRAGENAPA-WAHLTREND

Entscheidung über Kaiser-Nachfolge dürfte gefallen sein – APA, 2.8.2025

Die Entscheidung über den künftigen Kärntner SPÖ-Chef dürfte gefallen sein. Der Klubobmann im Nationalrat Philip Kucher unterstützte heute via Facebook öffentlich Landesrat Daniel Fellner, der bereits angekündigt hat, für die Nachfolge von Peter Kaiser kandidieren zu wollen. Kucher galt zuletzt als einzige Alternative zu Fellner.

Freilich war dem Klagenfurter stets nachgesagt worden, lieber im Bund bleiben zu wollen. Nun schreibt Kucher: „Daniel Fellner hat meine volle Unterstützung als Nachfolger von Peter Kaiser.“ Auch der lange als Anwärter genannte Villacher Bürgermeister Günther Albel hatte intern vor einiger Zeit klar gemacht, dass für ihn ein Wechsel ins Land nicht in Frage kommt.

Kaiser zieht sich mit einem Landesparteitag im September zunächst einmal als Landesparteichef zurück. Wann er das Amt des Landeshauptmanns abgibt, ist vorerst noch unklar. Bei der kommenden Landtagswahl 2028 wird er nicht mehr antreten.

Der Urnengang gilt als herausfordernd, hat die FPÖ in ihrem Kernland doch zuletzt wieder deutlich zulegen können. Bei der Nationalratswahl waren die Freiheitlichen mit 38,4 Prozent klar stärkste Kraft, während sich die SPÖ mit 23,1 Prozent begnügen musste. Gerüchte, wonach die FPÖ bei der Landtagswahl mit Bundesparteichef Herbert Kickl statt mit Landesparteiobmann Erwin Angerer antreten könnte, werden von den Freiheitlichen dementiert.

Fellner hat seinerseits in einem „Presse“-Interview klar gemacht, dass er im Gegensatz zur Bundespartei keinerlei Berührungsängste zur FPÖ hat: „Ich glaube, dass auch die FPÖ in vielen Ansätzen ein Partner ist, mit dem man zusammenarbeiten kann“, meinte er wörtlich.

Die FPÖ begrüßte das am Samstag. Immer mehr Bundesländer trügen den Kurs von SPÖ-Chef Andreas Babler nicht mehr mit und führen ihm regelrecht in die Parade, meinte Bundesparteisprecherin Lisa Schuch-Gubik in einer Aussendung. Die Grünen forderten hingegen Babler auf aufzuwachen und einzugreifen. Die Menschen in Österreich verdienten eine Sozialdemokratie, die verlässlich gegen Rechtsextreme aufstehe und sich nicht aus Opportunismus unterhake, meinte Vizeklubchef Werner Kogler.

Aktuell regieren die Sozialdemokraten in Kärnten in einer Koalition mit der ÖVP. Fellner ist in der Regierung unter anderem für Gemeindeangelegenheiten, Katastrophenschutz und Bildung zuständig.

Landwirtschaft: Nässe hilft Gemüse und Obst – ORF, 2.8.2025

Das Wetter ist heuer im wahrsten Sinn des Wortes Geschmackssache. Dem Gemüse und Obst tut es jedenfalls gut: Denn viele Sorten gedeihen im Schnürlregen heuer besonders gut, und vor allem ohne Schädlinge.

Kraut und Kohl tut Nässe wohl! Ob Spitzkraut, Weißkraut oder Rotkraut: Besonders das Kohlgemüse ist der Gewinner des vielen Regens. Es muss endlich nicht mehr unter seinen Fraßfeinden leiden, sagt Biogemüsebauer Peter Forsthuber aus Seekirchen. „Weil einfach der Schmetterlingsflug gebremst ist und auch bei den Erdflöhen – sie alle mögen es eher heiß und trocken, und es taugt ihnen nicht, wenn’s immer regnet.“

Schädlinge mögen es heiß und trocken

Während des trockenen Frühjahrs hinterließen die Schädlinge ihre Spuren: „Nach dem Setzen war es sehr heiß und trocken, und da wurden die äußeren Blätter stark angefressen. Aber in der Mitte ist jetzt ein schönes Köpferl, das nicht angefressen ist.“

Auf dem kleinsten Landwirtschaftsbetrieb Seekirchens (Flachgau), dem sieben Hektar großen Almannsgrub-Hof, wachsen 50 verschiedene Bio-Gemüsesorten. Auffallend groß und zahlreich sind heuer auch die Erdäpfel. Aber die Nässe tut nicht jedem Gemüse gleich gut, sagt der Biobauer. „Die Salate sind ein Klassiker, die es gerne trocken haben. Die lüften gerne unten durch, und wenn es da einfach immer nass ist, dann tun sich die sehr schwer.“

20 Kilometer weiter in Straßwalchen (Flachgau) erntet der Taigner-Bauer heuer elfhundert Heidelbeersträucher. Wöchentlich fast 200 Kilogramm – was außerordentlich viel ist. „Es ist ein super Wachstumswetter, und ich hoffe halt, dass immer wieder ein paar trockene Phasen dabei sind“, sagt Biobauer Hans Mayerhofer aus Straßwalchen. Denn bei der Ernte wäre es gut, wenn die Früchte trocken sind. Die Früchte seien „gewaltig“ gewachsen.

Streng genommen seien die Beeren fast schon zu gut gewachsen. „Es sind fast zu viele Früchte oben. Denn wenn einmal Mitte August ist, dann reifen die nicht mehr nach, und es wäre schade, wenn sie nicht mehr alle ausreifen.“

Viele Früchte tragen auch seine Brombeersträucher und seine Obstbäume: Äpfel und Birnen gedeihen hier diesen Sommer genauso prächtig wie Marillen. Und auch Exoten wie die japanische Weinbeere.

red, salzburg.ORF.at

ÖSTERREICHISCHES PARLAMENT

ORF-MELDUNGSBÜNDEL ÖSTERREICH

Inland

Wien: Gaal will nicht beim Wohnbau sparen

SPÖ Kärnten: Kucher unterstützt Fellner

Wirtschaft

Vbg.: Honigertrag heuer um bis zu 50 Prozent gesunken

IT – KI – ROBOTIK – INTERNET

«Diese Blase wird platzen.» Journalistin Karen Hao sieht im KI-Hype ein Risiko für die Weltwirtschaft – Ruth Fulterer, NZZ, 21.7.2025

Die Journalistin Karen Hao beschreibt die Chat-GPT-Firma Open AI in ihrem neuen Buch als Imperium. Und deren CEO Sam Altman als jemanden, dem man nicht vertrauen sollte. «Diese Blase wird platzen.» Journalistin Karen Hao sieht im KI-Hype ein Risiko für die Weltwirtschaft

Am 17. November 2023 stand die Tech-Welt still. Alle Aufmerksamkeit war auf Open AI gerichtet, das Unternehmen, das ein Jahr zuvor durch die künstliche Intelligenz (KI) Chat-GPT weltbekannt geworden war. Der Verwaltungsrat hatte den CEO Sam Altman entlassen, man vertraue ihm nicht mehr.

Investoren und Angestellte reagierten entsetzt und wehrten sich. Nach fünf Tagen lenkte der Verwaltungsrat ein. Altman kam zurück, mächtiger als zuvor.

Viele begrüssten den Schritt. Aus ihrer Sicht hatte eine Gruppe Mitarbeiter und Verwaltungsratsmitglieder aus übertriebenen Sorgen wegen einer übermächtigen KI gegen einen kompetenten CEO intrigiert. Die Tech-Journalistin Karen Hao erzählt in ihrem neuen Buch eine andere Geschichte. Sie recherchiert seit Jahren hartnäckig zu Open AI und hat einen tieferen Einblick in das Unternehmen erhalten als die meisten Journalisten.

Frau Hao, Sie beginnen Ihr Buch mit den Tagen, in denen Sam Altman als CEO von Open AI entlassen und dann wieder eingestellt wurde. Warum?

Der Moment ist doppelt symbolisch. Erstens ist es der Höhepunkt eines Konflikts der Ideologien bei Open AI: zwischen jenen, die wie Altman in KI ein Allheilmittel für Probleme sehen, und jenen, die sich wegen der möglicherweise katastrophalen Konsequenzen mächtiger KI Sorgen machen. Zweitens zeigt der Moment eine Konzentration von Macht. Ein paar wenige Menschen bestimmten die Zukunft einer folgenschweren Technologie, chaotisch und intransparent. Nicht einmal die Angestellten von Open AI wussten, was vor sich ging.

Ihr Buch betont aber auch einen dritten Aspekt: Sam Altman selbst.

Sam Altman ist ein Mensch, der Leuten das sagt, was sie hören wollen. So entstehen Konflikte, und jeder wähnt ihn auf seiner Seite. Bis einige merken, dass er anderen gegenüber das Gegenteil sagt. Sie fühlen sich manipuliert und angelogen. Im Silicon Valley ist dieser Charakterzug gar nicht so selten. Der Verwaltungsrat hat vor seiner Entlassung diskutiert, ob er Grund genug für eine Entlassung wäre, wenn Altman CEO einer Liefer-App für Lebensmittel wäre. Vielleicht nicht. Aber man sagte sich, bei KI geht es um viel mehr.

Wäre die KI-Welt ohne Sam Altman heute eine andere?

Altman ist einzigartig gut darin, Geld einzusammeln, obwohl es keine konkrete Geschäftsidee gibt. Er verspricht Investoren nicht einfach Rendite, sondern eine grossartige Zukunft, von der sie Teil sein können. Unsummen von Investorengeld waren eine Voraussetzung, damit Open AI seinen KI-Ansatz durchziehen konnte: massiv viel Rechenleistung aufwenden, um KI zu entwickeln. Man nennt das auch Skalieren. Open AI war damit sehr erfolgreich. Deshalb setzen jetzt alle KI-Firmen darauf.

Die Grundtechnologie der Sprachmodelle war ja bekannt. Hätte nicht eine andere Firma früher oder später etwas wie Chat-GPT entwickelt?

Der grosse Sprung in der Branche war GPT-3. Open AI hat 10 000 Computerprozessoren für dessen Training eingesetzt. Damals eine total verrückte Idee. Viele Mitarbeiter von Open AI waren dagegen. Bei anderen Tech-Firmen hätte die Idee keine Chance gehabt, vor allem, weil nicht klar war, wie man damit Geld verdienen würde. Nach Chat-GPT zogen aber alle Firmen mit, um nicht überholt zu werden.

Da war doch dieser Google-Mitarbeiter, der glaubte, ein Chatbot der Firma namens Lambda habe ein Bewusstsein entwickelt, noch vor der Veröffentlichung von Chat-GPT!

Chatbots gibt es ja auch schon länger. Aber Lambda hat viel weniger Rechenpower genutzt als GPT-3. Und Google wollte den Bot auch nicht veröffentlichen. Er genügte den internen Ansprüchen an ein sicheres, verantwortungsvolles Produkt nicht. Erst nach Chat-GPT senkte Google die Messlatte und veröffentlichte Lambda.

Ihr Buch verrät viel über die Mächtigen bei Open AI, aber es erzählt auch von jenen, die unter den Konsequenzen von KI leiden. Hatten Sie das Gefühl, beides mischen zu müssen, damit man Ihnen zuhört?

Als Journalistin versuche ich immer, die sozialen Auswirkungen von Technologie mit den Entscheidungen in den Firmen zu verknüpfen. Als ich früher selbst Angestellte einer Tech-Firma war, hat mich interessiert, was man besser machen könnte. Im Fall von KI ist klar: Die Entscheidung zu skalieren löst eine Reihe von Problemen aus.

Welches Problem sorgt Sie am meisten?

Die unglaubliche Zahl von Rechenzentren und Supercomputern, die Open AI und der Rest der Branche bauen. Kürzlich zeigte ein McKinsey-Report, dass diese Datenzentren gegen Ende des Jahrhunderts zwei bis sechs Mal so viel Energie wie Kalifornien verbrauchen könnten, die fünftgrösste Volkswirtschaft der Welt. Diese Energie muss konstant geliefert werden, daher kommt sie oft aus Gas- und Kohlekraftwerken, die die Luft vergiften. Dazu kommt, dass zwei Drittel der neuen Datenzentren in Gegenden mit zu wenig Wasser gebaut werden. Das heisst, dass Datenzentren Menschen lebenswichtige Ressourcen streitig machen. Dabei ist das alles total unnötig.

Wie meinen Sie das?

Anfang des Jahres hat die chinesische KI Deepseek die Branche schockiert, indem sie mit einem Bruchteil der Rechenpower die gleichen Fähigkeiten wie amerikanische Modelle erreicht hat. Bei der Bildgenerierung hat Stable Diffusion das Modell von Open AI geschlagen, obwohl es statt Tausende nur ein paar hundert Computerchips nutzte. Das zeigt: Wie Open AI Dinge angeht, ist ziemlich ineffizient. Leider interessieren sich die Firmen nicht für diese Verschwendung. Sie wollen einfach die Schnellsten im Rennen sein.

Sie denken, der Trend zu immer mehr Rechenaufwand für KI wird anhalten? Es sollten doch jene einen Marktvorteil haben, die dasselbe günstiger bieten.

Ich fürchte, der Trend zu mehr Rechenzentren wird weitergehen. In diese Systeme fliesst leider viel Geld von Menschen, denen die langfristige Entwicklung und Wirtschaftlichkeit egal ist. Sie wollen einfach, dass die Bewertungen der Firmen steigen. Dann können sie die Anteile, die sie ganz früh gekauft haben, mit hohem Gewinn loswerden, bevor die Blase platzt.

Sie glauben, dass wir uns in einer Blase befinden?

Ja. Diese Blase wird platzen. Und Investoren haben mich davor gewarnt, dass es schlimmer kommen könnte als bei der Finanzkrise 2008. Goldman Sachs versucht bereits, seine Risiken aus Investitionen in Rechenzentren loszuwerden. Sie versuchen, sie an Altersvorsorge-Fonds weiterzugeben. Es ist ein grosses Risiko für die Weltwirtschaft, dass so viel Kapital in einer Sache steckt, die eigentlich unnötig ist.

Unnötig, weil man dasselbe mit weniger Rechenleistung schaffen könnte?

Genau. Viele meinen, Open AI hätte den einzigen Weg gefunden, KI zu bauen. Aber das stimmt nicht. Es gibt viel effizientere Methoden. Spezialisierte KI-Systeme sind viel geeigneter, um Krebs zu erkennen, Medikamente zu entwickeln, Energiespeicher zu erfinden. Für all das braucht man keine massiven Modelle und Unmengen an Rechenleistung, sondern Spezialisierung und fachspezifische Daten mit hoher Qualität.

Sehen Sie generative KI an sich auch als Blase an?

Es kursieren zumindest falsche Vorstellungen davon, was generative KI kann. Die Leute nutzen sie als Suchwerkzeug, dabei beruht sie auf Wahrscheinlichkeiten. Dadurch passieren Fehler. Ich habe kürzlich auf LinkedIn von jemandem gelesen, der mehrmals in offiziellen Berichten der Regierung zitiert wurde – mit Dingen, die er nie gesagt hat. Offenbar hat jemand auf die Informationen eines Chatbots vertraut. Doch die sind nicht dazu gemacht, hundert Prozent akkurat zu sein. Generative KI ist nützlich, zum Beispiel zum Brainstormen oder um die eigene Argumentation zu verbessern. Aber wer sagt, wegen KI werde die Wirtschaft in jedem Land um zehn Prozent wachsen, überschätzt gewiss ihre Fähigkeiten.

Open AI und andere Firmen sagen, sie wollten diese Probleme lösen, indem sie AGI («artificial general intelligence») bauten, also eine KI, die so flexibel denken kann wie der Mensch – nur viel schneller. Werden sie Erfolg haben?

In einer Umfrage haben kürzlich drei Viertel der befragten Wissenschafter angegeben, dass sie die heutigen Methoden nicht für ausreichend hielten, um AGI zu erreichen. Falls AGI überhaupt möglich ist. Ganz grundsätzlich gibt es ja keinen wissenschaftlichen Konsens dazu, was Intelligenz überhaupt ist. Deshalb ist auch das Konzept von allgemeiner KI schwammig. Jeder kann AGI nach seinem Belieben definieren und behaupten, wir hätten sie erreicht oder eben nicht.

AGI war einst das erklärte Ziel von Open AI. Ist es das immer noch?

Ich beginne mein Buch mit einem Spruch, den Altman 2013 zitierte: «Erfolgreiche Menschen gründen Firmen. Erfolgreichere Menschen gründen Länder. Die erfolgreichsten Menschen gründen Religionen.» Altman weiss, dass Menschen eine Mission brauchen. Deshalb hält er rhetorisch an dem Ziel AGI fest. Viele Angestellte von Open AI glauben daran. Aber ich denke, Open AI ist eine normale Firma rund um seine Produkte geworden.

Ist Open AI vergleichbar mit Google vor zwanzig Jahren?

Open AI versucht auf jeden Fall, das zu sein. Man setzt auf immer mehr Produkte. Auch, weil die KI-Modelle im Hintergrund immer austauschbarer werden. Deshalb will Open AI Nutzer durch andere Dinge an sich binden: ein soziales Netzwerk, eine Plattform zur Zusammenarbeit ähnlich wie Google Docs. Aber es geht nicht besonders strategisch vor. Google hatte immer eine Strategie, um Geld zu verdienen. Nebenbei baute man andere Geschäftsbereiche aus. Open AI mischt gerade überall ein bisschen mit, weil Sam Altman das will. Es ist aber unklar, wie es all diese Dinge erfolgreich am Laufen halten und Geld verdienen will. Deshalb bezweifle ich, dass Open AI so erfolgreich wachsen kann wie Google.

Tech-Firmen argumentieren oft mit der Mission, schnell sein zu müssen, um China voraus zu sein. Was halten Sie davon?

Open AI hat immer das Narrativ einer bösen Macht verbreitet, um sich selbst als gute Macht darzustellen. Bei der Gründung von Open AI war Google mit seiner Gewinnorientierung der böse Gegner, der besiegt werden musste. Jetzt ist es China. Seit Jahren vermeidet das Silicon Valley jede Regulierung mit dem Argument, man dürfe nicht von China überholt werden. Das Versprechen war: Ohne Regulierung und mit Exportkontrollen gegenüber China werden die USA ihren technologischen Vorsprung behalten und eine befreiende Wirkung in der Welt entfalten.

Hat das funktioniert?

Nein. China holt auf, trotz Regulierung im eigenen Land und amerikanischen Exportkontrollen. Zugleich hat die amerikanische Technologie die Welt unfreier gemacht. Das ist nicht verwunderlich. Wenn man mit dem Wettlauf gegen das Böse argumentiert und so alle Regeln abschafft, bleiben den Menschen immer weniger Rechte. In dieser Art Abwärtsspirale befinden wir uns.

Was hätten Sie für dieses Buch gerne herausgefunden, sind aber gescheitert?

Im Moment will Sam Altman Open AI aus der Non-Profit-Struktur lösen, mit der es gegründet wurde, um ungehindert Investorengeld einsammeln zu können. Ich wüsste gern, ob er je an Open AI als Non-Profit-Forschungseinrichtung geglaubt hat oder das Argument nur genutzt hat, um Elon Musks Unterstützung und Talente für sich zu gewinnen. Leider sagen auch Leute, die jahrelang eng mit Altman zusammengearbeitet haben, dass sie nicht wüssten, was er wirklich glaube und denke. Das finde ich ziemlich verrückt.

Karen Hao

Karen Hao ist freie Journalistin, zuvor war sie Hongkong-Korrespondentin des «Wall Street Journal» und KI-Reporterin beim «MIT Technology Review». Die gelernte Maschinenbauingenieurin war vor ihrer journalistischen Karriere selbst in der Tech-Branche tätig, als Anwendungsingenieurin bei einem Startup, das aus Googles Forschungsabteilung X hervorging.

Ihr Buch «Empire of AI: Dreams and Nightmares in Sam Altman’s Open AI» wurde im Mai auf Englisch veröffentlicht.

GENDER

INTERVIEW – Sprachkritiker Matthias Heine: «Gendern ist die Sprache der Mächtigen» – Lucien Scherrer, NZZ, 1.7.2025

In seinem neuen Buch «Der grosse Sprachumbau» rechnet Matthias Heine mit dem angeblich progressiven Sprachwandel ab. Kommt sein Werk wegen Donald Trump zum falschen Zeitpunkt?

«Forschende haben das Skelett eines Sauropoden untersucht», war kürzlich in einer grossen Schweizer Tageszeitung zu lesen. Schlagzeilen mit Wörtern wie «Forschende» findet Matthias Heine nicht nur nervig. Er würde sie am liebsten aus den Medien verbannen. In seinem neuen Buch «Der grosse Sprachumbau» prangert er alle Formen des vermeintlich progressiven Neusprechs an, vom Gendern über die leichte Sprache bis zur Wahl von sogenannten Unwörtern.

Heine arbeitet im Feuilleton der «Welt» und beschäftigt sich seit Jahren mit dem Wandel der Sprache. Unter anderem hat er über Begriffe geschrieben, welche die Nazis erfunden oder mit neuer Bedeutung gefüllt haben. Trotz alarmistischen Untertönen – Heine spricht von einer «gesellschaftlichen Katastrophe» – ist sein jüngstes Buch eine süffig geschriebene Geschichte über Sprachveränderer, die es nicht erst seit der Erfindung des Gendersterns gibt.

So erfährt man, dass schon die Brüder Grimm die Grossschreibung abschaffen wollten, die Nazis gegen die Frakturschrift waren und wir, hätten sich gewisse Sprachumbauer durchgesetzt, «Fater» statt «Vater» schreiben würden. All das wurde, wie Heine festhält, stets im Namen des Fortschritts propagiert wie heute die Gendersprache.

Herr Heine, kürzlich haben Sie mit der Behauptung, Adolf Hitler habe als erster deutscher Politiker gegendert, einen Aufschrei provoziert. Haben Sie die Reaktionen überrascht?

Hitler war zwar nicht der erste Politiker, der Floskeln wie «Liebe Volksgenossinnen und Volksgenossen» benutzt hat, wie ich in dem Artikel irrtümlicherweise geschrieben habe. Aber ich fand das als Kuriosum interessant. Es ging mir darum, die Anhänger des Genderns ein wenig zu frotzeln, im Sinne von: Bildet euch nicht ein, dass Gendern an sich etwas Gutes ist. Das Echo habe ich unterschätzt. Irgendwelche AfD-Vertreter glaubten, das ultimative Argument gegen das Gendern gefunden zu haben. Linke wanden sich vor Schmerzen, weil ich sie angeblich mit Hitler in Verbindung gebracht hatte. Andere fragten mich, was das solle: ob ich Hitler etwa sympathisch machen wolle.

Vielleicht waren die Reaktionen so heftig, weil Kritik an der Gendersprache oft als rechts und reaktionär gilt. Laut der «Tageszeitung» verursacht Gendern nur bei Männern über 60 Schnappatmung, obwohl es doch ungefährlich sei. Warum bekommen Sie Schnappatmung?

Weil heute eine radikale, identitätspolitische Linke versucht, die Sprache umzubauen. Die deutsche Sprache ist vor rund 1200 Jahren entstanden, sie ist das vielleicht einzige wahre Volkseigentum, das es je gegeben hat. Dieses Eigentum an der Sprache soll nun plötzlich enteignet werden. Der Zugriff ist massiv, und er geht auch von staatlichen Institutionen aus.

In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Autoritäten schon immer versucht haben, die Sprache zu verändern und zu reinigen. Was ist das Neue an den gegenwärtigen Versuchen?

Es geht nicht mehr nur um einzelne Wörter wie vor dem Ersten Weltkrieg, als französische Wörter wie «Portemonnaie» in Deutschland plötzlich verpönt waren. Nun geht es auch um die Grammatik. Man versucht, Pronomen wie «they» und «them» zu etablieren, führt Hilfszeichen wie * ein und sagt «Geflüchtete» statt «Flüchtlinge». Man will die Struktur der Sprache verändern, das ist etwas anderes als frühere Sprachregelungen. So weit sind nicht einmal die DDR und die Nazis gegangen.

Anhänger der Gendersprache betonen, die Sprache verändere sich eben, den Fortschritt könne man nicht aufhalten. Sie dagegen behaupten, es gehe um einen autoritären Umbau, der von oben verordnet werde. Wie kommen Sie darauf?

Echter Sprachwandel ist es, wenn sich immer mehr Leute entscheiden, den sogenannten Deppen-Apostroph zu benutzen, obwohl ihn der Duden lange nicht zugelassen hat. Und wenn der Duden dann irgendwann in die Knie geht und sagt, wir erlauben das jetzt in bestimmten Fällen, etwa in Firmennamen. Echter Sprachwandel ist es auch, wenn der aus dem Spanischen stammende Gruss «adios» in der Seemannssprache so verhunzt wird, dass es erst «atschüs» und am Ende nur noch «tschüs» heisst oder «tschüss». Das ist Sprachwandel von unten. Er ist entstanden, weil sich Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Sprechern und Schreibern entschieden haben, so zu sprechen.

Was wir jetzt erleben, ist also kein echter Sprachwandel?

Nein, aber es wird immer mit Sprachwandel erklärt. Der gegenwärtige Sprachumbau geht von kleinen Interessengruppen aus, welche die Gesellschaft über die Sprache formen wollen. Es ist ein internationales Phänomen: Nach dem Fall der Mauer und mit dem Bedeutungsverlust der Arbeiterklasse hat sich ein Teil der Linken neu erfunden, als Internationale der Diskriminierten. Sie war damit sehr erfolgreich, weil dieses Diskriminiertsein nicht objektiv messbar ist. Selbst ein Milliardärssohn, der sich als Frau fühlt, kann sich als Opfer inszenieren, wenn man ihn mit den falschen Pronomen anspricht.

In meiner Schulzeit habe ich oft die «Wochenzeitung» gelesen, die schon in den 1990er Jahren das Binnen-I benutzt hat. Damals war das eine Schrulle einer linken Zeitung. Wie ist das Mainstream geworden?

Ja, die «WoZ» gehörte mit Radio Lora zu den Ersten, die meines Wissens gegendert haben. In Deutschland glaubt man ja immer, das sei die «TAZ» gewesen, aber die Schweizer waren schneller. Solange das auf linke Publikationen beschränkt war und irgendwelche Grünen glaubten, sie müssten im Stadtrat von Oberkleinkadillendorf so sprechen, hat das kaum jemanden berührt. Aber jetzt ist es plötzlich allgegenwärtig. Es ist zur Sprache der Macht geworden.

Inwiefern?

Viele Behörden, Universitäten, Schulen und andere Institutionen sind sich einig mit dem opportunistischen Grosskapital, dass die Sprache «gerechter» werden müsse. Erklärbar ist dieser Siegeszug damit, dass Presse- und Kommunikationsstellen mittlerweile durchsetzt sind mit Absolventen der Neogeisteswissenschaften, die überall Diskriminierungen wittern. Es ist eine halbintellektuelle Kaste, die alle Theorien nachbetet, die an amerikanischen Universitäten Mode sind. Sie will den ungefähr 120 Millionen Deutschsprechern auf der Welt vorschreiben, wie sie sich auszudrücken haben.

Behörden und linke Parteien würden Ihnen widersprechen: Sie sagen, niemand müsse gendern. Vielmehr seien es die Rechten, die einen Kulturkampf führten.

Das ist eine komplette Verdrehung der Tatsachen. Und natürlich ist die Behauptung Quatsch, dass niemand gendern muss. Wenn Behörden nur Aufträge vergeben, sofern der Antragsteller gendert, ist das ein Zwang. In Deutschland gibt es sogar staatlich finanzierte NGO wie die Amadeu-Antonio-Stiftung, die alle Kritiker des Genderns als Frauenfeinde und Rechtsextreme diffamiert. Das erklärt eben auch die «Schnappatmung», die der Sprachumbau in der Bevölkerung auslöst, und das nicht nur bei Männern über 60. Wenn man liest, dass Firmen von ihren Mitarbeitern verlangen, zu gendern, und mich auch meine Bank angendert, wird einem plötzlich klar, wie dominant das ist. Der Zwang richtet sich gegen die Bevölkerungsmehrheit, die gemäss vielen Umfragen nicht gendern will. Nicht einmal für die heute 20-Jährigen ist Gendern selbstverständlich.

In der Stadt Zürich wurde kürzlich eine Initiative abgelehnt, die es der Verwaltung verboten hätte, den Genderstern zu benutzen. Das heisst, eine Mehrheit will Gendern zumindest nicht verbieten.

Allein die Tatsache, dass man in solchen Fällen von einem «Genderverbot» spricht, zeigt den Erfolg linker Politik. Denn es geht ganz einfach um das Gebot, sich an die Rechtschreibregeln zu halten. Der Rechtschreibrat, an dem auch die Schweiz beteiligt ist, rät ausdrücklich vom Gebrauch dieser Sonderzeichen ab. Kompatibel mit der Rechtschreibung sind allenfalls Doppelformen wie «Lehrerinnen und Lehrer» oder Formen wie «Studierende». Wenn mir jemand sagt, ich dürfe «Schweizer» nicht mit «tz» schreiben, ist das auch kein Falschschreibbverbot. Sondern eine Aufforderung, mich bitte schön an die Rechtschreibung zu halten.

Gendern ist in vielen Formen möglich, etwa «Fussgänger*innen», «Fussgänger:innen», «Zufussgehende». Welche nervt Sie am meisten?

Der Doppelpunkt ist grafisch sicher am wenigsten auffällig. Die eigentlich rechtschreibkompatible Form mit den «Zufussgehenden» und «Klavierspielenden» nervt mich fast am meisten, weil sie so aufgeblasen und bürokratisch wirkt. Am Schlimmsten finde ich eine Form, die sich in Deutschland schon recht häufig durchsetzt, etwa in der «Süddeutschen Zeitung» und in anderen Medien: Man benutzt mal die weibliche, mal die männliche Form. Wenn man Berufsgruppen aufzählt, spricht man von Bäckern und Fleischerinnen, Handwerkern und Richterinnen. Man kreiert ein generisches Femininum, verwendet es aber nur inkonsequent. Das führt manchmal zu totaler Verwirrung, weil man nicht weiss: Sind jetzt nur einzelne weibliche Richter gemeint oder alle?

In Ihrem Buch schreiben Sie sinngemäss, es sei Blödsinn, dass man nur an Männer denke, wenn man Wörter wie «Professor» höre, das belegten Studien. Mein Eindruck ist, dass ich bei diesen Wörtern eben doch oft nur männliche Professoren sehe.

Sie sind genau wie ich schon ein Kind einer Zeit, in der man Ihnen das eingeredet hat. Wir begegnen ständig Doppelformen, und selbst ich hab manchmal das Gefühl, das verstösst gegen irgendeinen Konsens. Wenn man möchte, dass die Leute bei Wörtern wie «Professor» oder «Astronaut» an Frauen denken, muss man mehr Professorenstellen mit Frauen besetzen oder mehr Frauen ins Weltall schicken. Meine drei Töchter denken beim Wort «Lehrer» garantiert nicht an Männer, weil es ihrer Lebensrealität entspricht, dass das überwiegend Frauen sind. Die sagen «meine Lehrer» und meinen damit Frauen. Sie sind wohl noch nicht lange genug durch Schule, Politik und Uni Gender-programmiert.

Als «Ursünde» des heutigen Sprachumbaus bezeichnen Sie die Rechtschreibereform von 1998, die ursprünglich neue Schreibweisen wie «Keiser» statt «Kaiser» vorsah und laute Proteste auslöste. Können Sie das ausführen?

Es war das erste Mal, dass eine relativ kleine Expertengruppe eine Reform durchsetzen wollte, die eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt hat. Sie hat es geschafft, die deutschen Kultusminister und die Behörden in der Schweiz und in Österreich zu überzeugen, dass die Rechtschreibung unbedingt verändert werden müsse. Die Hälfte von dem, was sie geplant hatten, mussten sie zwar zurücknehmen, weil es derart desaströs war. Geblieben ist aber das Signal an Aktivisten, dass man ungestraft an der Sprache herumbasteln kann, weil staatliche Entscheidungsträger modern sein wollen.

Besonders seit der Wahl von Donald Trump ist ein Backlash zu beobachten. Firmen wie Audi reden nicht mehr von «Mitarbeiter_innen», und Trump geht mit ähnlichem Furor gegen unerwünschte Begriffe vor wie linke Aktivisten. Kommt Ihr Buch zum falschen Zeitpunkt?

Überhaupt nicht. Heute wird ja gerne gesagt, die internationalen Konzerne hätten Angst vor Trump. Ebenso plakativ könnte man erwidern, dass die ganzen Diversity-Kampagnen und Gender-Offensiven auch aus Angst lanciert worden seien, um den Mächtigen zu gefallen, die vorher im Amt gewesen seien. Natürlich ist es absurd und falsch, was Trump an den Universitäten veranstaltet, etwa wenn Ausdrücke wie «woman» auf den Index gesetzt werden oder Schwarze von Memorial-Seiten entfernt werden. Die Universitäten haben diesen Backlash mit ihrer politischen Einseitigkeit und der Förderung von inkompetenten Leuten jedoch geradezu erbettelt. Im deutschen Sprachraum sehe ich wenig Anzeichen für diese Entwicklung.

Weshalb?

Es gibt zwar eine immer stärker werdende Volksbewegung, die von dem genervt ist. Auch sind in einigen Bundesländern sogenannte Genderverbote für Verwaltung und Schule erlassen worden, und die Bundes-Bildungsministerin hat gerade ihren Beamten den Genderstern und ähnliche Sonderzeichen untersagt. Aber die Ideologie, die der Gendersprache zugrunde liegt, wirkt weiter. Viele sind enttäuscht, dass die Merz-Regierung unter dem Druck der SPD an vielen Dingen festhält, welche die Grünen angeschoben haben, an Queer-Beauftragten und der staatlichen Förderung von NGO, die den Sprachumbau vorantreiben. Der öffentlichrechtliche Rundfunk gendert unbeirrt weiter. Obwohl es wahrscheinlich wenig gibt, was mehr zu seiner Delegitimierung beigetragen hat.

In Ihrem Buch verweisen Sie auf George Orwell, der die Vergewaltigung der Sprache in einem totalitären Regime beschrieben hat. Ist das nicht allzu dick aufgetragen?

Natürlich leben wir nicht in einer totalitären Diktatur wie Winston Smith im Roman «1984», und niemandem wird ein Rattenkäfig über den Kopf gestülpt, wenn er etwas Falsches sagt. Aber wenn man sich das Grammatik- und Neusprechkapitel am Schluss von «1984» anschaut, staunt man doch, wie viele Gemeinsamkeiten es gibt. Etwa, dass man Wörtern neue Bedeutungen gibt, je nachdem, wer sie verwendet. «Sprachpolizei» wurde in Deutschland lange als rechter Begriff verdammt. Als Länder wie Bayern und Sachsen den Gebrauch des Gendersterns untersagten, redeten Linke plötzlich selber von Sprachpolizei. Die Sortierung des Wortschatzes in gute und böse Wörter erinnert stark an «1984», ebenso der inflationäre Gebrauch von Begriffen wie «Hetze».

Weil der Begriff von den Nazis und in der DDR missbraucht wurde, um politische Gegner zu verfolgen?

Hetze ist ein wunderbares – oder eher: schlechtes – Beispiel für historische Unkenntnis. Es war ein zentraler Begriff der NS-Propaganda. Hetze war immer etwas, das die anderen machen, sie konnte mit dem Tod bestraft werden. Propaganda konnte man es nicht nennen, weil dieser Begriff im Nationalsozialismus positiv gebraucht wurde. Auch in der DDR war «staatsfeindliche Hetze» ein Straftatbestand. All das würde einen zurückhaltenden Gebrauch des Begriffs nahelegen. Stattdessen dient er allen möglichen Aktivisten als Legitimierung, den Diskurs im Sinn von Links-Grün zu kontrollieren. Als Robert Habeck das Vorwort der deutschen Ausgabe von «1984» geschrieben hat, war ihm die Ironie wohl nicht einmal bewusst.

Matthias Heine: Der grosse Sprachumbau. Eine gesellschaftliche Katastrophe. Langen-Müller-Verlag, München 2025. 236 S., Fr. 36.90.

INTERVIEW – «Nicht jedes Mädchen, das sich für seine Brüste schämt, ist trans» – Isabel Heusser, Oliver Camenzind, NZZ, 17.7.2025

Die Chirurgin Barbara Mijuskovic macht geschlechtsangleichende Operationen. Eingriffe an Jugendlichen sollten nur in Ausnahmefällen vorgenommen werden, sagt sie. Manchmal seien sie aber sinnvoll.

Die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli (SVP) hat eine umstrittene Forderung platziert: Irreversible geschlechtsangleichende Operationen sollen für Minderjährige schweizweit verboten werden.

Die Zahl solcher Eingriffe ist in der Schweiz über alle Altersklassen hinweg stark angestiegen: von 66 im Jahr 2020 auf 130 im Jahr 2023. Der Anteil der Minderjährigen blieb jedoch stabil. In der Alterskategorie zwischen 16 und 18 wurden im Jahr 2020 noch 8 geschlechtsangleichende Eingriffe vorgenommen. 2023 waren es deren 14. Nun gelte es, dafür zu sorgen, dass die Zahlen wieder kleiner würden, sagte Rickli.

Als Reaktion darauf demonstrierten am Wochenende in Zürich rund 100 Personen. Sie sehen ein Verbot als «Entrechtung von Transmenschen». Rund 12.000 Personen haben zudem eine Online-Petition gegen das Vorhaben unterzeichnet. Auf der anderen Seite versprach die Zürcher Nationalrätin Nina Fehr Düsel (SVP), das von Rickli geforderte Verbot ins nationale Parlament zu tragen.

Barbara Mijuskovic ist Fachärztin für plastisch-rekonstruktive Chirurgie und hat sich mit ihrer Praxis in Zürich auf geschlechtsangleichende Eingriffe spezialisiert. Zuvor leitete sie die geschlechtsangleichende Chirurgie am Zuger Kantonsspital.

Frau Mijuskovic, wann standen Sie letztmals im Operationssaal?

Das war in der vergangenen Woche. Ich habe mehrere kleinere Operationen durchgeführt, unter anderem zwei Mastektomien, also Brustgewebe entfernt. Das ist eine Operation, die ich neben Genitalangleichungen regelmässig vornehme.

Transpersonen lassen häufig Mastektomien vornehmen. Weshalb?

Nicht alle Transmenschen entscheiden sich für eine chirurgische Intervention, es gibt auch Betroffene, die mit einer hormonellen Behandlung zufrieden sind. Bei Transmännern ist die Brust allerdings ein grosser Störfaktor, Brüste verschwinden nach einer Hormonbehandlung nicht. Man kann sie nur schlecht verstecken, im Gegensatz etwa zum Genitalbereich. Wenn jemand als Mann leben möchte, ist eine Mastektomie fast immer ein Thema. Ebenso gibt es nonbinäre Menschen, die häufig eine Mastektomie wünschen. Darum ist dieser Eingriff der häufigste unter den geschlechtsangleichenden Operationen.

Wie riskant ist der Eingriff?

Es ist ein vergleichsweise einfacher Eingriff, der die psychische Gesundheit der meisten Patienten stark verbessert. Genitale Angleichungen sind hingegen sehr aufwendig und technisch anspruchsvoll, besonders der Aufbau eines Penis.

Das müssen Sie erklären.

Penis und Harnröhre werden mit eigenem Körpergewebe gebildet. In der Operation muss man Gefässe und Nerven mikrochirurgisch anschliessen, damit das Gewebe durchblutet ist und sich eine Sensibilität entwickelt. Die Harnröhre muss funktionieren, damit die Person Wasser lassen kann. Für den Geschlechtsverkehr ist eine Erektionsprothese nötig, also ein Implantat.

Das klingt nach einem sehr grossen Eingriff. Wie viele Male im Jahr nehmen Sie einen solchen vor?

Etwa zwanzig Mal, es sind schweizweit deutlich weniger als Mastektomien. Längst nicht alle Transmänner gehen diesen Schritt. Manche sagen sich: Ich habe eine gute Partnerschaft, ich brauche keinen Penis für eine befriedigende Sexualität. Andere dagegen wünschen sich einen Penis, um sich als Mann zu fühlen. Der Leidensdruck ist sehr unterschiedlich.

ie sind eine von wenigen Spezialistinnen auf Ihrem Gebiet. Wie sind Sie dazu gekommen?

Vor zehn Jahren kam ich am Universitätsspital Basel zum ersten Mal mit geschlechtsangleichender Chirurgie in Berührung. Ich habe dort einen grossen Bedarf an Verbesserung erkannt. Seither habe ich mich mehr und mehr darauf spezialisiert.

Was interessiert Sie an Ihrer Arbeit am meisten?

Zum einen die handwerklichen Aspekte des Operierens, zum anderen aber auch die psychologischen. Es gab und gibt einen grossen Bedarf an Fachleuten, die bereit sind, Transpersonen ernst zu nehmen und respektvoll zu behandeln. Ich denke, das liegt mir.

Nehmen denn nicht alle Ärzte ihre Patienten ernst?

Das Verständnis dafür, dass sich jemand im falschen Körper fühlt, ist nicht bei allen gleich ausgeprägt – leider auch nicht unter Fachleuten. Obwohl sich die Medizin schon lange damit beschäftigt. Am Universitätsspital Basel hat man bereits in den 1970er Jahren geschlechtsangleichende Operationen durchgeführt, allerdings nur sehr selten. Selbst 2015 lagen die Fallzahlen noch deutlich unter dem heutigen Niveau.

Die Zahl der Eingriffe hat in den letzten Jahren zugenommen. Heisst das, dass es mehr Transpersonen gibt?

Es gibt zwar mehr medizinische Eingriffe. Aber das bedeutet nicht, dass es heute mehr Transmenschen gibt als früher. Das Thema Transidentität ist in den letzten Jahren enttabuisiert worden. Betroffene trauen sich dadurch eher, eine Transition einzuleiten, von der eine Operation übrigens nur der letzte Schritt ist. Deshalb ist die Zahl der Eingriffe heute höher. Für die Betroffenen sind das erfreuliche Entwicklungen.

Welchen Prozess durchlaufen Transpersonen, bevor sie zu Ihnen kommen?

Am Anfang steht eine ausführliche psychologisch-psychiatrische Abklärung. Dabei geht es darum, herauszufinden, ob eine Transidentität vorliegt, oder ob andere Ursachen das Unwohlsein im eigenen Körper auslösen. Danach wird eine Hormontherapie eingeleitet.

Welche Faktoren spielen eine Rolle?

Da gibt es viele. Die körperlichen Veränderungen, die mit der Pubertät einsetzen, können überfordernd sein. Nicht jedes Mädchen, das sich für seine Brüste schämt, ist trans. Auch die kulturelle Prägung und Traumata spielen eine Rolle. Manche glauben, das Leben von Männern sei einfacher als das von Frauen. Aber das hat mit Transidentität nichts zu tun. Darum sind die Abklärungen so zentral.

Bis vor kurzem galt das Gefühl, im falschen Körper zu leben, als psychische Störung.

Das hat sich 2022 geändert, und das ist richtig so. Ein sehr grosser Teil der Transmenschen ist psychisch gesund.

Die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli hat kürzlich für Aufregung gesorgt. Sie fordert ein nationales Verbot geschlechtsangleichender Operationen bei Jugendlichen. Können Sie das nachvollziehen?

Viele Leute reagieren irritiert, wenn sie hören, dass Minderjährige irreversible Hormontherapien machen oder sogar operiert werden. Ich verstehe diesen Reflex bis zu einem gewissen Grad. Der Umgang mit Jugendlichen ist auch unter uns Fachpersonen ein heikles Thema.

Aber?

Die meisten Kritiker hatten noch nie mit einer Transperson zu tun. Sie sollten sich einmal in deren Lage hineinversetzen. Es gibt Betroffene, für die eine frühe Transition absolut sinnvoll ist. Sie leiden darunter, dass ihr Körper nicht zu ihrer Selbstwahrnehmung passt. Wenn die Pubertät einsetzt, kann sich das noch verschlimmern. Ein Verbot ist nicht der richtige Weg.

Warum nicht?

Weil durch die Pubertät für Betroffene auch irreversible Veränderungen eintreten, die für sie eine Katastrophe sind. Der Stimmbruch zum Beispiel ist nicht rückgängig zu machen, ebenso wenig wie die Ausbildung der Gesichtszüge und Bartbildung. Wenn sich jemand seiner Transidentität von klein auf sicher ist, sollte es möglich sein, bereits im Jugendalter mit medizinischen Massnahmen beginnen zu können. Hier könnte man mit einem Verbot in gewissen Fällen dem Kindeswohl schaden.

Was würde ein Verbot denn aus Ihrer Sicht bewirken?

Betroffene könnten verstärkt Depressionen entwickeln, sich sozial zurückziehen oder gar Suizidgedanken entwickeln. Ausserdem könnte ein Verbot dazu führen, dass Betroffene für solche Eingriffe dann ins Ausland gehen, und das ist ja nicht der Sinn der Sache.

Natalie Rickli argumentiert, sie wolle die Jugendlichen schützen. Was ist daran falsch?

Es gibt in der Schweiz schon heute ein dichtes Netzwerk von Experten aus unterschiedlichen Fachbereichen, deren oberstes Anliegen es ist, trans Jugendliche so gut wie möglich zu begleiten. Es ist nicht so, dass junge Menschen allein zum Hormonspezialisten gehen und dann eine Behandlung bekommen. Alles wird seriös und über Jahre hinweg abgeklärt.

An der psychiatrischen Abklärung von Jugendlichen in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Zürich gab es auch schon Kritik. Eltern monierten, dass ihre Kinder zu rasch eine Hormontherapie verschrieben bekommen hätten.

Diese Kritik teile ich nicht. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie macht meiner Erfahrung nach einen super Job.

Nehmen Sie selbst Eingriffe an Jugendlichen vor?

Das kommt eben nur in Ausnahmefällen vor und nur mit dem Einverständnis der Eltern. Ich kann die Operationen, die ich in den letzten zehn Jahren an Minderjährigen vorgenommen habe, an einer Hand abzählen. Generell werden geschlechtsangleichende Operationen erst im Erwachsenenalter durchgeführt. Die einzige Ausnahme ist die Mastektomie. Diese darf gemäss internationalen Richtlinien schon mit 16 Jahren vorgenommen werden, weil sie den Leidensdruck von Transmännern stark lindern kann.

Welche Rolle spielen die Eltern bei einer Transition?

Sie spielen eine zentrale Rolle. Viele wollen es zu Beginn nicht wahrhaben, wenn ihr Kind äussert, sich im falschen Körper zu fühlen. Es ist ein Prozess. Aber wenn Eltern zum Beispiel sehen, dass ein junger Transmann sich die Brust abbindet, bis er kaum noch Luft bekommt, dann macht das etwas mit ihnen. Die familiäre Unterstützung ist für die Betroffenen wichtig. Am Ende stimmen die meisten Eltern einem Eingriff zu.

Kommt es nie zu Konflikten?

Doch, die gibt es schon. Dann müssen Betroffene bis zu ihrem 18. Lebensjahr warten. Allerdings ist dieser Konflikt mit Erreichen des 18. Lebensjahres auch nicht gelöst.

Sind Minderjährige wirklich in der Lage, über eine so weitreichende Operation wie eine Geschlechtsangleichung zu entscheiden? Kritiker bezweifeln das.

Das kann ich verstehen. Es sollte ja auch nur in Ausnahmefällen bei Jugendlichen vorgenommen werden. Aber man ist auch mit 18 noch sehr jung. Die Fachpersonen versuchen, solche Massnahmen hinauszuzögern. Wenn aber der Leidensdruck sehr hoch ist, kann die Operation eine Entlastung sein. Ich sehe, wie glücklich Betroffene sind, wenn sie eine Angleichung machen lassen. Manchmal gibt es sogar Freudentränen. In der Nachsorge höre ich immer wieder: Jetzt fühlt es sich endlich normal an. Das gilt für Jugendliche genauso wie für Erwachsene.

Die Datenlage zur Behandlung von Transpersonen ist unübersichtlich. Befürworter von Geschlechtsangleichungen sagen, kaum jemand bereue einen Eingriff. Kritiker sagen das Gegenteil. Was stimmt nun?

Ich persönlich sehe es sehr selten, dass jemand einen Eingriff bereut. In Fachkreisen sprechen wir von weniger als 5 Prozent. Noch seltener sind Retransitionen, also Personen, die zu ihrem vorherigen biologischen Geschlecht zurückkehren. Mir ist bisher auch noch nie eine Person begegnet, die eine Mastektomie im Jugendalter durchgeführt hatte und dies bereute.

Der Einsatz von Pubertätsblockern wurde in der Schweiz bisher sehr offen gehandhabt. Nun mehren sich die kritischen Stimmen. Natalie Rickli plädiert dafür, die Abgabe der Präparate nur noch im Rahmen von Studien zu erlauben.

Der Einsatz von Pubertätsblockern bedarf einer sorgfältigen Abklärung, wie sie bereits durch die heutigen Behandler-Teams durchgeführt werden. Die Schwierigkeit ist, dass man eine Geschlechtsinkongruenz, also das Nichtübereinstimmen vom genetischen mit dem gefühlten Geschlecht, ja nicht messen kann.

Wie meinen Sie das?

Es gibt zwar validierte Fragebögen und Assessments, die zur Abklärung eingesetzt werden können. Aber man kann kein Röntgenbild und keinen Bluttest machen, um festzustellen, ob eine Person trans ist. Es ist ein Gefühl.

Waren Sie sich auch schon unsicher?

Grundsätzlich muss ich den psychologischen und psychiatrischen Beurteilungen der Fachpersonen vertrauen. Trotzdem stelle ich in der Sprechstunde diverse Fragen über den Transitionsverlauf, teilweise auch unangenehme. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Fall einer erwachsenen Person, bei der ich ein schlechtes Gefühl hatte.

Warum?

Die Person wollte eine Mastektomie vornehmen lassen. Ich stellte – wie üblich – umfassende Fragen zum Umfeld und der Vorgeschichte. Unter anderem wollte ich wissen, ob der Wunsch nach der Brustentfernung daher kam, weil sie ihr nicht gefallen oder weil sie sich als Mann fühlt. Es stellte sich heraus, dass sich die Person in einem kulturellen Umfeld bewegt, in dem Männer einen höheren Stellenwert haben. Es gab wohl auch traumatische Erlebnisse. Ich hatte den Eindruck, dass sie deshalb ihre Brüste entfernen lassen wollte – und nicht weil sie trans ist.

Und dann?

Ich habe die Person für eine vertiefte Abklärung zu ihrer Psychologin zurückgeschickt. Diese kam zu dem gleichen Schluss wie ich. Die Person ist danach nicht mehr in meine Sprechstunde zurückgekommen.

Im Ausland sorgte die Behandlung von jungen Menschen für Skandale. In Grossbritannien etwa wurde die staatliche Klinik Tavistock geschlossen, weil Jugendliche dort zu Behandlungen gedrängt worden sein sollen.

Das darf natürlich nicht passieren. Deshalb stehe ich der Einrichtung eines einzigen Zentrums, wie es manche Fachleute in der Schweiz fordern, kritisch gegenüber. Es besteht die Gefahr, dass eine solche Klinik eine Monopolstellung erhält und Patienten in eine Maschinerie von Behandlungen geraten. Wenn es mehrere Anlaufstellen gibt, kann man auch immer eine Zweitmeinung einholen.

Sie sind Ärztin. Was halten Sie davon, dass die Politik Forderungen stellt bei medizinischen Behandlungen?

Ich finde das schwierig. Ärzte setzen sich täglich mit ihrem Fachgebiet auseinander, tauschen sich untereinander aus, bilden sich weiter. Wir haben in der Schweiz ein sehr gutes Netzwerk von Fachpersonen. Ich kann nachvollziehen, dass die Politik besorgt ist, weil die Zahl der Eingriffe angestiegen ist. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich als Fachperson niemanden behandeln will, der sich nicht absolut sicher ist.

Dann gibt es gar keinen Handlungsbedarf?

Vielleicht würde es sich lohnen, mehr in die Aufklärung zu investieren. Man könnte Lehrpersonen und Ausbildner besser schulen, aber auch Psychiater und Psychologen. Jüngst wurden Beratungsstellen kritisiert, weil dort nur Peers arbeiten – Personen, die selbst trans sind. Es kam der Vorwurf auf, dass die Beratungen zu wenig sachlich seien. Vielleicht braucht es da Kontrollmechanismen.

Und weiter?

Denkbar ist ein Register, in dem alle Behandlungen schweizweit erfasst und analysiert werden. Das fehlt heute. Für diese Art von Forschung braucht es aber Geld und Zeit – und einen unvoreingenommenen Zugang.

Kommen eigentlich auch Ältere zu Ihnen in die Praxis?

Es gibt keine Alterslimite nach oben. Zu mir kommen auch 70-Jährige. Es gibt eine Generation von Betroffenen, die ihre Transidentität ihr ganzes Leben lang unterdrückt haben. Dann werden sie pensioniert und müssen in ihrem beruflichen Umfeld kein Coming-out mehr machen. Und sie sagen: Jetzt schaue ich endlich für mich. Ich habe einmal eine Person betreut, die wartete, bis ihre Eltern starben. Sie war überzeugt, dass die Eltern es nicht verkraften würden, dass ihr Kind trans ist.

UNTERNEHMEN

GESELLSCHAFTSSEISMOGRAPH BÖRSEN

*** nicht aktualisiert ***

AKTIENEMPFEHLUNGEN – BUY & SELL

Aktuell (—): 
Aktien um 10 Euro je Stück sind FETT hervorgehoben.

Die erwarteten stolzen Kursgewinne sind dem Übermut der tollen Analystenzunft zu verdanken! Hirn selbst einschalten und kritisch bewerten. MERKE: Klappern gehört zum Geschäft. Es geht letztlich nicht so sehr um die Beratung der Anleger, sondern um die spekulativ selbst gehaltenen Aktien der Häuser (Banken, Fonds, Anlagegesellschaften etc.), für die die Analysten tätig sind: wenn viele kaufen, steigen die Kurse, und 5% Plus sind zwar weniger als 15% oder 35%, aber besser als 5% Minus. Zudem lassen sich schnell noch eigentlich „schlechte“ Aktien im Portfolio des Hauses (Banken, Fonds, Anlagegesellschaft etc.) verkaufen, für die der Analyst tätig ist, sofern die werten privaten Anleger den Kaufempfehlungen folgen. So schaut’s aus im Schneckenhaus! Nochmals: Hirn selbst einschalten. Die Finanzbranche lebt vom Trübe-Machen des Wassers!

NICHT ZULETZT: Verkaufsempfehlungen werden ungern gegeben, da sie auf das Portfolio der Häuser (Banken, Fonds, Anlagegesellschaft etc.) rückschließen lassen, zu denen die Analysten gehören. Verkaufsempfehlungen werden aus zwei Gründen gegeben: a) es ist tatsächlich Feuer am Dach des analysierten Unternehmens, b) das Haus möchte die Aktien des zum Verkauf empfohlenen Unternehmens billiger zurückkaufen, sofern den Verkaufsempfehlungen gefolgt wird. Letztlich agieren an der Börse die Optimisten, und die wollen positive Nachrichten hören, also werden sie von den Häusern und ihren Analysten entsprechend bedient.

UND ZU ALLERLETZT: die Analysten bespiegeln sich untereinander: wer hat was empfohlen oder nicht empfohlen, es kommt zu herdenpsychologischen Erscheinungen derart: der Leithammel hat empfohlen, also machen wir das auch. Die jeweiligen Analysen werden entsprechend (um)formuliert. Das zweite Moment: die Konkurrenz, die u.U. zu skurrilen Interpretationen des analysierten Unternehmens führt.

FAZIT: was die Analystenzunft von sich gibt, kann aufschlussreich sein, muss es aber nicht, vermittelt einen zusätzlichen Eindruck zu einzelnen Aktiengesellschaften. Wichtig ist der Blick auf zweierlei: a) entscheidend: auf die volkswirtschaftliche Situation des Landes, der Welt; b) sekundär (!) auf das Unternehmen und seine Branche: Charakter des Managements, klare, gut durchschaubare Produktpalette, Langlebigkeit des Unternehmens und seine Stetigkeit im Gebaren.

Renten- und Aktienmärkte

Man halte sich vor Augen: Aktienmärkte sind die Pfützen in der Welt der Veranlagungsmöglichkeiten. Anleihenmärkte (Rentenmärkte, Kapitalmärkte) sind die großen Ozeane ebendort. Daher sind Aktienmärkte volatil und reagieren auf den leisesten Windhauch mit u.U. kräftigen Ausschlägen. Die Seelen der Anleger sind sehr verletzlich: Angst und Gier bestimmen hier jegliches Handeln, die vernünftige Veranlagungsentscheidung steht an zweiter Stelle. Das verursacht in den kleinen Geldpfützen der Aktienmärkte hohe Wellen. Aber dort stehen nach erster Erschütterung später die rationalen Kaufs- und Verkaufsentscheidungen felsenfest – bis zur nächsten Seelenerschütterung.

Anleiheanleger sind cooler und gezügelter im Gemüt. Hier geht es eher um Langfristperspektiven. Alles dreht sich um den Zins und wie er sich weiterentwickelt. Wer an der Zinsschraube dreht, dreht am Schicksal ganzer Volkswirtschaften. Da ist das aufgeregte Gegackere an den Aktienmärkten geradezu uninteressant.

Aber kommen Anleihemärkte einmal ins Rutschen – nach oben oder nach unten – dann ist Feuer am Dach. Schon 0,5 oder gar 1 Prozent Veränderung in einem Anleihenindex sind eine „Weltbewegung“ im Milliarden- oder Billionengeldmeere der Anleiheozeane.

Dazu kommt: Die Anleiherenditen konkurrenzieren mit den Aktienrenditen. Eine hohe Anleiherendite jenseits der 3 Prozent wirkt umso „giftiger“ auf die Aktienkursentwicklungen, je höher sie ist. Liegt sie unter 3 Prozent, begünstigt sie die Aktienkäufe, Je deutlicher sie unter 3 Prozent liegt, umso eher. Das ist die Regel. Die Ausnahme – so, wie wir sie gerade sehen – bestätigt diese Regel. Früher oder später wird sie ihre dominante Stellung als Regel wieder einnehmen.

Diese Verhältnisse sind es, die im Tagesblick in der Regel die Berichte zu den Anleihemärkten wiedergeben lassen, dass aufgeregte Geflattere und Gegackere an den Aktienmärkten im Detail interessiert in der Regel nicht die Bohne.

Zur Renditebestimmung bei Anleihen: notiert die Anleihe zu 100 Prozent, dann stimmen Anleihezinssatz (der Couponzins) und Anleiherendite überein. Sinkt der Anleihekurs unter 100 Prozent, steigt die Rendite, umgekehrt gilt: steigt der Anleihekurs, so sinkt die Rendite. So einfach ist das. Und so weltbewegend in der Tat.

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Allgemeine Empfehlungen: Es geht vornehmlich um die Zukunft der Energiegewinnung und die Energielieferanten. Renner bleiben Telekommunikations-Unternehmen, deren Dienstleistungen in einer digitalisierten Wirtschaft und Gesellschaft unabkömmlich sind. Unter den Logistik-Aktien sind in der Regel die Post-Aktien interessant. Diese Branchen sind weniger konjunkturabhängig als z.B. Konsumaktien, darunter die Post-Aktien noch am ehesten.

Hinzu kommt, dass die klassischen erdölverarbeitenden Energielieferanten (Up- und Downstream) mehr oder weniger energisch in großem Stil auf Alternativenergien umstellen. Es bleibt ihnen angesichts des Klimawandels, der öffentlichen Meinung und der in absehbarer Zeit erschöpften Welt-Erdölreserven auch nichts anderes übrig. Über das Kapital für den weltlebensnotwendigen Umbau verfügen sie dank ihrer Aktionäre. Es geht aus Sicht der Unternehmen um zukunftsträchtige Geschäftsmodelle in einer überschaubaren Branche – Energie – und aus Sicht der Aktionäre um steigende Unternehmenswerte / Aktienkurse als Inflationsschutz und sichere, möglichst stabil wachsende Dividenden, ebenfalls hinsichtlich des Inflationsschutzes.

Anti-Nachhaltigkeits-Bewegung in den USA als 180-Grad-Wendung in der Veranlagungsgebarung

Der aktuelle politische Druck in den USA zwingt eine Reihe großer Vermögensverwalter, darunter die weltgrößten wie Blackwater und Vanguard (verwaltetes Vermögen: 20 Billionen US-Dollar), nachhaltige Unternehmen potentiellen Anlegern nicht mehr zu empfehlen. Sie selbst verkaufen solche Unternehmen aus ihren Portfolios. Es gibt sogar seitens republikanisch regierter Bundesstaaten wie insbesondere Texas Kaufverbote für staatliche Pensions- u.a. Fonds.

Ausgestiegen sind bereits US-amerikanische Großbanken wie JP Morgan, Goldman Sachs, Wells Fargo, Bank of America, Citigroup (verwaltetes Vermögen: 9 Billionen). Ähnliches betrifft die Kreditvergabe. Offen bleibt, wie private und Unternehmensanleger (nicht-staatliche Fonds) künftig disponieren werden.

Unter den angebotenen Finanzanlagen kursieren seit geraumer Zeit besondere Nachhaltigkeitsprodukte in Form sog. ESG-Fonds (mehr dazu hier), die hohe Renditen versprachen und daher recht starken Zulauf hatten; die Renditen wurde seit Erhöhung der Kreditzinsen gebremst, da dadurch kreditfinanzierte Nachhaltigkeitsprojekte (Windparks, Solaranlagen etc.) weniger rentabel wurden.

In der Europäischen Union will man sich weiter an entsprechende Nachhaltigkeitsauflagen festhalten. Bislang wurden in europäische ESG-Fonds 9 Billionen Euro investiert, was 61 Prozent des gesamten Fondmarktvolumens entspricht. Der Zufluss hat sich 2024 allerdings um die Hälfte auf 37 Milliarden Euro reduziert. Zudem wurden mehr ESG-Fonds geschlossen als eröffnet. Nicht nur die hohen Zinsen, die die ESG-Fonds-Renditen beeinträchtigten, führten dazu, sondern auch „grüne Schönfärberei“: es stellte sich da und dort heraus, dass die versprochene Nachhaltigkeit mehr auf dem Papier als in der Wirklichkeit bestand. (Quelle: Wirtschaft vor Acht, ARD, 10.1.2025 (KURZVIDEO, bis 17.1.2025 verfügbar))

FAZIT: Es bleibt abzuwarten, was das für den Klimaschutz in den USA und weltweit künftig bedeutet. Für Österreich stellt sich die Frage, wie eine künftige Regierung sich in Sachen Klimaschutz verhalten wird.

Aktienkauf – der Erwerb einer Unternehmensbeteiligung – bedeutet Übernahme eines Risikos in Hinblick auf das künftige Unternehmensschicksal. Die Dividende stellt eine Risikoprämie dar.

Aktienanalytischer Blick auf Aktien im Euroraum und speziell Österreich (Stand: 24.2.2025):

ACHTUNG – STEUERVERÄNDERUNGEN ANTE PORTAS:
Ins Gerede kommen in absehbarer Zeit auf EU-Ebene und auf Österreich-Ebene vermutlich Aktienbesteuerung (Verkaufsgewinne, Dividenden) ebenso wie Vermögens- und Erbschaftssteuer. Diese Steuern sind in Veranlagungsüberlegungen mit einzubeziehen.

Im Folgenden sind Aktien um 10 Euro je Stück und darunter FETT hervorgehoben.
Neu aufgenommene Aktien werden mit ### gekennzeichnet.

Beobachtenswert ist der Umweltschutz- und Wasserwirtschaftswert Veolia

Ein Kaufsignal liefern weiterhin ENI, UNICREDIT und TOTAL ENERGIES, im Vergleich zum 3.2.2025 stabile Bewertung mit jeweils fünf Sternen bewertet.

Ein Kaufsignal liefern ENEL, PORR, SHELL, VERBUND, ### VIENNA INSURANCE GROUP mit jeweils vier Sternen bewertet.
Im Vergleich zum 3.2.2025 erweiterte stabile Bewertung mit jeweils vier Sternen bewertet.

Ein niedriges KGV (Kurs-Gewinn-Verhältnis) zeichnet aus:
RWE, TOTAL ENERGIES, ### UNICREDIT SPA, PORR, OMV, ### UNIQA, EVN, ENEL, TELECOM AUSTRIA, ### STRABAG, WIENERBERGER, SHELL, PALFINGER.

Aufsteigende Reihenfolge: die erste Aktie RWE ist die mit dem niedrigsten KGV = 4,8, PALFINGER die mit dem höchsten KGV = 9,3.
Im Vergleich zum 3.2.2025 erweiterte stabile Bewertung.

Ein niedriges dynamisches KGV (PEG, Price-Earning-to-Growth) weisen u.a. auf:

ENI, UNICREDIT, ### KONTRON AG, OMV, SHELL, PORR, WIENERBERGER, PALFINGER,

Nicht mehr dazu gehören: VIENNA INSURANCE GROUP, TELECOM AUSTRIA.
Aufsteigende Reihenfolge: die erste Aktien ENI = 0,5 ist die mit dem niedrigsten, PALFINGER die mit dem höchsten PEG = 1,4.
Im Vergleich zum 3.2. 2025 ist die Auswahl verändert, einzelne Aktien kamen dazu, andere fehlen nun!

Als Aktien mit langfristigem Kurspotential werden u.a. gesehen:
TOTAL ENERGIES, ENI, VERBUND, E.ON.SE, EVN, RWE.

Aufsteigende Reihenfolge: am Anfang der Reihe steht jene mit der größten Langfristchance.
Im Vergleich zum 3.2.2025 bleibt die Auswahl stabil, die Reihenfolge hat sich geändert.

Als Aktien mit hoher Sicherheit werden u.a. bewertet VIENNA INSURANCE GROUP, VERBUND; die Bewertungen bleiben unverändert zum 3.2.2025.
Aufsteigende Reihenfolge: am Anfang der Reihe steht jene Aktie mit der größten Sicherheit.

Aktien mit hoher Dividendenrendite sind:
OMV, ORANGE, TELEFONICA, ENI, UNIQA, ENEL.


Aktien mit der größten Dividendenrendite stehen am Anfang der Reihe: OMV 12,6%, am Ende die mit der niedrigsten: Enel 6,7%, jeweils vor Steuer.
Im Vergleich zum 3.2.2025 bleibt die Auswahl gleich, die Reihenfolge hat sich geändert.

KAUFKRITERIEN neben den aktienanalytischen Kennzeichnungen sind der Reihe nach: WER? – Qualität und Charakter (Psychologie!) des Managements, Häufigkeit des Managementwechsels, Unternehmenskultur; WAS? – Produkteinfachheit: „einfach gestrickte“, leicht zu durchschauende/transparente Produkte oder Dienstleistungen, eher kleine Produktpalette bzw. enger umschriebenes Dienstleistungsangebot, Konstanz der Nachfrage; WIE? – Sicherheit, Widerstandsfähigkeit gegenüber wirtschaftlichen Wechselfällen, finanzielle Stabilität des Unternehmens, Konkurrenzsituation; WO? – geographische und „politische“ Lage möglichst fern von Krisengebieten inkl. solchen mit politischer Unruhe oder in Ländern mit totalitären Systemen oder deutlich defekten Demokratien (illiberale Demokratien); WANN? – Lebensdauer bzw. Überlebensdauer (Weltkriege etc.) des Unternehmens bisher, Stetigkeit der Dividendenzahlungen.

FAZIT: vor dem Kauf einer Unternehmensbeteiligung sich zur Aktiengesellschaft schlau machen: WER, WAS, WIE, WO, WANN.

ZWEI DINGE sind zusätzlich zu beachten:

# Langfristanlage durch Erwerb von Defensiv-Aktien (u.a. Energie, Telekom),

# Verbleib in einem Währungsraum, das ist der Euroraum. Daher werden die allseits seit Jahren gehypten US-Aktien hier mit Absicht außen vor gelassen, um das Währungsrisiko klein zu halten. Gleiches gilt für den Erwerb von Schweizer Aktien, wie die Vergangenheit mit Blick auf das sehr wechselhafte Wechselkursverhältnis Schweizer Franken / Euro gezeigt hat. 

Die Europäischen Union als Veranlagungsrisiko?

Das Staatssystem der Europäischen Union kommt einer defekten Demokratie gleich und erstreckt sich in den Währungsraum (Euroland), in dem gehandelt wird. Man spricht auch von einem Demokratie-Defizit der Europäischen Union. Risiken dieser defekten Demokratie, um einige zu nennen, sind: Regelungen „von oben herab“ auf nicht sehr transparente Weise und Steuervorgaben, die sich durch Negieren realer Alltagserfordernisse auszeichnen, Überwachungsbestrebungen, hoher Bürokratieaufwand für Unternehmen und Bürger. All dies markiert Abgehobenheit und Bürgerferne der EU-Politik.

Kennzeichnend für das Gebaren (Governance) der EU ist ein Ineinandergreifen von EU-Exekutive (Kommission mit ihren Kommissariaten) und einem nicht gut überschaubaren Geflecht zahlreicher, der EU nahestehenden und von ihr geförderten Institutionen, Organisationen und Einrichtungen, die auf vielen Ebenen EU-Kommissionsvorgaben umsetzen helfen. Sie helfen insbesondere dabei, die von EU-Rat- und EU-Kommission angedachten, aber für Bürger und Unternehmen noch nicht „akzeptablen“ Vorgaben „schmackhaft“ zu machen, um so zu einer ausreichend hohen Akzeptanz in der Bevölkerung zu führen, die eine politische Umsetzung ermöglicht.

Junker sagte 1999 dazu sehr verkürzt und sinngemäß: was wir heute als EU nicht durchsetzen, das werden wir dann schon später durchsetzen. Dem Lobbyismus Richtung EU-Exekutive (insbesondere seitens der Unternehmen) steht ein „Lobbyismus“ seitens der EU in Richtung auf die Einrichtungen der Mitgliedsländer sowie auf die Unternehmen und die Bevölkerung gegenüber, dessen Räderwerk für den Normalbürger praktisch nicht durchschaubar ist. Inwieweit kommt dies einem autokratischen Verhalten von der Maschek-Seite gleich?

Hauptziel der EU-Bestrebungen ist die Etablierung der Vereinigten Staaten von Europa, die den derzeit bestehenden Verbund der Mitgliedsstaaten ersetzen soll. Das deutet auch der Wechsel der Namensgebungen im Zeitverlauf an:

# Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, umgangssprachlich auch Montanunion, 1951)

# Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, 1957 inklusive EURATOM)

# Europäische Gemeinschaften (EG, 1965 ff., Fusion von EWG, EURATOM und einzelnen EG-Organen, Fusions- und Folgeverträge)

# Europäische Gemeinschaft (EG, seit 1993 ff., Maastricht- und Folgeverträge)

# Europäische Union (EU, 2007, Lissabon- und Folgeverträge)

1948
1948
Brüsseler
Pakt
1951
1952
Paris
1954
1955
Pariser
Verträge
1957
1958
Rom
1965
1967
Fusions-
vertrag
1986
1987
Einheitliche
Europäische Akte
1992
1993
Maastricht
1997
1999
Amsterdam
2001
2003
Nizza
2007
2009
Lissabon
Europäische GemeinschaftenDrei Säulen der Europäischen Union
Europäische Atomgemeinschaft (Euratom)
Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)Vertrag 2002 ausgelaufenEuropäische Union (EU)
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)Europäische Gemeinschaft (EG)
Justiz und Inneres (JI)
Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS)
Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ)Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)
Westunion (WU)Westeuropäische Union (WEU)
aufgelöst zum 1. Juli 2011

Problematisch bleibt dabei: je größer die Zentralisation von Staatsmacht, umso größer die Machtfülle, die mit „eiserner Harke“ über berechtigte (!) Einzelinteressen der Mitgliedsstaaten und damit der Bürger drüberfährt. Das Prinzip der Subsidiarität bleibt dabei auf der Strecke, so wie dieses Prinzip z.B. Österreich 1994 anlässlich der Vorabstimmungskampagnen versprochen wurde. Wurde das Versprechen eingelöst?

Beispiele der Machtfülle durch Zentralisierung liefern alle großen Staaten, u.a. Russland und China, die geradezu Musterbeispiele dafür darstellen.

Ein Problem des Staates an sich ist das Machtmonopol, das bei ihm liegt und liegen muss, will er Gesellschaft – das Staatsvolk – und die Abläufe darin mit Erfolg, also: durchsetzungskräftig organisieren. Das Problem ergibt sich aus dem Spannungsfeld zwischen unbeschränkter Freiheit des Individuums (Libertarismus) und unbeschränkter Freiheit des Staates (Totalitarismus).

Wie dieses Machtmonopol ausgestaltet wird, unterliegt in Demokratien dem Willen des Wahlvolkes, in nicht-demokratischen Staaten dem Willen des autoritären, totalitären oder autokratischen Machthabers. In defekten Demokratien ist die Mitbestimmung des Volkes eingeschränkt. Defekte Demokratien existieren in einer Grauzone, deren Konstituenten und ihre gegenseitige Einflussnahme nicht leicht zu bestimmen sind. Somit ist auch der Defektheitsgrad einer defekten Demokratie nicht leicht zu bestimmen und unterliegt, je nach politischer resp. ideologischer Perspektive, unterschiedlichen Wertungen.

Die idealtypische Dreiteilung der Regierungsformen existiert in der Wirklichkeit nicht: keine Demokratie der Welt entspricht der idealen Form, weist also im Ansatz Eigenschaften einer defekten Demokratie auf, kein totalitärer Staat schränkt die individuellen Freiheiten vollständig ein, es verbleibt den Bürgern dort ein mehr oder weniger großer Freiheitsraum.

Hinsichtlich des staatlichen Machtmonopols, das zudem bei anwachsender  Zentralisation der Staatsgewalt zur Zunahme neigt, ergibt sich die Erkenntnis: so wenig Staat wie möglich, so viel Staat wie nötig als einer Einrichtung, die mit einem mit Rechtsgewalt in das Leben seiner Bürger eingreifenden Machtmonopol versehen ist, das für das „Funktionieren“ einer Gesellschaft unaufgebbar ist.

Die dafür notwendigen rechtlichen Verregelungen des Alltagslebens durch Allgemeines Gesetzbuch, Strafgesetzbuch, Angestelltengesetz etc.etc. sind zahllos und gelten bei ausnahmslos jeder Handlung, werden aber – ebenso regelhaft – dem Bürger erst dann bewusst, wenn es zu schwerwiegenden Regelverstößen oder Regelbruch-Sanktionierungen kommt. 

Rechtliche Verregelungen sind Ausdruck der jeweiligen Ausprägungen eines Rechtsstaates; dieser wird in einer idealen Demokratie nicht durch Willküreinwirkungen korrumpiert: das ist ein wesentliches Kennzeichen demokratischer Rechtsstaatlichkeit. Auf Rechtsstaatlichkeit pflegen sich auch autoritäre, totalitäre oder autokratische, kurz: diktatorische Systeme zu berufen, doch wird der Rechtsstaat dort durch Willküreingriffe korrumpiert: Rechtsbiegung als Kennzeichen von Autokratien etc. In einer defekten Demokratie wird die Rechtsstaatlichkeit (leicht) eingeschränkt, womit das Risiko entsteht, in eine Autokratie abzugleiten.

Nur in formalrechtlicher Hinsicht war zum Beispiel auch der NS-Staat ein Rechtsstaat, besaß er doch gemäß der NS-Grundsätze umgearbeitete Gesetze aus der Weimarer Republik und neue Gesetze im Sinne der NS-Ideologie, auf die er sich in der Rechtsprechung berief und von denen viele in einem „normalen“, d.h. hier NS-konformen Rechtssetzungsprozess entwickelt wurden. Daran ändert nichts die Gepflogenheit, den NS-Staat in inhaltlich-ethischer Hinsicht als Unrechtsstaat zu bezeichnen. Ein krasses Beispiel für einen NS-Rechtserlass im autokratischen Sinn ist unter diesem Link einsehbar.

Kennzeichnend für die Biegsamkeit des Rechts je nach Staatsraison ist die Tatsache, dass Juristen nach einem Regimewechsel ihre Posten in der Regel nicht verloren, sondern im neuen Regime weiter im Dienst des Rechts ihre berufliche Tätigkeit frei oder im öffentlichen Dienst ausübten. So wurden Juristen und Richter nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes ohne weiteres in den öffentlichen Dienst der entstehenden Bundesrepublik Deutschland übernommen. Vergleichbares geschah nach dem Fall der UdSSR oder DDR.

Das „Funktionieren“ einer Gesellschaft dank dafür sorgender Rechtsstaatlichkeit bedeutet in einer Demokratie das Herstellen eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen einerseits den rechtsstaatlich gesicherten Freiheitsbedürfnissen des Individuums unter für ihn zureichenden wirtschaftlichen Gegebenheiten und andererseits den „Freiheitsbestrebungen“, somit Machtbestrebungen des Staates, mit dem Ziel, ein Höchstmaß an Gemeinwohl resp. Sozialfrieden in Freiheit herzustellen. Als Garant dafür dient die Gewaltenteilung und ein entsprechend stark regulierter und damit gewaltgebändigter Polizei- und Geheimdienstapparat sowie als vierte Gewalt die Sicherstellung einer freien Presse. MOTTO: Nimm Freiheitsbeschränkungen mit Blick auf das Gemeinwohl aus Überzeugung an, wir helfen dir dabei durch politische Aufklärung und sachliche Bildungsarbeit!

Das „Funktionieren“ einer Gesellschaft dank dafür sorgender Rechtsstaatlichkeit bedeutet in einer Autokratie, im Autoritarismus und vor allem im Totalitarismus Ausgesetztheit vor rechtsbeugenden willkürlichen Staatseingriffen auf die ohnehin reduzierten Freiheitsmöglichkeiten des Individuums unter nicht selten unzureichenden wirtschaftlichen Gegebenheiten zu Gunsten der Machtbestrebungen des Staates mit dem Ziel, ein Höchstmaß an „Gemeinwohl“ resp. „sozialem Frieden“ in Unfreiheit zu erzwingen. Als Garant dafür dient die Einschränkung, womöglich Aufhebung der Gewaltenteilung sowie ein entsprechend stark ausgeprägter und mit gering regulierter Gewalt ausgestatteter Polizei- und Geheimdienstapparat sowie eine allgegenwärtige Brachial-Propaganda unter Ausschaltung der Pressefreiheit. MOTTO: Kusch, sonst trifft dich der Polizeiknüppel und du landest im Gulag, folgst du nicht den Propaganda-vermittelten Staatszielen!

Das „Funktionieren“ einer Gesellschaft dank dafür sorgender Rechtsstaatlichkeit in einer defekten Demokratie gibt in (noch) geringem Ausmaß jene Prinzipien auf, die eine Demokratie hervorheben. Als Garant dafür dient eine Einschränkung der Gewaltenteilung und ein nicht allzu gestärkter und nicht allzu sehr mit herabgesetzter regulierter Gewalt ausgestatteter Polizei- und Geheimdienstapparat sowie eine verhältnismäßig subtil eingesetzte Propaganda und Beeinflussungsmaschinerie. MOTTO: Folge der politischen Verführung und glaube, es sei deine Entscheidung, sonst zwiebeln wir dich mit Exekutivmaßnahmen!

Eine solche Beeinflussungsmaschinerie hat die exekutiv im Grunde genommen schwach aufgestellte EU entwickelt, was zu eben der Ausbildung dieser „Schattenexekutive“ geführt hat. Sie trägt damit – nicht so ohne weiteres sichtbar für den Normalbürger – ein Kennzeichen einer defekten Demokratie. Damit steht die Gefahr im Raum, weiter an demokratischen Eigenschaften einzubüßen und zu einem politischen und wirtschaftlichen Risiko heranzureifen. In der Tat bemüht sich die EU um Stärkung ihrer Polizeigewalt (Frontex, 2004, weiterer Ausbau) und damit um Ausbildung eines weiteren Kennzeichens defekter Demokratien insofern der Vorwurf stimmte, dass Frontex auch innerhalb der EU eingesetzt werden könnte.

Was die Beeinflussungsmaschinerie der EU betrifft, hat 2011 der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger (1929-2022) die Europäische Union als “sanftes Monster Brüssel“ bezeichnet und von der „Entmündigung Europas“ gesprochen. Er anerkennt segensreiche Folgen ihres Wirkens, macht aber zugleich auf die strukturellen Defizite dieser überstaatlichen Einrichtung aufmerksam, die durch massive Öffentlichkeitsarbeit, um nicht zu sagen: Propaganda – geschickt durch das vorbeschriebene Geflecht an Organisationen, Instituten, Einrichtungen etc. vermittelt –, übertüncht werden. Bezeichnend ist sein Ausspruch: „Je dünner die Legitimität [ihres politischen Handelns], umso dicker der Glibber der PR.“

Die geschilderte Gefahr liegt nicht darin, sich im Euro-Währungsraum zu bewegen. Sie liegt darin, dass infolge mangelnder demokratischer Kontrolle politisch einer Gesinnungsethik und nicht einer Verantwortungsethik gefolgt wird. Damit einher ginge eine Abgehobenheit von den Realitäten des täglichen Lebens der Bürger und Unternehmen. Das führte kurz über lang zu einer Schwächung des Euros im Währungskonzert. Ein Risiko erwüchse dann eher daraus, dass es nicht sicher ist, ob der Währungsraum „Euro“ eines Tages zerbricht, zum Beispiel dadurch, dass im Konzert mit anderen Währungen die derzeit ohnehin angekratzte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Europäischen Union noch weiter geschwächt würde und der Euro fortgesetzt an Wert verlöre. Letzteres erleichterte das Auseinanderbrechen der Europäischen Union, die Eigeninteressen der Mitgliedsländer träten wieder stärker hervor.

Dieses Auseinanderbrechen der Europäischen Union ist derzeit unwahrscheinlich, aber denkmöglich als Folge von: fortgesetzter Wirtschaftsschwäche; weiter zunehmender Unzufriedenheit der Bevölkerung mit Zunahme nationalkonservativer bis rechtsextremer Haltungen; fortgesetztem „Rütteln an den Ketten“ seitens ehemaliger UdSSR-Bruderstaaten; fortgesetzter Aufnahme neuer Mitgliedsländer speziell aus dem Balkan und dem ehemaligem UdSSR-Einflussbereich (Serbien, Ukraine); gravierenden, von den Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten nicht mitgetragenen außen- und innenpolitischen Entscheidungen. 

Bräche die EU, so bräche spätestens dann auch der Euro; im Übrigen weist die Geschichte der Währungsunionen auf deren Brüchigkeit hin: sie halten in der Regel nicht lange. Den Anleger zwingt unter anderem auch dies beizeiten zu überlegen, in welcher Währung er außerhalb des Euroraumes investieren soll. Angesichts des unsicheren Status des US-Dollars als Weltwährung ist dies eine herausfordernde Frage. Sie stellt sich glücklicherweise derzeit nicht, sondern taucht nur schemenhaft als Denkmöglichkeit am Horizont einer eher ferneren Zukunft auf. Aber: sie taucht auf und kann blitzesschnell elefantengroß im Raum stehen.  

FAZIT: die Europäische Union birgt für den Anleger derzeit nur am Zukunftshorizont sich abzeichnende Risiken. Sie entspringen u.a. daraus, dass die EU weniger aus der Position der Stärke als eher aus der der Schwäche handelt. Im Vergleich zur Situation des Kalten Krieges und damit zur Gründerzeit der EU-Vorläufereinrichtungen, in der es nur einen wirtschaftsmächtigen geopolitischen Spieler und gleichzeitigen Verbündeten – die USA – gab, steht die Europäische Union heute zwischen zwei Wirtschaftsblöcken: dem des USA-geführten Westens und dem des sog. globalen Südens. Das erzeugt Druck, allzumal Zeitdruck, treibt die EU an und lässt sie, will sie nicht aufgerieben werden, nach Machtvergrößerung durch Zentralisierung streben – ein Demokratierisiko ersten Ranges, damit in der weiteren Folge ein Wirtschafts- und letztlich Veranlagungsrisiko. 

Grundsätzliches zur Währungsspekulation

Währungs-Spekulation ist ein äußerst schwieriges, glitschiges, hochriskantes Geschäft, bedarf langjähriger Erfahrung, tagtäglicher Marktbeobachtung und eines guten Magens: Schocks und erratische Marktbewegungen müssen ausgehalten werden – psychisch und finanziell. Einer der bekanntesten und erfolgreichsten Währungsspekulanten im deutschsprachigen Raum ist Folker Hellmeyer (Hellmeyer-Website, Hellmeyer-Kurzportrait (Goldseiten), Hellmeyer auf Netfonds usf.).

Zweck der Währungsspekulation?

Wie bei den Warenoptionsmärkten dient auch der Währungsoptionsmarkt dazu, sehr starke Schwankungen im Wert einer Währung (Devise) zu verhindern: sehr starken Verteuerungen oder Verbilligungen einer Währung im Devisenmarkt (Währungs- oder FOREX-Markt) wird so gegengesteuert. Dafür sorgen die vielen Marktteilnehmer, von denen ein Teil den künftigen Wert einer Währung (Devise) höher, der andere diesen Wert tiefer einschätzt. Dies führt dazu, dass sich eine Art mittlerer Wert für diese Währung einstellt. Währungsoptionsmärkte sind rund um den Globus nahezu 24/7, also nahezu täglich rund um die Uhr, offen (Warenoptionsmarkt, Optionen im Freihandel).

Anders ausgedrückt: Die Spekulanten sichern sich mit ihrem Engagement gegen das Risiko eines Währungsverfalls oder eines Währungsanstiegs ab. Währungsanstiege sind ein Risiko für Käufer auf Warenmärkten, Währungsabwertungen sind ein Risiko für Verkäufer auf Warenmärkten. Gleiches gilt selbstverständlich auch für Dienstleistungen im internationalen Dienstleistungsaustausch. Die gegenläufigen Interessen auf dem Währungsoptionsmarkt „mitteln“ sich aus.

Allgemein gesprochen handelt es sich bei den Geschäften auf Optionsmärkten um Absicherungsgeschäfte oder Hedging.

Nochmals anders ausgedrückt: Auf aggregiertem Niveau (Makroebene) sorgt der Währungsoptionsmarkt für die Stabilität einer bestimmten Währung im Konzert der anderen Währungen im Devisen- resp. Währungsmarkt (Kassa- oder Spot-Markt, das Pendant zum Optionsmarkt).

Eine stabile Währung ist für die Volkswirtschaft, in deren Bereich diese Währung als Zahlungsmittel dient, eine Lebensnotwendigkeit für das optimale Funktionieren der volkswirtschaftlichen Grundvorgänge Kauf und Verkauf von Waren und Dienstleistungen. Erratische Schwankungen im Währungs- oder Devisenmarkt erschweren auf der Ebene der Unternehmen (Mikroebene) innerhalb und außerhalb einer Volkswirtschaft erheblich Kalkulationen mit Sicht auf künftig geplante Käufe und Verkäufe. Erratische Schwankungen einer Währung schwächen die Wirtschaftsleistung der zugehörigen Volkswirtschaft, eine stabile Währung fördert sie. Dies gilt auch für Volkswirtschaften außerhalb des entsprechenden Währungsraumes, sofern sie mit dieser Volkswirtschaft handelnd in Verbindung stehen.

FAZIT: Währungsoptionsmärkte sind für das Wirtschaftsgeschehen im Konzert der verschiedenen Volkswirtschaften überlebenswichtig.

Die heilige Trias

Diese Zusammenhänge bleiben in der Regel für Otto Normalverbraucher genauso verborgen wie die Bedeutung der nicht-demokratisch agierenden Zentralbanken, die mit ihren Zinsentscheidungen tief in das Wirtschaftsleben und somit in das Alltagsgeschehen der Menschen eingreifen. Warenmärkte, Währungsmärkte und Zentralbanken sind in einem fortlaufenden Marktgeschehen untrennbar und maßgeblich untereinander verbunden. Dabei modulieren und moderieren die Zentralbanken über den Zinssatz die Abläufe in Waren- und Währungsmärkten und den zugehörigen Optionsmärkten.

Für Otto Normalverbraucher sind Spekulanten auf diesen Märkten in aller Regel ganz, ganz böse Subjekte, die sich mit ihren Spekulationsgewinnen die Taschen vollstopfen.

Wer sind diese Subjekte auf Währungsoptionsmärkten?

Auf Währungs- und Währungsoptionsmärkten agieren in großer Zahl Staatsstellen, staatliche und private Pensionsfonds, multinationale und andere Unternehmen, Finanzinstitute (Banken u.a.), Hedgefonds u.a.

Otto Normalverbraucher verkennt in aller Regel den Sinn dieser Märkte und die Rolle der Spekulanten dort; denn:

Die Währungsoptionsmärkte zeichnen für das Wohl und Wehe im höchstpersönlichen Alltagsleben des kleinen Mannes auf der Straße verantwortlich, indem sie für relative Währungsstabilität sorgen. Doch Märkte sind keine Subjekte. Somit sind präzise gesprochen nicht „die Märkte“, sondern die Teilnehmer an Währungsoptionsmärkten – also die risikoübernehmenden Spekulanten – für das Wohl und Wehe von Otto Normalverbrauchers alltäglichem Leben verantwortlich.

Daher lässt sich interpretieren: In der Erhaltung der Währungsstabilität liegt der soziale Sinn der Spekulation. Dabei dient der Spekulationsgewinn als Entgelt für die risikobehaftete Sorge um eine stabile Währung.

Es kommt zu einem „paradoxen“ Effekt: die Befriedung der Einzelinteressen der Subjekte, den Spekulanten, trägt vermittels des Marktgeschehens zur Optimierung des Gemeinwohls bei.

Die Umsätze in Devisen- und Währungsoptionsmärkten sind die größten weltweit und erreichen täglich Milliarden bis Billionen von Währungseinheiten. Im Jahr 2022 wurden allein im Devisenmarkt täglich durchschnittliche Umsätze in Höhe von 7,5 Billionen US-Dollar gehandelt. Zu beachten ist, dass dabei immer Währungspaare gehandelt werden und zudem die Umsätze „doppelt“ anfallen: als Verkaufs- und als Kaufpreis in Summe. Das plustert das tägliche Handelsvolumen ordentlich auf.

Was für die Währungsoptionsmärkte gilt, gilt ebenso für die Warenoptionsmärkte: es geht um die Stabilisierung von in großen Mengen gehandelten Waren wie Weizen, Schweinehälften Orangensaft, Kaffee und vieles andere mehr. Die aufgezählten Waren stehen für solche, die für die Bevölkerungen hohe Bedeutung haben.

Wozu Optionsmärkte gut sind

Aber es gibt doch nach wie vor Preissprünge auf den Warenmärkten, von erratischen Ausschlägen an den Devisenmärkten war auch schon die Rede: wie passt das ins Bild?

Ohne die Terminbörsen wären die Ausschläge um einiges stärker, die Preise höher.

Drei Beispiele dazu:

#1 Hitler verbot die große Bremer Kaffeebörse. Daraufhin sicherte sich der Großhandel gegen Preisanstiege bei Kaffee ab, indem er von Haus aus deutlich höhere Preise für den Handel, die Geschäfte, einforderte. Resultat war der berühmt-berüchtigte Blümchenkaffee: die Konsumenten sparten am Kaffee, indem sie möglichst wenig davon zum Aufbrühen verwandten, also sah man durch den dünnen Kaffee das Blümchen am Grund der Kaffeetasse.

# 2 Waren, die nicht abgesichert werden können, weisen größere Preissprünge und höhere Preise auf; bremsend auf den Warenpreis (Aktienpreis, Devisenkurs) wirkt allein die Konkurrenz oder eine schwache Nachfrage oder ein überreichliches Angebot.

# 3 Die erste Warenoptionsbörse wurde 1848 in Chicago gegründet. Hintergrund war der bereits gewachsene Welthandel mit Waren, die großteils noch mit Segelschiffen über die Weltmeere transportiert wurden. Zwar befuhren die ersten Dampfschiffe Ende der 1830er Jahre den Atlantik, doch die eigentliche Verdrängung des Segelschiffs als Transportmittel setzte erst ab den 1870er Jahren ein.

Die Notwendigkeit, sich gegen den Verlust der Waren infolge Schiffuntergangs zu schützen oder sich überhaupt vor unerwarteten Preisveränderungen während der langen Schiffsfuhren abzusichern, führte zur Einrichtung der Chicagoer Warenbörse (Chicago Board of Trade), 1848 zunächst als Kassen- oder Spotmarkt, 1864 dann als Warenterminmarkt. Fortan konnten Käufer und Verkäufer Warenpreise vereinbaren für Warenlieferungen in ein, zwei, drei, sechs Monaten, was die Sicherheit der unternehmerischen Kalkulation erheblich erhöhte, da nun die Preisrisiken nicht von den Warenverkäufern und -käufern selbst, sondern von den Spekulanten übernommen wurden. Es entstand eine hochspezialisierte Zunft von Spekulanten, darunter viele Versicherungen.

Die Spekulanten hatten die Zeit und die Informationsmittel, sich über Warenpreisänderungen am Warenursprungsort und über Transportverzögerungen oder Schiffsunfälle zu informieren. Schlechte Kaffee- oder Kakao-Ernten, transportverzögernde Windflauten oder Schiffsunglücke blieben für sie kein Geheimnis, entsprechend diesen Informationen disponierten sie am Warenterminmarkt ihre Preisvorstellungen, doch in der Vergangenheit geschlossene Warenpreise für eine bestimmte Ware zu einem bestimmten Termin blieben davon unberührt.