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FAZIT DES TAGES
COMMENT – FAZIT:
- Ukraine und Israel ohne Entspannungszeichen, im Gegenteil
- Camerons Bitte um Finanzhilfe für Ukraine von Trump angeblich abgeschmettert
- Europäische, deutsche und US-Wirtschaft ohne erfreuliche Meldungen
Märkte – Report & COMMENT & Marktkommentar
Israel, Ukraine
Zentralbanken, Bankenwelt
Meldungen
Themenreigen – Medizin: axilläre Lymphonodektomie bei Brustkrebs nicht mehr obligat, Gesundheitspolitik: Opt-out-Lösung bei elektronische Gesundheitsakte in Frankreich & COMMENT, Umwelt, Soziale Medien: gefährliche Wirkung auf Jugendliche & COMMENT, Bildung: wirtschaftsverdummte Bevölkerung, Recht: Klimaschutz als Menschenrecht, Gesellschaft: zunehmende Jugendgewalt
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Viel Stoff – Nutze die Suchfunktion!
HELLMEYER-Report (gekürzt)
- Märkte: Fokus auf Veröffentlichung der US-Verbraucherpreise
- Deutschland laut IFO-Umfrage Mittelmaß bei Standortattraktivität
- China kündigt Swap-Vereinbarungen für Globalen Süden an
Kein Hellmeyer Report am 16.04.2024 & 19.04.2024!
Märkte: : Fokus auf Veröffentlichung der US-Verbraucherpreise
Die Finanzmärkte bleiben ihrer nervösen Grundhaltung treu. Der Fokus liegt auf der heutigen
Veröffentlichung der US-Verbraucherpreise.
Zuletzt stiegen die Benzinkosten in den USA auf ein Sechsmonatshoch. Ebenso trugen jüngst die US-Mieten dank Umstellungen bei der Berechnung zu dem Anstieg bei. Das Risiko höherer
Inflationsdaten als vom Markt bisher diskontiert ist vor diesem Hintergrund gegeben. Sollte das
der Fall sein, würden US-Zinssenkungserwartungen weiter reduziert mit negativen Wirkungen auf
sowohl die Aktien- als auch Rentenmärkte.
COMMENT: Schön, dass Hellmeyer nun auch langsam ein Licht dämmert.
Ob der USD vor diesem Hintergrund nachhaltig profitieren könnte, ist diskussionswürdig (Aspekte Kosten der Verschuldung und bremsende Wirkung auf Ökonomie versus höherer Rendite als bisher erwartet).
An der Datenfront ergaben sich für die USA negative Entwicklungen. Der Index, der die Zuversicht
und das Sentiment kleinerer Unternehmen abbildet (NFIB Index), sank auf den tiefsten Wert seit
Dezember 2012. Hier ergibt sich eine markante Divergenz zu den PMIs von S&P und dem ISM.
Der LKW-Verkehr auf deutschen Autobahnen sank per März auf Monats- und Jahresbasis. Ergo
kamen keine unterstützenden Signale von dieser Seite.
Seitens der Geopolitik hat sich das Nachrichtenbild in den letzten 24 Stunden nicht verändert.
Geopolitik bleibt Risiko und Bremsfaktor für die reale Wirtschaft und für die Finanzmärkte.
Aktienmärkte zeigten sich in einer heterogenen Verfassung. Der Late DAX sank um 0,92%, der
EuroStoxx 50 um 0,65%, der Dow Jones um 0,45%, während der Citi US Tech 100 um 0,04%
zulegte. In Fernost ergab sich Stand 07:15 Uhr folgendes Bild. Der Nikkei (Japan) verlor 0,36%, der
CSI 300 (China) 0,55% und der Kospi (Südkorea) 0,46%. Dagegen stiegen der Hangseng
(Hongkong) um 2,06% und der Sensex (Indien) um 0,30%.
Rentenmärkte: Im Bereich von 2,50% für Bundeanleihen und 4,50% bei US-Staatsanleihen bildete sich auf Renditebasis ein markanter Widerstand aus. Sollte er fallen, würde die Dynamik des Renditeanstiegs zunehmen.
Aktuell rentiert die 10-jährige Bundesanleihe mit 2,37% (Vortag 2,43%) und die 10-jährige US-Staatsanleihe mit 4,36% (Vortag 4,41%).
Der USD ist gegenüber dem EUR kaum verändert. Gold und Silber legten gegenüber dem USD zu
Nachrichten in Kurzform:
• Berlin: Laut Statistischem Bundesamt nahm der als Frühindikator geltende LKW-
Verkehr auf deutschen Autobahnen per März um 1,0% im Monatsvergleich ab. Im
Jahresvergleich kam es zu einem Minus in Höhe von 0,6%.
• Berlin: Die Zahl der Straftaten ist im Jahr 2023 um 5,5% im Jahresvergleich
gestiegen.
• Frankfurt: Gemäß Umfrage der EZB sank die Nachfrage nach Firmenkrediten im 1.
Quartal 2024 deutlich (hohe Zinsen, verschärfte Kreditvergabestandards, geringe
Investitionsneigung).
• Peking: China und Russland wollen wegen der Bedrohung durch US-
Hegemonialpolitik enger kooperieren (Lawrow-Besuch in Peking).
• Washington: Der IWF warnte, dass Cyber-Angriffe vor allem auf Banken eine
zunehmende Gefahr für die Finanzstabilität seien (Verdoppelung seit 2020).
Deutschland: Laut IFO-Umfrage Mittelmaß bei Standortattraktivität
Deutschland liegt laut Umfrage des IFO-Instituts und des Instituts für Schweizer
Wirtschaftspolitik (1.500 Experten aus 128 Ländern, Datenerhebung 09/10 2023) bei
der Standortattraktivität für Firmen aus dem eigenen Land im europäischen Mittelfeld.
Einheimische Befragte bewerteten Deutschland besser (61,3) als ausländische
Teilnehmer der Umfrage (49,6).
Die einheimischen Befragten bewerteten Deutschland mit 61,3 von 100 möglichen Punkten (USA 74,7, Schweiz 72,6, Österreich 72,4, Kanada 67,3, Frankreich 66,8).
78% der Befragten meinten, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland in den vergangenen 10 Jahren unattraktiver geworden sei.
48% erwarten eine weitere Verschlechterung in den kommenden 10 Jahren.
Bei der Frage nach der Standortattraktivität für ausländische Firmen erzielte Deutschland 49,6 Punkte (Luxemburg 78,6, Schweiz 77,8, Irland 76,2, USA 63,7, Österreich 61,5).
Kommentar: Das Ergebnis ist für den Anspruch, den wir an uns hatten und haben sollten, bitter
und ernüchternd. Der Weg von der Leistungsgesellschaft zur Anspruchsgesellschaft findet hier
seinen Spiegel. Konkurrenzfähigkeit als Grundlage des Wohlstands erreicht man nicht durch
politische Aufgabenverweigerung (Rahmendaten), Wissensmangel und „Chillen“.
Kritisch ist zunächst die fehlende zeitliche Nähe der Rohdatenerfassung zu monieren. Die Lage
hat sich seit Herbst 2023 für Deutschland im relativen Vergleich verschlechtert. Die Tatsache,
dass die für den Kapitalstock (Summe aller Unternehmen, die alle Einkommen schaffen!)
relevanten Themen von der Bundesregierung weiter nicht im erforderlichen Maß (Strukturen)
adressiert werden, gibt fortgesetzt negativen Bewertungen Vorschub.
Die Divergenz der Bewertung aus einheimischer Sicht (61,3 Punkte) und ausländischer
Wahrnehmung (49,6 Zähler), ist markant. Sie mag sich in Teilen hintergründig über
einheimische mediale und ideologisierte Echokammern (Realitätsverweigerung) speisen.
BRICS: China will Swap-Vereinbarungen für Globalen Süden
China hat angekündigt, dass ein neues Swap-Programm im Volumen von circa 550
Mrd. USD mit 29 sich entwickelnden Ländern mit einem Sicherheitsnetz aufgesetzt
wird. Das Programm würde noch im Jahr 2024 umgesetzt. Länder des Globalen
Südens inklusive der BRICS-Länder können demnach Währungs-Swaps vereinbaren,
die die Abwicklung des Handels in bilateralen Währungen unter Ausschluss von
Drittwährungen ermöglichen. Die bisher gängige Praxis, der weiter bilateralen Verträge
erfährt damit eine neue multilateralere Struktur (Aristoteles, Organigramm).
=> Strategisch (Geopolitik) und ökonomisch (Effizienz) positiv
Kommentar: Der Emanzipationsprozess des Globalen Südens von dem Westen erfährt eine neue Facette. Dabei spielt die Konfiszierung der russischen Devisenreserven als Katalysator fraglos eine Rolle. Der Missbrauch des USD als Mittel, US-Recht auf der internationalen Bühne unter Missachtung der Souveränität von Drittländern zu verankern, hat Folgen. Die Rolle des USD als Weltleitwährung wird dadurch fortgesetzt sukzessive nivelliert. Geopolitisch verbindet sich damit ein sukzessiver Machtverlust des Westens.
Unter finanzökonomischen Effizienzgesichtspunkten optimiert sich das System zunächst, da die Transaktionsschiene Währungstausch der Heimatwährung in den USD seitens eines Käufers und Währungstausch des USD gegen die Heimatwährung seitens des Verkäufers eliminiert wird (Optimierung der Kosten der „Cross-Border Transactions“).
Der Verzicht auf den USD bedeutet aber auch, dass damit die Fluktuation der jeweiligen
Heimatwährungen auch zu Ineffizienzen führen kann. Andererseits entzieht man sich den wachsenden Risiken bezüglich der markant defizitären US-Haushaltslage und der US-Außenwirtschaftslage.
Derartige Swap-Vereinbarungen schaffen gleichzeitig ein Liquiditäts-Sicherheitsnetz für die beteiligten Länder.
Fazit : Die Welt verändert sich weiter zu Lasten des Machtanspruchs des Westens
Datenpotpourri der letzten 24 Handelsstunden
Eurozone: Frankreichs Handelsbilanz mit geringstem Defizit seit 01/2021
Frankreich: Die Handelsbilanz wies per Februar ein Defizit in Höhe von „nur“ 5,244 Mrd. EUR nach zuvor 7,213 Mrd. EUR dank höherer Exporte aus. Es ist das geringste Defizit seit Januar 2021.
Frankreich: Die Leistungsbilanz reüssierte mit einem Überschuss in Höhe von 0,9 Mrd. EUR nach zuvor -0,5 Mrd. EUR (revidiert von -1,0 Mrd. EUR). Hier kam es zum positivsten Wert seit März 2023.
USA: Stimmung kleinerer Unternehmen auf tiefstem Stand seit 12/2012
Der NFIB Business Optimism Index, der die Zuversicht kleinerer Unternehmen abbildet, stellte sich per Berichtsmonat März auf 88.50 nach zuvor 89,40 Punkte und markierte den tiefsten Indexwert seit Dezember 2012! Das wirft Fragen für die Stimmungsindikatoren von S&P als auch ISM (Institute of Supply Management) auf!
Japan: Erzeugerpreise bei 0,8% Anstieg im Jahresvergleich
Die Erzeugerpreise verzeichneten per März im Monatsvergleich einen Anstieg um 0,2%
(Prognose 0,3%, Vormonat 0,2%). Im Jahresvergleich ergab sich eine Zunahme um 0,8%
(Prognose 0,8%, Vormonat 0,7%, revidiert von 0,6%).
Hier den Hellmeyer Report lesen! (inkl. Graphiken und Tabellen!)
MÄRKTE
DJI – BAHA *** DJI – KGV *** Rendite 10-jg. US-Anleihen
DAX Deutsche Börse *** DAX – KGV *** Rendite 10-jg. Bundesanl. *** Euro-Bund Futures
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Meyer zu Rheinmetall-Aktie im Minus „Als würde eine Fahnenstange in sich zusammensacken“ – Kurzvideo
Nach mehreren Rekordmeldungen muss der DAX nun einen Dämpfer hinnehmen. Besonders stark betroffen sind Rüstungs-Aktien, allen voran die von Rheinmetall. Warum das für Anlegerinnen und Anleger jedoch kein Grund zur Sorge sein sollte, erklärt ntv-Börsenreporter Frank Meyer.
AKTIENRÜCKKÄUFE/DIVIDENDEN – Dividenden spielen hierzulande eine wesentlich größere Rolle als Aktienrückkäufe.
So haben die Unternehmen des DAX und MDAX zwischen 2005 und dem ersten Quartal 2024 zusammen 853 Milliarden Euro an ihre Anteilseigner ausgeschüttet. Davon entfällt ein Großteil auf Dividenden, 15 Prozent bzw 128 Milliarden Euro entfallen auf Aktienrückkäufe, hat das Flossbach von Storch Research Institut errechnet. „Laufen die Geschäfte gut, werden überschüssige Mittel für Rückkäufe eingesetzt“, sagt Philipp Immenkötter, Senior Research Analyst bei Flossbach von Storch. (Börsen-Zeitung)
ISRAEL
n-tv aktuell ISRAEL
10.04.2024 05:36
Kriegstalk bei Maischberger Strack-Zimmermann liefert sich Schlagabtausch mit Gysi
Wenn es um das Ende der beiden großen Kriege in der Welt geht, sind sie völlig unterschiedlicher Ansichten: Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP und Gregor Gysi von den Linken. In der ARD-Talkshow mit Sandra Maischberger treffen die beiden am Dienstagabend aufeinander. Die Diskussion ist spannend. Von Marko Schlichting
10.04.2024 01:55
Nach Kritik an Israel 468 Lastwagen mit Hilfsgütern auf dem Weg Richtung Gaza
Israel steht derzeit massiv unter Druck, mehr Hilfslieferungen nach Gaza zu lassen. Nun verkündet die Regierung, dass Hunderte LKW mit entsprechenden Gütern unterwegs seien.
10.04.2024 00:23
„Beunruhigende Obsession“ Israel und Amnesty streiten nach Tod eines palästinensischen Häftlings
1987 wird der Palästinenser Walid Daqqah wegen des Mordes an einem israelischen Soldaten zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Nun ist er zwei Jahre nach einer Krebsdiagnose gestorben. Sein Tod sorgt für einen Disput zwischen Israel und Amnesty Deutschland.
09.04.2024 15:31
An der Basis brodelt es gehörig Israel-Krieg entfremdet US-Demokraten von Biden
Zehntausende zivile Opfer und desaströse Umfrageergebnisse über Israels Militäreinsatz: US-Präsident Biden steht im Wahljahr unter Druck von unten. Das hat Folgen. Von Roland Peters
09.04.2024 15:31
An der Basis brodelt es gehörig Israel-Krieg entfremdet US-Demokraten von Biden
Zehntausende zivile Opfer und desaströse Umfrageergebnisse über Israels Militäreinsatz: US-Präsident Biden steht im Wahljahr unter Druck von unten. Das hat Folgen. Von Roland Peters
09.04.2024 13:10
Kein Rohstoff bis zur Waffenruhe Türkei schränkt Exporthandel mit Israel ein
Mit Exporteinschränkungen gegen Israel will die türkische Regierung eine ausstehende Waffenruhe im Gazastreifen erzwingen. Der Schritt erfolgt nach zunehmendem innenpolitischen Druck auf Präsident Erdogan.
NACHT IM ÜBERBLICK – ISRAEL
ROUNDUP: Ramadan endet ohne Waffenruhe in Gaza – Die Nacht im Überblick
TEL AVIV/WASHINGTON (dpa-AFX) – Die weltweiten Hoffnungen, dass bis zum Ende des für Muslime heiligen Fastenmonats Ramadan eine Waffenruhe im Gaza-Krieg zustande kommt, haben sich nicht erfüllt. Während Millionen Muslime in aller Welt an diesem Mittwoch das Fest des Fastenbrechens begehen, dauern die zähen indirekten Verhandlungen über eine Feuerpause und Freilassung von Geiseln in Gaza an – mit ungewissem Ausgang. Derweil treibt Israel sein umstrittenes Vorhaben für eine Bodenoffensive in der Stadt Rafah im Süden Gazas voran.
Allerdings teilte Israels Verteidigungsminister Joav Galant Medienberichten zufolge seinem US-Kollegen Llyod Austin mit, dass es noch keinen Termin für eine Offensive gebe. Damit habe Galant seinem Regierungschef Benjamin Netanjahu widersprochen, hieß es. Netanjahu hatte am Montag noch öffentlich erklärt, der Termin für eine Offensive in Rafah stehe fest.
Berichte: Israel arbeitet weiter an Evakuierungsplänen für Rafah
Galant habe in einem Telefonat mit Austin gesagt, Israel sei derzeit noch dabei, Pläne für die Evakuierung der dortigen Zivilbevölkerung fertigzustellen, berichteten die israelischen Zeitungen „Haaretz“, „The Times of Israel“ und das Nachrichtenportal „Axios“ am Dienstagabend. Die US-Regierung will Israel von einem großangelegten Einsatz in Rafah abhalten. US-Außenminister Antony Blinken erwartet von Israel vorerst Stillhalten. Für die kommende Woche sei ein Treffen mit einer israelischen Delegation geplant, um über die Bedenken der US-Seite gegen einen solchen Einsatz zu sprechen, sagte Blinken am Dienstag in Washington. „Ich gehe nicht davon aus, dass vor diesen Gesprächen irgendwelche Maßnahmen ergriffen werden“, betonte er. Man sei nach wie der Überzeugung, dass ein größerer Einsatz in Rafah extrem gefährlich für die Zivilisten wäre.“ Die israelische Seite habe der US-Regierung auch keinen Termin für eine Rafah-Offensive genannt, sagte Blinken.
Bericht: Israel kauft 40 000 Zelte für geplante Räumung von Rafah
Als Vorbereitung einer Offensive kauft Israel laut einem Medienbericht jedoch schon mal rund 40 000 Zelte für die Unterbringung evakuierter Zivilisten. Die „Jerusalem Post“ berichtete am Dienstag, der Kauf diene dazu, den Weg für einen Militäreinsatz in der Stadt an der Grenze zu Ägypten „in der nahen Zukunft“ zu ebnen. Es gab keine offizielle Mitteilung über den Erwerb der Zelte. Ein israelischer Repräsentant bestätigte lediglich die Vorbereitung von Tausenden von „Unterkünften“. Nach UN-Schätzungen drängen sich in Rafah mehr als eine Million Flüchtlinge aus anderen Teilen des umkämpften Küstengebiets.
Weißes Haus: Israel hat keinen glaubwürdigen Plan für Rafah vorgelegt
Israel hat aus Sicht der US-Regierung weiter keinen überzeugenden Plan zum Schutz der dortigen Zivilbevölkerung im Fall einer Bodenoffensive vorgelegt. Er habe noch keinen „glaubwürdigen und durchführbaren“ Plan für die Umsiedlung der Menschen in Rafah gesehen, der detailliert darlege, wie die Zivilisten untergebracht und medizinisch versorgt werden könnten, sagte der Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, am Dienstag in Washington. „So bleiben unsere Bedenken bestehen, und wir müssen nun abwarten, was passiert, und die Vereinigten Staaten werden entsprechend reagieren.“ Sullivan betonte, dass es Kommunikationskanäle mit der israelischen Regierung gebe.
Blinken: Bewerten Israels humanitäre Schritte auf längere Sicht
Die US-Regierung reagiert außerdem abwartend auf Israels Zusagen zur Verbesserung der humanitären Lage im Gazastreifen. „Was zählt, sind Ergebnisse – und zwar nachhaltige Ergebnisse“, sagte Blinken am Dienstag bei einer Pressekonferenz mit seinem britischen Amtskollegen David Cameron in Washington. „Und darauf werden wir in den kommenden Tagen sehr genau achten“, betonte Blinken. Nach Darstellung Israels sind in den vergangenen Tagen deutlich mehr Hilfsgüter in den Gazastreifen gelangt. 468 Lastwagen mit humanitären Hilfsgütern seien am Dienstag inspiziert worden und nach Gaza gefahren, schrieb die für Kontakte mit den Palästinensern und humanitäre Hilfe zuständige Cogat-Behörde auf der Plattform X (vormals Twitter). „Dies ist die höchste Zahl von Lastwagen mit Hilfsgütern, die seit Beginn des Krieges an einem Tag in den Gazastreifen gefahren sind.“
Hamas-Kreise: Israelis sind nicht an Waffenruhe interessiert
Mit Blick auf die laufenden Gespräche über eine Waffenruhe und die Freilassung von Geiseln sagte Sullivan, dass öffentliche Erklärungen der Hamas „nicht gerade ermutigend“ seien. Allerdings gebe es noch keine Antwort der Hamas auf einen Vorschlag, der aktuell auf dem Tisch liege, sagte Sullivan. Er habe mit den Verhandlungspartnern in Katar gesprochen und diese gedrängt, sich um eine Antwort der Hamas zu bemühen.
Aus Hamas-Kreisen in der libanesischen Hauptstadt Beirut hieß es, die Verhandlungen liefen derzeit „nicht gut“. Die Israelis seien nur am „Geisel-Thema“ interessiert, nicht aber an einer Waffenruhe. Offizielle Angaben zum Verhandlungsstand gibt es nicht. Nach Gesprächen in Kairo hatten Vertreter der Hamas die ägyptische Hauptstadt am Montag für Beratungen mit ihrer Spitze verlassen.
Israels Militär: Hisbollah-Stellungen in Syrien angegriffen
Das israelische Militär griff unterdessen nach eigenen Angaben erneut Stellungen der proiranischen Hisbollah-Miliz in Syrien an. Wie die Armee am Dienstagabend bekannt gab, wurde militärische Infrastruktur der Miliz attackiert, die diese nach präzisen geheimdienstlichen Erkenntnissen „an der syrischen Front“ genutzt habe. Man mache „das syrische Regime für alle Aktivitäten verantwortlich, die auf seinem Territorium stattfinden“, hieß es. Die Angaben konnten unabhängig zunächst nicht überprüft werden.
Israels Luftwaffe bombardiert immer wieder Ziele im benachbarten Syrien und will damit verhindern, dass der Iran und mit ihm verbündete Milizen wie die Hisbollah ihren militärischen Einfluss in dem Land ausweiten. Seit Beginn des Gaza-Kriegs haben die Angriffe zugenommen. Nach dem mutmaßlich israelischen Luftangriff vor wenigen Tagen auf ein Gebäude der iranischen Botschaft in Syrien hatte die Hisbollah erklärt, der Angriff werde nicht ohne Folgen bleiben. Auch der Iran hat mit Vergeltung gedroht. Der Iran ist der größte Unterstützer der Hisbollah. Die Miliz kämpft politisch, aber auch mit Gewalt gegen Israel.
Irland will einen Staat Palästina formell anerkennen
Irland hat sich unterdessen für eine Zweistaatenlösung ausgesprochen und will Palästina in Kürze formell als Staat anerkennen. Das sagte der stellvertretende irische Premier und Außenminister Micheál Martin am Dienstagabend Medienberichten zufolge in Dublin. Die Anerkennung hinauszuzögern, sei „nicht länger glaubwürdig oder haltbar“. Irland gehört seit Kriegsbeginn zu den Kritikern des israelischen Vorgehens im Gazastreifen. Mit einer Zweistaatenlösung ist ein unabhängiger palästinensischer Staat gemeint, der friedlich Seite an Seite mit Israel existiert. Israels Ministerpräsident Netanjahu lehnt dies ebenso ab wie die Hamas. Auslöser des Krieges war ein Massaker, das Terroristen der Hamas sowie anderer Gruppen am 7. Oktober in Israel verübten. Dabei wurden mehr als 1200 Menschen getötet. Bei israelischen Gegenangriffen wurden nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde bisher 33 360 Palästinenser in Gaza getötet, wobei die unabhängig kaum zu überprüfende Angabe nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten unterscheidet./ln/DP/mis
UKRAINE
n-tv aktuell UKRAINE
+++ 08:41 Erneut russische Luftangriffe auf Energieanlagen in der Südukraine +++
Bei russischen Luftangriffen in der vergangenen Nacht sind nach Kiewer Militärangaben im Süden der Ukraine mehrere Anlagen der Energieversorgung beschädigt worden. In der Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer wurde demnach ein nicht näher bezeichnetes Objekt der Stromversorgung getroffen. In einer Energieanlage im Gebiet Mykolajiw sei ein Brand ausgebrochen, teilte die Militärpressestelle für den Süden der Ukraine auf ihrem Telegram-Kanal mit. Wie schwer dort der Schaden sei, müsse noch festgestellt werden. Nach Zählung der ukrainischen Luftwaffe setzte die russische Armee 17 Kampfdrohnen iranischer Bauart ein, von denen 14 abgeschossen worden seien. Schon gestern Abend seien zwei Marschflugkörper Ch-59 abgefangen worden, die in Richtung Odessa flogen. Außerdem seien von der durch Russland annektierten Halbinsel Krim zwei Marschflugkörper des Typs Iskander-K und eine ballistische Rakete Iskander-M gestartet worden.
+++ 07:50 Ukrainisches Militär: Robotyne nicht wieder unter russischer Kontrolle +++
Das ukrainische Militär bestreitet, dass Russland Robotyne unter seine Kontrolle gebracht hätte. Russland sei es nicht gelungen, im Frontdorf Robotyne in der Oblast Saporischschja Fuß zu fassen, erklärten die Südlichen Streitkräfte der Ukraine und dementierten damit frühere Behauptungen eines regionalen Beamten. Das berichtet die ukrainische Zeitung „Kyiv Independent“. Das Dorf Robotyne, das etwa 15 Kilometer südlich von Orichiw und 70 Kilometer südöstlich von Saporischschja liegt, wurde von der Ukraine während ihrer Gegenoffensive im Sommer 2023 befreit und liegt seitdem an vorderster Front. Das ukrainische Militär erklärte, die Lage sei „im Wandel“, aber nicht kritisch.
+++ 06:32 Bericht: Camerons Bemühungen bei Trump um Milliarden-Hilfspaket für Ukraine offenbar gescheitert +++
Der britische Außenminister ist laut einem Bericht mit dem Versuch gescheitert, Trump von der Ukraine-Hilfe zu überzeugen. David Camerons Bemühungen, den früheren US-Präsidenten davon zu überzeugen, dem US-Kongress die Gewährung von 60 Milliarden Dollar Militärhilfe für die Ukraine zu gestatten, waren offenbar erfolglos. Das berichtet die britische Zeitung „Guardian„. Demnach wurde dem britischen Außenminister ein Treffen mit Parlamentssprecher Mike Johnson verweigert. Hintergrund ist eine innenpolitische Blockade im US-Kongress, wo Republikaner – angetrieben von Trump – weitere Hilfen für Kiew zurzeit verweigern.
+++ 06:04 USA warnen China vor Konsequenzen bei russischen Gebietsgewinnen in der Ukraine +++
Die USA warnen China, das Land bei russischen Gebietsgewinnen in der Ukraine zur Verantwortung zu ziehen. US-Vizeaußenminister Kurt Campbell sagte, russische Gebietsgewinne könnten das Kräfteverhältnis in Europa „in einer Weise verändern, die offen gesagt inakzeptabel ist“. „Wir haben China direkt gesagt, dass sich das, wenn das so weitergeht, auf die Beziehungen zwischen den USA und China auswirken wird. Wir werden nicht tatenlos zusehen und sagen, dass alles in Ordnung ist.“ Das stehe „im Widerspruch zu unseren Interessen“, fuhr Campbell fort. Er sagte, für die Vereinigten Staaten sei die Aufrechterhaltung von Frieden und Stabilität in Europa die historisch wichtigste Mission. Campbell antwortete auf eine Frage zu einem Besuch des russischen Außenministers Sergej Lawrow am Dienstag in China.
+++ 04:31 Ukraine meldet 50 Explosionen im Gebiet Sumy +++
Wie die Regionalverwaltung mitteilt, haben die russischen Streitkräfte im Laufe des Tages sechs Gemeinden in der nordöstlichen ukrainischen Oblast Sumy angegriffen. In den vergangenen 24 Stunden wurden im Gebiet Sumy mindestens 50 Explosionen gemeldet. Betroffen sind die Gemeinden Yunakivka, Bilopillia, Krasnopillia, Okhtyrka, Esman und Seredyna-Buda.
+++ 03:10 Prüfung des ukrainischen Mobilisierungsgesetzes abgeschlossen +++
Der ukrainische Ausschuss für nationale Sicherheit und Verteidigung hat die Prüfung aller Änderungsanträge zu einem Mobilisierungsgesetz abgeschlossen und die Bestimmungen zur Demobilisierung und Rotation von Militärangehörigen gestrichen, sagt der Abgeordnete Oleksii Honcharenko. Der Gesetzentwurf werde heute im Plenarsaal behandelt, so der Abgeordnete. Die ukrainische Regierung hofft, den rechtlichen Rahmen für die Wehrpflicht zu aktualisieren, um die Mobilisierung im Jahr 2024 zu beschleunigen. Das Parlament wird sich nun mit einem neuen Entwurf des Mobilisierungsgesetzes befassen, nachdem die ursprüngliche, umstrittene Fassung zurückgezogen worden war.
+++ 01:33 Selenskyj besucht Frontstellungen in Charkiw +++
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Befestigungslinien in Charkiw inspiziert. Bei dem Besuch bat er erneut um militärische Unterstützung, um die nordöstliche Region vor verstärkten Angriffen durch Russland zu schützen. Er dankte den Einwohnern und Geschäftsleuten dafür, dass sie der Bedrohung standhielten. Zudem bekräftigte er den Verteidigungswillen der Ukraine. „Alles, was Putin anfasst, wird in Trümmer verwandelt. Wir müssen alles Mögliche und Unmögliche tun, um so viele unserer Städte und Gemeinden wie möglich davor zu schützen“, sagte Selenskyj.
+++ 00:32 USA verkauft Ukraine Ausrüstung für „Hawk“-Abwehrsystem +++
Die USA werden einem Insider zufolge der Ukraine Ausrüstung für die Instandsetzung und Aufrüstung des „Hawk“-Luftabwehrsystems verkaufen. Der Wert beträgt 138 Millionen Dollar, wie die Nachrichtenagentur Reuters aus Kreisen des US-Außenministeriums erfährt. Das Geschäft werde im Rahmen eines Notfallprogramms abgewickelt. Die Republikaner im Kongress blockieren gegenwärtig milliardenschwere Militärhilfen für die Ukraine.
+++ 22:16 Selenskyj: Trumps angeblicher Friedensplan „sehr primitiv“ +++
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj äußert sich in einem Interview skeptisch zum angeblichen Friedensplan Donald Trumps. Der ehemalige US-Präsident soll diesen einem Bericht der „Washington Post“ zufolge in privaten Gesprächen skizziert haben. Demnach sieht der Plan vor, die Ukraine unter Druck zu setzen, einige Gebiete aufzugeben. Selenskyj sagt dazu nun in einem „Bild“-Interview: „Wenn der Deal darin besteht, dass wir einfach unsere Territorien abgeben und wenn das die Idee ist, dann ist die Idee sehr primitiv“, kritisiert der ukrainische Präsident. „Ich denke, wenn Trump tatsächlich einen eigenen Ansatz hat, um den Krieg schnell zu beenden, dann würde ich mir sehr gerne die Idee anhören. Aber wir brauchen starke Argumente. Wir brauchen keine fantastische Idee, sondern eine reale. Es geht hier um Menschenleben, wir können keine Witze machen und keine Risiken eingehen“, so Selenskyj.
+++ 21:02 Russen sollen Perwomajske erobert haben +++
Die russische Armee soll den Ort Perwomajske in der Region Donezk im Osten der Ukraine erobert haben. Das berichtet der Telegramkanal Deep State, der dem ukrainischen Verteidigungsministerium nahesteht. Vor dem Krieg lebten in Perwomajske rund 2000 Menschen. Der Ort, der zehn Kilometer von Awdijiwka entfernt ist, war seit August 2022 heftig umkämpft.
+++ 20:19 UN: Starker Anstieg der getöteten Zivilisten im März +++
Im März sind der UN-Beobachtungsmission zufolge in der Ukraine mindestens 604 Zivilisten getötet oder verletzt wurden. Dies entspreche einem Anstieg von 20 Prozent gegenüber Februar, teilt das UN-Menschenrechtsbüro mit. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat in der vergangenen Woche gesagt, dass Russland allein im März über 3000 gelenkte Luftbomben, 600 Drohnen und 400 Raketen auf die Ukraine abgefeuert habe.
+++ 19:34 Moskau dementiert: Brauchen kein Benzin aus Kasachstan +++
Das Energieministerium in Moskau weist eine Meldung der Nachrichtenagentur Reuters zurück, nach der es Kasachstan gebeten haben soll, Benzin-Vorräte für Russland anzulegen. Eine entsprechende Bitte sei nicht an Kasachstan herangetragen worden. Reuters hat zuvor berichtet, drei Insider der Branche hätten erklärt, Russland habe Kasachstan um Hilfen bei möglichen Ausfällen eigener Benzin-Vorräte infolge ukrainischer Drohnenangriffe gebeten.
Ukraine greift Ölraffinerien an Moskau bittet Kasachstan um Hilfe bei Benzin-Mangel – 8.4.2024
+++ 17:29 Selenskyj: Russland will Einwohner aus Charkiw vertreiben +++
Nach den verheerenden russischen Angriffen auf die ostukrainische Region Charkiw informiert sich Präsident Wolodymyr Selenskyj vor Ort über die Situation. „Es werden gerade alle Voraussetzungen für eine Verringerung des Stromdefizits geschaffen“, sagt Selenskyj in einer Videobotschaft. Es solle weniger Stromabschaltungen geben. Es werde an einer Behebung der Schäden an den Netzen gearbeitet. Der Präsident wirft Russland vor, über die Raketenangriffe und Bombardierungen von Charkiw und Umgebung die Menschen aus der Millionenstadt und der Region vertreiben zu wollen. „Alles, was Putin anfasst, verwandelt sich in Ruinen“, sagt Selenskyj. Kiew werde jedoch alles tun, um die Stadt besser vor russischen Angriffen zu schützen. „Wir haben eine Lösung, um die Flugabwehr hier zu verstärken.“ Selenskyj appelliert zugleich an die internationalen Verbündeten, mehr für eine Stärkung der ukrainischen Flugabwehr zu tun – nicht nur in Charkiw. Ebenso inspizierte der Staatschef den Fortschritt beim Bau von Verteidigungslinien entlang der russischen Grenze. Zuletzt hatten sich Befürchtungen über einen neuen russischen Vorstoß in Richtung der nach Kiew zweitgrößten ukrainischen Stadt gehäuft.
Double-Tap-Taktik Russland wendet in der Ukraine eine in Syrien erprobte Terror-Methode an
+++ 16:55 Russland ermittelt gegen westliche Länder wegen „Terrorismusfinanzierung“ +++
Russland hat Ermittlungen wegen „Terrorismusfinanzierung“ eingeleitet, in die westliche Länder angeblich verwickelt sein sollen. Dabei geht es nach Angaben des Moskauer Ermittlungskomitees um Gelder für Unternehmen in der Ukraine, die für „terroristische Taten“ in Russland benutzt wurden. Dabei nannte die Behörde auch das ukrainische Gasunternehmen Burisma, bei dem der Sohn des US-Präsidenten Joe Biden, Hunter Biden, angestellt war. Die Ermittlungen zielten darauf ab, „Verbindungen zwischen den direkten Tätern von Terroranschlägen und ihren ausländischen Auftraggebern, Organisationen und Sponsoren“ festzustellen. Moskau wirft dem Westen und der Ukraine vor, hinter dem Angriff auf eine Konzerthalle in Russland im vergangenen Monat zu stecken, bei dem 144 Menschen getötet wurden. Die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) bekannte sich zu dem Angriff. US-Vertreter erklärten, sie hätten Moskau im Vorfeld vor einem bevorstehenden Angriff gewarnt.
+++ 16:17 Museum der „Spezialoperation“ in Russland angegriffen +++
Ein propagandistisches Museum in der russischen Stadt Saratow, das dem Angriff auf die Ukraine gewidmet ist, ist heute Nacht angegriffen worden. Wie lokale Medien berichten, schlug ein Unbekannter ein Fenster des Museums der „militärischen Spezialoperation“ ein und warf einen Molotow-Cocktail hinein. Das Feuer wurde von Sicherheitsmitarbeiter schnell gelöscht. Beschädigt wurden nur die Vorhänge und das Fenster. Das Museum wurde im Sommer 2023 eröffnet und erzählt den Besuchern von angeblichen „Heldentaten“ der russischen Soldaten und „Verbrechen“ der Ukrainer in der Ukraine. Das Gebäude wurde bereits im Dezember 2023 angegriffen. Die Behörden nahmen damals einen 21-Jährigen fest und warfen ihm Terrorismus vor.
+++ 15:11 Russischer Aktienmarkt auf höchstem Wert seit Kriegsbeginn +++
Die Kurse am russischen Aktienmarkt haben erstmals ihr kurz vor dem Einmarsch in die Ukraine erreichtes Hoch geknackt. Der auf der Landeswährung Rubel basierende MOEX-Index stieg um 0,2 Prozent auf 3422,3 Punkte. Er notiert damit auf dem höchsten Stand seit dem 21. Februar 2022 – drei Tage später marschierten russische Truppen in das Nachbarland ein. Als Grund für die jüngsten Kursgewinne nennen Analysten Äußerungen von Zentralbankchefin Elvira Nabiullina. Diese hat signalisiert, dass der Leitzins von aktuell 16 Prozent in der zweiten Jahreshälfte gesenkt werden könnte. „Wenn sich die Inflation verlangsamt, werden wir den Leitzins senken“, sagte Nabiullina im Parlament. Auch die hohen Ölpreise helfen den russischen Aktien. Rohöl der Sorte Brent, ein weltweiter Referenzwert für Russlands wichtigstes Exportgut, verteuerte sich um 0,2 Prozent auf 90,54 Dollar pro Barrel.
+++ 14:33 Neuer Drohnenangriff bei AKW Saporischschja gemeldet +++
Im Bereich des besetzten ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja ist erneut ein Drohnenangriff gemeldet worden. Nach Angaben des russischen Managements der Anlage wurde ein Ausbildungszentrum neben dem Kraftwerk angegriffen. Die berichtete Explosion decke sich mit Beobachtungen von Experten der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), die vor Ort stationiert sind, teilt IAEA-Chef Grossi auf X mit. „Diesmal keine unmittelbare Bedrohung der Atomsicherheit, aber dieser jüngste Vorfall zeigt einmal mehr, wie extrem ernst die Lage ist“, sagt Grossi. Am Sonntag war das AKW an drei Stellen von Drohnen angegriffen worden. Laut einem Bericht der IAEA kam es zu keinen schweren Schäden. Dennoch wertete die in Wien ansässige Behörde den Angriff als „schweren Vorfall“, der die Strahlenschutzhülle eines Reaktors in Gefahr gebracht habe.
Wie wahrscheinlich ist ein GAU? Munz: Man darf nach AKW-Angriff „keine Panik verbreiten“
+++ 13:51 Video zeigt russischen Eigenbau: So ruckelt der klobige „Schildkröten-Panzer“ durch die Ukraine +++
Im Netz kursieren Videos aus der Ukraine, die einen russischen Panzer mit Anti-Drohnen-Verkleidung zeigen sollen. Welcher Panzer sich unter der großflächigen Abdeckung verbirgt, ist unklar. Die Innovation ist wohl auf den massiven Druck durch ukrainische Kampfdrohnen zurückzuführen.
Video zeigt russischen Eigenbau Klobiger „Schildkröten-Panzer“ ruckelt durch Ukraine
+++ 13:37 Selenskyj: Charkiw braucht zuverlässigen Schutz vor „ständigem russischen Terror“ +++
Angesichts der wiederholten schweren Angriffe auf die ukrainische Stadt Charkiw richtet Präsident Wolodymyr Selenskyj erneut das Wort an die Unterstützer der Ukraine. „Charkiw braucht zuverlässigen Schutz vor dem ständigen russischen Terror“, schreibt der Staatschef in einer Mitteilung in seinen sozialen Kanälen. Es gehe um Luftabwehrsysteme und Raketen. „Die Welt hat kein Recht, gleichgültig zu bleiben in einer Zeit, in der Russland Tag für Tag Städte zerstört und Menschen in ihren Häusern tötet.“ Außerdem dankte Selenskyj allen, die helfen, die Folgen der russischen Angriffe abzumildern und die Schäden zu beseitigen. Zudem veröffentlichte er Aufnahmen, die die Schäden zeigen.
+++ 13:22 Ukraine: Russische Soldaten haben seit Kriegsbeginn mindestens 54 Kriegsgefangene ermordet +++
Die ukrainischen Behörden ermitteln seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine in bislang 27 Fällen, in denen Russen insgesamt 54 ukrainische Kriegsgefangene hingerichtet haben sollen. Dies erklärte der Leiter der zuständigen Abteilung, Jurij Bieloussow, wie die staatliche Nachrichtenagentur Ukrinform unter Berufung auf die Generalstaatsanwaltschaft berichtet. „Der Generalstaatsanwaltschaft liegen 27 Strafverfahren im Zusammenhang mit der Hinrichtung ukrainischer Kriegsgefangener vor. Wir sprechen von der Ermordung von 54 Verteidigern“, teilte Bieloussow demnach mit.
+++ 12:52 Ukraine meldet mehrere Tote und Verletzte nach russischen Angriffen +++
Bei russischen Raketen- und Bombenangriffen in der Ukraine sind mehrere Menschen getötet und verletzt worden. In Poltawa im Zentrum des Landes forderte ein Raketenangriff in der vergangenen Nacht Behördenangaben zufolge mindestens ein Todesopfer und zwölf Verletzte, ein zweistöckiges Wohnhaus wurde dabei beschädigt. Im nordukrainischen Gebiet Sumy wurden gestern ein Mensch bei russischen Luftangriffen getötet und mindestens sechs Menschen verletzt. Zudem wurde eine Person im Gebiet Donezk getötet, fünf weitere wurden verwundet. Weitere mindestens vier Verletzte gab es in den Gebieten Charkiw und Cherson. Bei den russischen Angriffen wurden Dutzende Wohnhäuser beschädigt oder zerstört. Die Zahl der Opfer nach russischen Raketenangriffen gestern im südostukrainischen Gebiet Saporischschja stieg auf vier Tote und acht Verletzte, teilte Gouverneur Iwan Fedorow mit.
+++ 11:58 ntv-Korrespondent Munz: Lawrow bereitet womöglich Putins China-Besuch vor +++
Russlands Außenminister Sergej Lawrow befindet sich zu Gesprächen in China. Im Zentrum gehe es um den Ukraine-Krieg und Pekings „russlandfreundlichen Friedensplan“, berichtet ntv-Korrespondent Rainer Munz. Laut chinesischen Analysten könnte Lawrow zudem einen möglichen Besuch Putins vorbereiten.
„Ukraine-Krieg steht im Zentrum“ Munz: Lawrow bereitet womöglich Putins China-Besuch vor
+++ 11:36 Hilfe für die Front: Ukraine erhält 20 weitere Schützenpanzer von Rheinmetall +++
Rheinmetall liefert 20 weitere Schützenpanzer an die Ukraine. Man habe einen entsprechenden Auftrag der Bundesregierung mit einem Wert im mittleren zweistelligen Millionen-Euro-Bereich erhalten, teilte die Firma am Dienstag in Düsseldorf mit. Die Auslieferung der „Marder“ soll bis Jahresende erfolgen – dann wird die Waffenschmiede der Ukraine insgesamt 120 Schützenpanzer bereitgestellt haben. Es handelt sich um alte Panzer, die Rheinmetall modernisiert. Den Auftrag bezahlt die Bundesregierung im Rahmen ihrer Unterstützung des von Russland angegriffenen Staates. Außerdem hatte die Bundeswehr 20 eigene Marder an die Ukraine übergeben. Rheinmetalls Zentrale ist in Düsseldorf und sein größtes Werk im niedersächsischen Unterlüß. Die Firma lieferte der Ukraine zahlreiche andere Rüstungsgüter, darunter Artillerie- und Panzermunition.
+++ 10:49 Ukraine attackiert mit Drohnen Fliegerausbildungszentrum in Russland +++
Die Ukraine hat in der vergangenen Nacht ein Fliegerausbildungszentrum in der westrussischen Region Woronesch mit Drohnen angegriffen. Laut ukrainischen Medien richteten die Einschläge „erheblichen Schaden in der Hauptproduktionshalle“ des Lehrzentrums in der Stadt Borissoglebsk an. Der ukrainische Militärgeheimdienst hat sich demnach bereits zum Angriff bekannt. Russische Medien berichteten hingegen lediglich von kaputten Fenstern und leichten Schäden an der Fassade. Unabhängig lassen sich die Berichte nicht prüfen. In den veröffentlichten Videos sind Explosionen zu hören und in der Ferne ist ein Feuerschein zu sehen. Das russische Verteidigungsministerium meldete nur den Abschuss von zwei Drohnen über der Region.
Explosionen in Videos zu hören Ukraine attackiert Lehrzentrum in Westrussland
+++ 10:24 China für zeitnahe Verhandlungen zwischen Russland und Ukraine +++
China spricht sich für zeitnahe Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine aus. Der chinesische Außenminister Wang Yi schlage eine Konferenz vor, die die gleichberechtigte Teilnahme beider Länder anerkenne und auf der Friedensvorschläge auf Augenhöhe diskutiert werden könnten, teilt das Außenministerium der Volksrepublik mit. Wang habe sich bei einem Treffen mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow in Peking entsprechend geäußert, sagt ein Sprecher des Ministeriums.
+++ 09:48 Lawrow sieht in China Partner für „doppelte Antwort“ gegen den Westen +++
Moskau und Peking wollen sich nach Angaben von Russlands Außenminister Sergej Lawrow gemeinsam gegen die angebliche Hegemonialpolitik des Westens stemmen. Die Idee einer „doppelten Antwort“ auf die gegen beide Länder betriebene Eindämmungspolitik stamme von seinem Kollegen Wang Yi, sagte der russische Chefdiplomat auf der gemeinsamen Pressekonferenz in der chinesischen Hauptstadt. „Und mehr als einmal haben unsere Führer, Präsident (Wladimir) Putin und Staatschef Xi Jinping, Russlands und Chinas Entschlossenheit betont, sich allen Versuchen zu widersetzen, die Bildung einer multipolaren Welt und die lang überfälligen Prozesse der Demokratisierung und Gerechtigkeit zu bremsen.“ Genau das würden die USA und ihre Verbündeten allerdings versuchen, behauptete Lawrow. Der 74-Jährige betonte, dass die Beziehungen beider Länder auf einem Allzeithoch seien.
WIEDERHOLUNG: 9.4.2024
+++ 07:13 Moskau: Ukrainischen Drohnenangriff vor der Krim abgewehrt +++
Das russische Militär hat nach eigenen Angaben eine ukrainische Neptun-Rakete zur Bekämpfung von Schiffen über dem Schwarzen Meer vor der Halbinsel Krim zerstört. Zudem seien vier ukrainische Drohnen über den russischen Regionen Belgorodund Woronesch abgeschossen worden, teilt das Verteidigungsministerium in Moskau über bei Telegram mit.
+++ 06:40 Russische Medien: China will „strategische Zusammenarbeit“ mit Russland verstärken +++
China will russischen Staatsmedien zufolge die „strategische Zusammenarbeit“ mit Russland verstärken. „Peking und Moskau werden die strategische Zusammenarbeit auf der Weltbühne weiter stärken und sich gegenseitig kräftig unterstützen“, sagte Chinas Außenminister Wang Yi nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti. Derzeit hält sich sein russischer Kollege Sergej Lawrow zu einem zweitägigen offiziellen Besuch in China auf. „Die Unterstützung des Volkes ist die Quelle des Fortschritts in Russland“, sagte Wang laut der staatlichen russischen Zeitung „Iswestija“. „Ich denke, dass das russische Volk unter der starken Führung von Präsident (Wladimir) Putin eine glänzende Zukunft haben wird.“ In Gesprächen sagte der chinesische Außenminister zudem, China werde die „stabile Entwicklung unter der Führung von Putin unterstützen“.
+++ 06:29 ISW: Moskau will mithilfe pro-russischer Persönlichkeiten in Moldawien die Demokratie schwächen +++
Die US-Denkfabrik „Institute für the the Study of War“ (ISW) ist überzeugt, dass der Kreml versucht, pro-russische Persönlichkeiten in Moldawien zu benutzen, um die moldawische Demokratie und Gesellschaft zu destabilisieren. Auf diese Weise will Russland nach Einschätzung der US-amerikanischen Analysten den Beitritt der Republik Moldau zur Europäischen Union verhindern oder sogar zukünftige Operationen gegen die Republik Moldau rechtfertigen. Die dem Kreml nahestehende Gouverneurin der prorussischen moldauischen autonomen Region Gagausien, Evgenia Gutsul, hatte angedeutet, dass rumänische Beamte die moldauische Regierung kontrollieren. Dies war der jüngste in einer Reihe von Versuchen des Kremls, die Souveränität europäischer pro-westlicher Regierungen infrage zu stellen.
+++ 06:14 Ukrainischer Kommandeur: 20 russische Drohnenangriffe erfolgreich abgewehrt +++
Die Luftabwehrsysteme der Ukraine haben alle 20 von Russland gestarteten Drohnenangriffe abgewehrt, teilt der Kommandeur der ukrainischen Luftwaffe, Mykola Oleschtschuk, mit. Die Drohnen seien über Mykolajiw, Odessa, Cherson, Dnipropetrowsk, Poltawa, Winnytsija und Lemberg abgeschossen worden. Russland habe auch vier Raketen abgefeuert. Was mit ihnen passiert sei, teilt der Kommandeur auf Telegram nicht mit.
+++ 05:39 US-Außenministerium: Russland spielt „sehr gefährliches Spiel“ mit Kernkraftwerk Saporischschja +++
Die USA überwachen weiterhin die Bedingungen im Kernkraftwerk Saporischschja, nachdem Berichte über Angriffe auf den Hauptreaktor der Anlage bekannt wurden, sagt der Sprecher des Außenministeriums Matthew Miller. „Sie haben bereits von uns gehört, dass wir der Meinung sind, dass Russland mit der militärischen Inbesitznahme des ukrainischen Kernkraftwerks, des größten in Europa, ein sehr gefährliches Spiel treibt“, so Miller. „Es ist gefährlich, dass sie das getan haben, und wir fordern Russland weiterhin auf, sein militärisches und ziviles Personal aus dem Kraftwerk abzuziehen, die volle Kontrolle über das Kraftwerk an die zuständigen ukrainischen Behörden zurückzugeben und alle Maßnahmen zu unterlassen, die zu einem nuklearen Zwischenfall im Kraftwerk führen könnten.“
+++ 02:42 Ukraine und Ungarn eröffnen neuen Grenzübergang +++
Die Ukraine und Ungarn einigen sich darauf, einen neuen Grenzübergang für Personenkraftwagen in Velyka Palad-Nagyhodos zu eröffnen und den Grenzübergang Luzhanka-Berehshuran für leere Fahrzeuge mit einem Gewicht von mehr als 7,5 Tonnen zu erweitern, teilt das ukrainische Infrastrukturministerium. Derzeit gibt es fünf Straßenübergänge zwischen den beiden Ländern: Tschop-Sachon, Luschanka-Berechschuran, Kosyno-Barabas, Dzvinkove-Lonya und Wylok-Tisabech. Nur der erste ist für Lkw mit einem Gewicht von über 7,5 Tonnen zugelassen. Täglich passieren rund 220 Lkw diesen Kontrollpunkt in Richtung Ungarn. Da polnische Landwirte und Lkw-Fahrer den Verkehr an der polnischen Grenze durch anhaltende Proteste gegen die Einfuhr ukrainischer Agrarerzeugnisse und den Green Deal der EU blockiert haben, versucht die Ukraine, den Exportfluss über andere Routen zu erhöhen.
+++ 01:36 Cameron will im US-Kongress für Freigabe von Ukraine-Hilfen werben +++
Der britische Außenminister David Cameron wird am Dienstag in den USA erwartet. Cameron wolle den US-Kongress zur Freigabe von Hilfen für die Ukraine drängen, wie sein Ministerium mitteilt. Er wolle sich sowohl mit führenden Politikern der Demokraten als auch der Republikaner treffen. Die Republikaner blockieren seit Wochen ein milliardenschweres Hilfspaket für die Ukraine. Cameron wolle die Wichtigkeit der USA für die Ukraine betonen. Das Land brauche die militärische und humanitäre Unterstützung, um die Stellung gegen Russland halten und 2025 in die Offensive gehen zu können. Cameron wolle bei einem Gespräch mit US-Außenminister Antony Blinken auch den Gazakrieg thematisieren.
8.4.2024
+++ 22:09 Selenskyj: Maximale Anstrengungen für Schutz von Charkiw +++
Die Ukraine unternimmt nach den Worten von Präsident Wolodymyr Selenskyj „maximale Anstrengungen“ für Schutz und Unterstützung der Großstadt Charkiw im Osten des Landes. Dies gelte sowohl für den zivilen als auch den militärischen Bereich, unterstreicht Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache. „Wir arbeiten mit unseren Partnern an der Stärkung des Luftverteidigungssystems, um den russischen Plänen für Charkiw zu begegnen.“ Nach Dafürhalten der ukrainischen Aufklärung dürfte die nächste russische Großoffensive gegen Charkiw gerichtet sein. Jüngste russische Angriffe gegen die Stadt haben dort schwere Zerstörungen angerichtet und unter anderem die Stromversorgung zum Erliegen gebracht.
+++ 21:48 EU-Einigung auf strengere Zoll-Vorgaben für ukrainische Agrarwaren +++
Unterhändler des Europaparlaments und der EU-Staaten einigen sich auf strengere Zollvorgaben für bestimmte Lebensmittel aus der Ukraine. Konkret geht es um Geflügel, Eier, Zucker, Hafer, Mais, Grobgrieß und Honig, wie das Europaparlament mitteilt. Von den Regeln betroffene Waren dürften dann nur noch bis zu einer bestimmten Menge zollfrei in die EU importiert werden. Wenn diese Menge erreicht ist, sollen wieder Zölle fällig werden. Die Einigung muss noch vom Europaparlament und den EU-Staaten offiziell abgesegnet werden. Wie stark die Zölle die ukrainische Wirtschaft belasten werden, hängt auch davon ab, ob das Land andere Abnehmer für seine Waren findet.
+++ 20:43 Russland: Haben IAEA-Dringlichkeitssitzung einberufen +++
Russland hat nach eigenen Angaben wegen der Drohnenangriffe auf das Kernkraftwerk Saporischschja eine Dringlichkeitssitzung des Rates der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) einberufen. Der russische Vertreter im Rat, Michail Uljanow, schreibt auf X, Hintergrund seien die „jüngste Angriffe und Provokationen“ der Ukraine. Eine Stellungnahme der Regierung in Kiew liegt nicht vor. Sie hat jede Verwicklung zurückgewiesen.
Angriffe auf AKW Saporischschja Russland beruft IAEA-Dringlichkeitssitzung ein
Frühere Meldungen zum 8.4.2024 waren wegen „Datumssalat“ auf n-tv nicht greifbar. Hier werden sie nachgereicht:
+++ 19:49 Pistorius: Im Zweifelsfall neue Schulden für mehr Sicherheit +++
Verteidigungsminister Boris Pistorius spricht sich dafür aus, bei der Schuldenbremse über eine generelle Ausnahme für die Erfordernisse der inneren und äußeren Sicherheit nachzudenken. In der ZDF-Sendung „Was nun, Herr Pistorius“ machte er klar, dass er keine Möglichkeit sieht, den Finanzbedarf der Bundeswehr alleine durch Sparmaßnahmen an anderer Stelle zu decken. „Es wird nicht alleine durch Umschichtung gehen bei den Beträgen, über die wir reden. Im Zweifel wird man auch über zusätzliche Schulden reden müssen in dieser Koalition oder in der nächsten.“
+++ 19:00 Lawrow spricht in Peking mit Chinas Führung +++
Der russische Außenminister Sergej Lawrow ist zu einem Besuch in der chinesischen Hauptstadt Peking eingetroffen. Eine Sprecherin des russischen Außenministeriums sagt laut einem Bericht der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass, Lawrow wolle in Peking die Lage in der Ukraine und im asiatisch-pazifischen Raum sowie Fragen der bilateralen Zusammenarbeit erörtern. Das Außenministerium verbreitet ein Foto, das Lawrow bei einem Treffen mit seinem chinesischen Kollegen Wang Yi zeigt. Das chinesische Außenministerium äußert sich nicht dazu.
+++ 18:20 „Uns fehlen Menschen“ – Chef der Bodentruppen ruft Ukrainer zu den Waffen +++
Der Kommandeur der ukrainischen Bodentruppen, Oleksandr Pawliuk, ruft die Ukrainer dazu auf, sich den Streitkräften anzuschließen. Das teilt er auf Facebook mit. „Egal wie viel Hilfe wir bekommen, wie viele Waffen wir haben – uns fehlen Menschen“, schreibt Pawliuk . Der Kommandant betont, dass das Rekrutierungssystem „nicht perfekt“ sei, aber die Behörden daran arbeiten würden, es zu verbessern. „Jeder, der als diensttauglich geprüft wurde, wird ausnahmslos in die Ausbildungszentren gehen. Das Grundausbildungsprogramm dauert einen Monat“, so Pawliuk.
+++ 18:15 Ukrainischer Geheimdienst meldet Brandanschlag auf Kriegsschiff in Kaliningrad +++
Der ukrainische Militärgeheimdienst (HUR) gibt an, einen Brand auf dem russischen Raketenschiff Serpuchow verursacht zu haben. Auf Telegram teilt die Behörde mit, dass das Feuer das Schiff „unbrauchbar gemacht“ habe und dass die Kommunikationsmittel „völlig zerstört“ worden seien. Der HUR veröffentlicht dazu auch ein Video, dass den Brand auf dem Schiff zeigen soll. Die Serpuchow soll vor Kaliningrad vor Anker liegen.
+++ 17:17 Ukrainisches Militärs berät über Verteidigung von Charkiw +++
Unter dem Vorsitz des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj haben die führenden Militärs in Kiew über weitere Maßnahmen zum Schutz der Großstadt Charkiw beraten. „Das Hauptthema war Charkiw, die Verteidigung der Stadt gegen russische Angriffe und die Möglichkeit, unsere Luftabwehr und elektronische Kriegsführung in der Region Charkiw zu verstärken“, schreibt Selenskyj auf Telegram. Nach Dafürhalten der ukrainischen Militärs könnte die nächste russische Großoffensive gegen Charkiw gerichtet sein. „Wir halten unsere Positionen, die Hauptsache ist jetzt eine effiziente Logistik“, umreist Selenskyj die Lage an den Fronten.
+++ 16:45 Ukraine: 80 Prozent der Wärmekraftwerke wurden angegriffen +++
Russland hat in den vergangenen Wochen den Energiesektor der Ukraine nach Angaben Kiews so massiv angegriffen wie nie zuvor seit Beginn des Krieges. „Wir können sagen, dass bis zu 80 Prozent der Wärmekraftwerke angegriffen wurden, mehr als die Hälfte der Wasserkraftwerke und eine große Anzahl von Relaisstationen“ für die Stromübertragung, sagt der ukrainische Energieminister German Galuschtschenko vor Journalisten. Es handele sich um „den größten Angriff auf Ukraines Energiesektor“ seit Kriegsbeginn.
+++ 16:06 Trump-Berater: Bericht über Friedensplan ist „Fake News“ +++
Donald Trumps Wahlkampfberater Jason Miller hat den Bericht der „Washington Post“ über den angeblichen Friedensplan des ehemaligen US-Präsidenten als „Fake News“ bezeichnet. „Die ganze Sache ist eine Fake News der Washington Post. Die haben sich das nur ausgedacht“, sagt Miller der „New York Post“. Trump werde sich nicht auf einen Friedensplan festlegen, bevor er nicht gewählt worden sei. Die „Washington Post“ hatte berichtet, Trumps Plan bestehe darin, Kiew dazu zu drängen, die Halbinsel Krim und den Donbass an Russland abzutreten.
„Ein schrecklicher Deal“ Bericht: So will Trump Russlands Krieg in der Ukraine beenden
+++ 15:27 Kiew wirft Moskau „Falschinformationen“ zu Angriffen auf AKW Saporischschja vor +++
Nach Angriffen auf das Atomkraftwerk in Saporischschja wirft die Ukraine Russland vor, Falschinformationen zu verbreiten. Moskau greife das AKW mit Drohnen an „und gibt vor, dass die Bedrohung für die Anlage und die nukleare Sicherheit von der Ukraine ausgeht“, erklärt der Leiter des ukrainischen Zentrums für die Bekämpfung von Desinformation, Andrij Kowalenko. Laut der russischen Atombehörde Rosatom hatte es am Sonntag eine „Reihe von Angriffen“ auf das Atomkraftwerk im Süden der Ukraine gegeben. Eine Drohne habe die Kantine getroffen und drei Mitarbeiter verletzt. Weitere Drohnen trafen demnach den Frachthafen und das Dach eines der sechs Reaktoren.
Munz blickt nach Saporischschja AKW-Angriff „für keine der beiden Seiten plausibel“
+++ 14:52 Ex-Militär zu Selenskyj-Warnung: „Klingt dramatisch, ist aber überhaupt nicht so heiß“ +++
Selenskyj richtet sich mit einer Warnung an die westlichen Unterstützerstaaten: Sollten die USA weiter von ihrer Rolle abrücken, stehe die Ukraine mit dem Rücken zur Wand. Die Aussage dürfe man nicht überbewerten, sagt Konfliktforscher Walter Feichtinger. Russland kämpfe sich aber „Zentimeter für Zentimeter“ vor.
Ex-Militär zu Selenskyj-Warnung „Klingt dramatisch, ist aber überhaupt nicht so heiß“
+++ 14:18 Bericht: Russland setzt bei Benzin-Engpässen auf Kasachstan +++
Russland will sich Insidern zufolge im Falle von Benzinengpässen infolge der anhaltenden ukrainischen Drohnenangriffe auf Ölraffinerien an Kasachstan wenden. Das Nachbarland in Zentralasien sei darum gebeten worden, eine Notreserve von 100.000 Tonnen Benzin anzulegen, sagen drei Brancheninsider der Nachrichtenagentur Reuters. Diese könne dann aus der Ex-Sowjetrepublik nach Russland geliefert werden, um Versorgungslücken zu schließen. Einem der Insider zufolge sei bereits eine Vereinbarung über die Nutzung der Reserven für Russland getroffen worden.
Hunderte Kilometer hinter Grenze Russen bergen neuartige Ukraine-Drohne nach Luftschlag – 3.4.2024
+++ 13:58 Geld aus Russland angenommen? AfD-Spitze stellt sich trotz schwerer Vorwürfe hinter Petr Bystron +++
Die AfD-Spitze hält aktuell zu ihrem Europawahlkandidaten Petr Bystron. „Zum jetzigen Zeitpunkt muss der Bundesvorstand von der Unschuld Herrn Bystrons ausgehen“, hieß es nach Beratungen des AfD-Bundesvorstands in einer gemeinsamen Stellungnahme der Parteichefs Alice Weidel und Tino Chrupalla, die der Deutschen Presse-Agentur vorlag. Bystron habe sich heute im Vorstand zu den Vorwürfen gegen seine Person erklärt. „Er hat diesen vehement widersprochen und wird alle getätigten Aussagen schriftlich niederlegen.“ Bystron steht auf Platz zwei der Kandidatenliste der AfD für die Europawahl am 9. Juni. Die tschechische Zeitung „Denik N“ hatte berichtet, der Bundestagsabgeordnete stehe im Verdacht, mit der prorussischen Internetplattform „Voice of Europe“ (VoE) in Kontakt gestanden zu haben, die das Prager Kabinett jüngst auf die nationale Sanktionsliste gesetzt hatte. Möglicherweise habe er auch Geld entgegengenommen. Bei einer Kabinettssitzung soll Bystrons Name gefallen sein, wie die Zeitung unter Berufung auf mehrere Minister berichtete. Ein nicht genanntes Regierungsmitglied sagte demnach unter Berufung auf den Inlandsgeheimdienst BIS mit Bezug auf Bystron: „Sie können die Übergabe von Geld als Audio belegen.“
+++ 13:27 Ukraine: Russisches Rechenzentrum von Hackern „zerstört“ – Daten von Gazprom und Rosneft +++
Ukrainische Hacker mit Verbindungen zum Cyberdepartement des Sicherheitsdienstes SBU haben bei einem gemeinsamen Angriff ein russisches Cloud-Rechenzentrum „zerstört“. Das berichtet die staatliche ukrainische Nachrichtenagentur Ukrinform. Wie ein Korrespondent demnach aus eigenen Quellen erfahren habe, nutzten etwa 10.000 juristische Personen in Russland die Dienste des Anbieters OwenCloud.ru. Unter ihnen sollen auch Großunternehmen wie Gazprom, Rosneft, Lukoil, Transgaz, Norilsk Nickel sowie Rüstungsunternehmen sein. Auch Telekommunikationsunternehmen Rostelekom, Megafon und andere seien demnach betroffen. Laut Ukrinform war das ein gemeinsamer Angriff der Hackergruppe „Blackjack“ und des SBU- Cyberdepartements. Mehr als 300 Terabyte Daten dieser Unternehmen sollen auf 400 virtuellen und 42 physischen Server gelöscht worden sein. Dabei soll es sich um eine Vergeltungsaktion für den Hackerangriff auf das ukrainische Datacenter Parkowyj im Januar handeln.
+++ 13:04 Angriffe auf AKW: Ukraine wirft Moskau Verbreitung von „Falschinformationen“ vor +++
Nach Angriffen auf das Atomkraftwerk in Saporischschja wirft die Ukraine Russland vor, Falschinformationen zu verbreiten. Moskau greife das AKW mit Drohnen an „und gibt vor, dass die Bedrohung für die Anlage und die nukleare Sicherheit von der Ukraine ausgeht“, erklärt der Leiter des ukrainischen Zentrums für die Bekämpfung von Desinformation, Andrij Kowalenko. Die Anschuldigungen seien Teil einer „Kampagne von Provokationen und Falschinformationen“ gegen die Ukraine. Laut der russischen Atombehörde Rosatom hatte es gestern eine „Reihe von Angriffen“ auf das Atomkraftwerk Saporischschja im Süden der Ukraine gegeben. Eine Drohne habe die Kantine getroffen und drei Mitarbeiter verletzt. Nach Angaben aus Moskau handelt es sich dabei um ukrainische Drohnen.
Double-Tap-Taktik Russland wendet in der Ukraine eine in Syrien erprobte Terror-Methode an
+++ 12:36 Selenskyj: „Charkiw ist jeden Tag und jede Nacht abscheulichen russischen Angriffen ausgesetzt“ +++
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärt, die ukrainische Regierung tue ihr Bestes, um Charkiw mehr Schutz zu geben. „Charkiw ist jeden Tag und jede Nacht abscheulichen russischen Angriffen ausgesetzt“, schreibt der Staatschef in einem Update bei Telegram. Dazu postet er Fotos, die das Ausmaß der Schäden zeigen, die die wiederholten russischen Angriffe zuletzt verursacht haben. Selenskyj dankt den Einsatzkräften bei der ukrainischen Luftverteidigung und richtet erneut eine Bitte an die Verbündeten. „Die Partner können bei der Luftverteidigung helfen, sie können helfen“, so der ukrainische Präsident.
+++ 12:12 London: Russische Kliniken leiden wegen des Kriegs unter Geld- und Personalmangel +++
Wichtige zivile Dienste in Russland wie Krankenhäuser leiden nach britischer Darstellung unter den Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Grund seien die gewaltigen personellen und finanziellen Ressourcen, die für den Krieg bereitgestellt würden, teilt das britische Verteidigungsministerium mit. „Die Zahl der medizinischen Fachkräfte in Russland wird im Laufe des Jahres 2024 weiter sinken.“ Als Ersatz rekrutiere Russland medizinisches Personal in Afrika, heißt es unter Berufung auf die Denkfabrik Center for European Policy Analysis in Washington. Diese Mitarbeiter müssen demnach keine Qualifikationsnachweise vorlegen außer einer Selbsteinschätzung. Das Vorgehen gefährde die klinischen Leistungen, betont das britische Ministerium. Die Behörde zitierte den russischen Parlamentsvorsitzenden Wjatscheslaw Wolodin, der Anfang April von 30.000 fehlenden Ärztinnen und Ärzten gesprochen habe. Bei Bezirkskrankenhäusern liege der Mangel bei rund 50 Prozent. Das sei eine leichte Steigerung im Vergleich zum November 2023. Grund sei, dass einige Fachkräfte zu privaten Anbietern gewechselt seien und andere das Land verlassen hätten. Etwa 2 Prozent der Ärzte und des Fachpersonals seien ausgereist, um der Teilmobilmachung im September 2022 zu entgehen, heißt es in London weiter.
Ohne US-Militärhilfe Selenskyj warnt: Ukraine könnte Krieg verlieren
+++ 12:01 Moskau: Bundeswehr-Präsenz in Litauen eskaliert Spannungen +++
Die militärische Präsenz Deutschlands in Litauen eskaliert nach Ansicht Russlands die gegenwärtigen Spannungen. Das sagte der Sprecher des Präsidialamts in Moskau, Dmitri Peskow, mit Blick auf die Pläne Deutschlands, in Litauen eine Brigade der Bundeswehr mit rund 5000 Soldatinnen und Soldaten dauerhaft zu stationieren. Ein Vorauskommando deutscher Soldaten brach dazu Richtung Litauen auf. Einsatzbereit sein soll die Brigade an der Ostflanke der NATO bis zum Jahr 2027.
+++ 10:53 US-Finanzministerin warnt Chinas Firmen vor Handel für Moskaus Krieg +++
US-Finanzministerin Janet Yellen warnt Firmen in China davor, Produkte nach Russland zu exportieren, die auch für den Krieg Moskaus gegen die Ukraine verwendet werden können. „Ich habe betont, dass Firmen, jene in der Volksrepublik China eingeschlossen, keine materielle Unterstützung für Russlands Krieg bereitstellen dürfen und dass sie deutliche Konsequenzen spüren werden, wenn sie das machen“, sagte sie zum Abschluss ihrer Reise in Peking. Zudem setzen sich Yellen zufolge alle Banken der Gefahr von US-Sanktionen aus, die Überweisungen nach Russland ausführen, um damit der russischen Verteidigungsindustrie militärische oder andere für den militärischen Gebrauch verwendbare Güter zuzuführen. Die USA hatten bereits eine Reihe von Sanktionen gegen chinesische Firmen ausgerollt.
+++ 09:57 Cameron will bei USA-Besuch für Hilfspaket werben – „falls die Ukraine verliert, verlieren wir alle“ +++
Bei einem Besuch in den USA will der britische Außenminister David Cameron für die Freigabe eines 60 Milliarden Dollar teuren US-Hilfspakets für die Ukraine werben. Cameron werde in einem Gespräch mit dem republikanischen Vorsitzenden des US-Repräsentantenhauses, Mike Johnson, warnen, dass die USA die Sicherheit des Westens gefährdeten, falls die Republikaner die vom Senat genehmigten Finanzhilfen weiter blockieren. Das berichtete die britische Zeitung „Telegraph“. In einem Gastbeitrag für das Blatt betonten Cameron und sein französischer Kollege Stéphane Séjourné, die Ukraine müsse den Krieg gegen Russland gewinnen. „Falls die Ukraine verliert, verlieren wir alle. Die Kosten dafür, die Ukraine jetzt nicht zu unterstützen, werden weitaus höher sein als die Kosten, (Kremlchef Wladimir) Putin abzuwehren.“
+++ 09:22 ntv-Korrespondent Munz zu Saporischschja: AKW-Angriff „für keine Seite plausibel“ +++
Die russische Führung des besetzten Atomkraftwerkes in Saporischschja macht die Ukraine für die jüngste Angriffswelle verantwortlich, Kiew weist die Vorwürfe prompt zurück. Weder Moskau noch Kiew haben ein Interesse an einer Beschädigung der Anlage, wie ntv-Korrespondent Rainer Munz betont.
Munz blickt nach Saporischschja AKW-Angriff „für keine der beiden Seiten plausibel“
Munz blickt nach Saporischschja AKW-Angriff „für keine der beiden Seiten plausibel“ +++ 08:35 Ukraine meldet drei Tote bei russischem Angriff auf Saporischschja +++
Bei erneuten russischen Angriffen auf die südukrainische Region Saporischschja sind nach Angaben der örtlichen Behörden mindestens drei Menschen getötet worden. Im Bezirk Pologiwskyji seien drei Menschen getötet und drei weitere verletzt worden, teilte Regionalgouverneur Iwan Federow in Onlinenetzwerken mit. Innerhalb eines Tages hätten die russischen Streitkräfte acht bewohnte Gebiete in der Region 357-mal angegriffen, erklärte er. Bereits gestern waren in der Region Saporischschja ukrainischen Angaben zufolge drei Menschen durch russische Angriffe getötet worden. Moskau erklärte unterdessen, dass das von russischen Truppen besetzte Atomkraftwerk Saporischschja von einer ukrainischen Drohne getroffen worden sei. Russland hält die Region Saporischschja seit Beginn der Invasion in der Ukraine im Februar 2022 teilweise besetzt.
++ 08:08 Kiew: Wieder russische Angriffe auf ukrainische Infrastruktur +++
Die Ukraine meldet erneut russische Luftangriffe. Russland habe in der vergangenen Nacht mit 24 Drohnen vor allem kritische Infrastruktur im Süden und Osten des Landes in den Regionen Odessa, Mykolajiw, Kirowohrad, Chmelnyzky und Schytomyr angriffen, teilt die ukrainische Luftwaffe mit. 17 der Angriffsdrohen aus iranischer Produktion seien zerstört worden. Berichte über Verletzte liegen bislang nicht vor. (Mehr dazu auch im Eintrag um 06:48 Uhr)
+++ 07:51 Lawrow in China eingetroffen – Gespräche über Ukraine-Krieg geplant +++
Der russische Außenminister Sergej Lawrow ist in China eingetroffen, teilt das russische Außenministerium mit. Wie Reuters meldet, soll es nach Angaben Moskaus bei dem Treffen um Gespräche über den Krieg in der Ukraine, die bilateralen Beziehungen und die Lage im asiatisch-pazifischen Raum gehen. Der russische Außenminister werde mit seinem chinesischen Amtskollegen Wang Yi über eine Reihe „heißer Themen“ sprechen, zu denen auch die gemeinsame Zusammenarbeit in internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen und der G20 gehören werde, hatte Moskau zuvor erklärt.
+++ 07:12 Russische Soldaten erschießen drei unbewaffnete ukrainische Kriegsgefangene +++
Russische Soldaten haben nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine mehrere unbewaffnete ukrainische Kriegsgefangene in Krynky in der Oblast Cherson erschossen. Dies meldet die staatliche Nachrichtenagentur Ukrinform. Demnach wurde eine Voruntersuchung wegen Verstoßes gegen Kriegsgesetze in Verbindung mit vorsätzlichem Mord eingeleitet. Seit gestern kursiert dem Bericht zufolge ein Video bei Telegram, in dem russische Soldaten drei gefangene ukrainische Soldaten erschießen. In der Beschreibung zum Video heißt es, dass sich der Vorfall in der Nähe von Krynky ereignet habe. „Erneut missachten Vertreter der Russischen Föderation demonstrativ die Bestimmungen der Genfer Konvention über die Behandlung von Kriegsgefangenen, was auf die Akzeptanz solcher Aktionen durch das Oberkommando der russischen Streitkräfte hinweise“, betonte die Generalstaatsanwaltschaft.
+++ 06:15 Geheimdienst: Ukraine ist nicht an Drohnenangriff auf AKW Saporischschja beteiligt +++
Der ukrainische Militärgeheimdienst bestreitet eine Beteiligung an dem Drohnenangriff auf das Kernkraftwerk Saporischschja. „Die Ukraine ist nicht an Provokationen auf dem Territorium des besetzten Werks beteiligt“, sagte der Sprecher Andrii Yusov laut einem Bericht der ukrainischen Zeitung „Kyiv Independent“. Demnach sagte er, dass es häufig zu russischen Angriffen unter falscher Flagge käme. Nach Angaben der UN-Atomaufsichtsbehörde IAEA habe es drei „direkte Treffer“ gegeben.
NACHT IM ÜBERBLICK – UKRAINE
ROUNDUP: Cameron wirbt in den USA um Hilfe für Ukraine – Die Nacht im Überblick
LONDON/WASHINGTON/KIEW (dpa-AFX) – Angesichts fast täglicher Hilferufe aus der Ukraine nach Waffenhilfe für den Kampf gegen den russischen Angriffskrieg hat nun Großbritanniens Außenminister David Cameron in den USA um Unterstützung für das Land geworben. „Wenn wir den Ukrainern die Unterstützung geben, die sie verdienen, können sie diesen Krieg gewinnen“, sagte er am Dienstag. Cameron berichtete, er habe dazu auch diverse Treffen mit Abgeordneten und Senatoren aus dem US-Kongress geplant.
Indes appellierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erneut an den Westen, endlich Waffen und Munition zu schicken.
Cameron sagte, er komme als Freund der USA und sei der festen Überzeugung, dass die weitere Unterstützung Kiews im eigenen Sicherheitsinteresse Amerikas sei. „Ich komme hierher, ohne die Absicht, irgendjemanden zu belehren oder irgendjemandem zu sagen, was er zu tun hat, oder mich in den politischen Prozess und andere Dinge der Vereinigten Staaten einzumischen“, betonte der britische Außenminister.
Die USA galten in den vergangenen zwei Jahren seit dem Beginn des Krieges als wichtigster Verbündeter Kiews und lieferten in gewaltigem Umfang Waffen und Munition. Seit geraumer Zeit gibt es jedoch keinen Nachschub mehr aus den USA. Hintergrund ist eine innenpolitische Blockade im US-Kongress, wo Republikaner – angetrieben von dem früheren Präsidenten Donald Trump – weitere Hilfen für Kiew zurzeit verweigern. Cameron traf sich bei seinem USA-Besuch auch mit Trump.
Selenskyj kritisiert erneut ausbleibende Waffenhilfe des Westens
Selenskyj beklagte erneut die ausbleibende Waffenhilfe des Westens. „Unsere Partner haben bestimmte Waffen, die wir heute brauchen, um zu überleben. Und ich verstehe einfach nicht, warum wir diese Waffen nicht bekommen“, sagte Selenskyj, der sich am Dienstag in Charkiw im Osten der Ukraine aufhielt, in einem Interview der „Bild“-Zeitung und weiterer Axel-Springer-Medien („Welt“, „Politico“, „Business Insider“ und „Onet“). Er hatte zuletzt immer wieder mehr Flugabwehrsysteme und Munition gefordert.
Derweil schickte die US-Regierung der Ukraine eigenen Angaben nach Tausende beschlagnahmte Maschinengewehre aus dem Iran. Die Waffen seien vom US-Militär und den Streitkräften von Verbündeten auf vier Schiffen ohne Flagge zwischen 2021 und 2023 im Arabischen Meer beschlagnahmt worden, teilte das US-Justizministerium am Dienstag mit. Die Schiffe hätten sich auf dem Weg vom Iran in den Jemen befunden. Es seien rund 5000 Sturmgewehre vom Typ AK-47, Scharfschützengewehre und Maschinengewehre sowie rund 500 000 Schuss Munition gesichert worden, hieß es weiter. Dem Justizministerium zufolge wollte der Iran die Waffen den Huthi-Rebellen im Jemen schicken – ein Verstoß gegen eine Resolution des UN-Sicherheitsrats. Die USA erklärten die Munition zu ihrem Eigentum.
Selenskyj besuchte die von russischen Angriffen gezeichnete Region Charkiw, um dort auch auf die Schäden etwa an der Energieinfrastruktur sowie auf Probleme bei der Stromversorgung hinzuweisen. Er machte laut dem Interview zudem deutlich, dass er weiter auf den deutschen Marschflugkörper Taurus hofft. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und der Bundestag hatten die Lieferung des Taurus abgelehnt. „Soweit ich es verstehe, sagt der Bundeskanzler, dass Deutschland keine Atommacht ist und dass es das stärkste Waffensystem in Deutschland ist“, sagte Selenskyj. Der ukrainische Präsident deutete demnach an, dass das deutsche Nein zu Taurus-Lieferungen auch mit den Atomdrohungen von Kremlchef Wladimir Putin zu tun habe.
Putin führt seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit mehr als zwei Jahren. Selenskyj hofft vor allem auch weiter auf die US-Hilfen in Milliardenhöhe für den Krieg. Zwar habe Russland mehr Waffen und Menschen. „Aber die modernen Waffensysteme hat der vereinigte Westen“, sagte Selenskyj. Damit könne Russland geschlagen werden und die Ukraine siegen.
Den Angaben zufolge bestätigte Selenskyj auch, dass die Ukraine eine neue Gegenoffensive zur Befreiung ihrer von Russland besetzten Gebiete plane. Dafür seien die Waffen nicht zuletzt aus den USA nötig. Dazu erwartet Selenskyj auch Trump, der wieder als Präsident gewählt werden will im Herbst, bald in der Ukraine. Trump habe einer Einladung zugestimmt. Einen Termin gebe es aber nicht.
Selenskyj hatte immer wieder erklärt, dass ohne Hilfe des Westens der Ukraine eine Niederlage in dem Krieg drohe. In dem Interview sagte er nun auch, dass er bei einem drohenden Scheitern trotzdem im Land bleiben wolle. „Ich kann mein Land nicht verlassen. Unter keinen Umständen.“
Selenskyj besucht von Russland angegriffene Region Charkiw
Bei seinem Besuch im ostukrainische Grenzgebiet Charkiw machte sich Selenskyj selbst ein Bild von der Lage und den Schäden nach den russischen Angriffen. Er warf Russland in einer Videobotschaft vor, über die Raketenangriffe und Bombardierungen von Charkiw und Umgebung die Menschen aus der Millionenstadt und der Region vertreiben zu wollen.
„Alles was (der russische Präsident Wladimir) Putin anfasst, verwandelt sich in Ruinen“, sagte Selenskyj. Kiew werde jedoch alles tun, um die Stadt besser vor russischen Angriffen zu schützen. „Wir haben eine Lösung, um die Flugabwehr hier zu verstärken.“ Selenskyj appellierte zugleich an die internationalen Verbündeten, mehr für eine Stärkung der ukrainischen Flugabwehr zu tun – nicht nur in Charkiw.
Ebenso inspizierte der Staatschef den Fortschritt beim Bau von Verteidigungslinien entlang der russischen Grenze. Zuletzt hatten sich Befürchtungen über einen neuen russischen Vorstoß in Richtung der nach Kiew zweitgrößten ukrainischen Stadt gehäuft.
Die Ukraine wehrt sich seit über zwei Jahren gegen die russische Invasion. Die nur etwa 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernte Großstadt Charkiw war im März besonders stark von russischen Angriffen vor allem auf die Energieinfrastruktur betroffen. Zeitweise war die Millionenstadt komplett ohne Strom und es kommt regelmäßig zu Stromabschaltungen./kil/DP/mis
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POLITIK: USA schicken Tausende beschlagnahmte Waffen in die Ukraine
WASHINGTON (dpa-AFX) – Die US-Regierung hat der von Russland angegriffenen Ukraine eigenen Angaben nach Tausende beschlagnahmte Maschinengewehre aus dem Iran geschickt. Die Waffen seien vom US-Militär und den Streitkräften von Verbündeten auf vier Schiffen ohne Flagge zwischen 2021 und 2023 im Arabischen Meer beschlagnahmt worden, teilte das US-Justizministerium am Dienstag mit. Die Schiffe hätten sich auf dem Weg vom Iran in den Jemen befunden.
Es seien rund 5000 Sturmgewehre vom Typ AK-47, Scharfschützengewehre und Maschinengewehre sowie rund 500 000 Schuss Munition gesichert worden, hieß es weiter. Dem Justizministerium zufolge wollte der Iran die Waffen den Huthi-Rebellen im Jemen schicken – ein Verstoß gegen eine Resolution des UN-Sicherheitsrats. Die USA erklärten die Munition folglich zu ihrem Eigentum.
„Mit diesem Waffentransfer stört die Regierung der Vereinigten Staaten die destabilisierenden Bemühungen des Irans und unterstützt den Kampf der Ukraine gegen die brutale, unprovozierte Invasion Russlands“, sagte US-Justizminister Merrick Garland. Die US-Regierung hat der Ukraine bereits zuvor vom Iran beschlagnahmte Munition zukommen lassen.
Die USA gelten als wichtigster Verbündeter der Ukraine im Abwehrkampf gegen die russische Invasion. Aktuell sind weitere Hilfen für Kiew allerdings in der Schwebe. Ein militärisches Hilfspaket der USA mit einem Umfang von 60 Milliarden Dollar hängt seit Monaten im Kongress fest. Der von den Demokraten kontrollierte Senat hat dem Paket bereits zugestimmt, doch im Repräsentantenhaus blockieren Republikaner seit Wochen die dafür benötigte Abstimmung./nau/DP/mis
Selenskyj lädt Trump zu Besuch der Ukraine ein
Charkiw – Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat den republikanischen Präsidentschaftskandidaten und ehemaligen US-Präsidenten, Donald Trump, zu einem Besuch in die Ukraine eingeladen. „Wir haben ihn öffentlich und auch nicht-öffentlich in die Ukraine eingeladen“, sagte Selenskyj am Dienstag der „Bild“ und anderen Axel-Springer-Medien. Der ehemalige US-Präsident solle mit eigenen Augen die Situation sehen und bestimmte Schlüsse ziehen. Trump habe geantwortet, „dass er will, aber dass er nicht weiß, wann er das tun kann“. Selenskyj sagte, er hoffe, dass dies bald der Fall sein werde.
Scharf kritisierte Selenskyj einen angeblichen „Friedensplan“ Trumps für die Ukraine, über den die „Washington Post“ berichtet hatte. Demzufolge soll die Ukraine Teile ihres Ostens sowie die Krim an Russland abtreten im Gegenzug für einen Waffenstillstand. „Wenn der Deal darin besteht, dass wir einfach unsere Territorien abgeben und wenn das die Idee ist, dann ist die Idee sehr primitiv“, so Selenskyj. Wenn Trump tatsächlich einen eigenen Ansatz habe, um den Krieg schnell zu beenden, dann würde er sich das gerne anhören. „Wir brauchen keine fantastische Idee, sondern eine reale. Es geht hier um Menschenleben, wir können keine Witze machen und keine Risiken eingehen.“
Der Präsident machte klar, dass die große Hoffnung der Ukrainer weiterhin auf den im US-Repräsentantenhaus blockierten milliardenschwerem Hilfspaket der Amerikaner ruht. Nur mit modernen Waffen könne die Ukraine Putins Armee schlagen. Russland habe mehr Menschen und mehr Waffen. „Aber die modernen Waffensysteme hat der vereinigte Westen.“ Selenskyj erklärte, dass sein Land eine Gegenoffensive plane. Doch auch dafür braucht es Waffen nicht zuletzt aus den USA.
Cameron wirbt in den USA um Hilfe für die Ukraine – und trifft Trump
LONDON/WASHINGTON (dpa-AFX) – Großbritanniens Außenminister David Cameron hat sich bei seinem USA-Besuch mit dem früheren Präsidenten Donald Trump getroffen. Das Gespräch habe am Montag in Florida stattgefunden, meldete die britische Nachrichtenagentur PA in der Nacht zum Dienstag. Cameron selbst sagte am Dienstag nach einem Treffen mit US-Außenminister Antony Blinken in Washington, das Gespräch mit Trump entspreche der üblichen Praxis, dass sich Regierungsvertreter bei Auslandsreisen vor Wahlen auch mit dortigen Oppositionspolitikern träfen.
Zum Inhalt des Gespräches mit Trump wollte sich Cameron auf Nachfrage nicht näher äußern. Man habe „über eine Reihe wichtiger geopolitischer Themen“ geredet, etwa über den Nahen Osten und die Zukunft der Nato, sagte er. Es habe sich aber um ein vertrauliches Gespräch gehandelt, daher werde er nicht auf Details eingehen.
Cameron warb bei seinem USA-Besuch für weitere Unterstützung für die Ukraine, die sich seit mehr als zwei Jahren gegen einen Angriffskrieg Russlands zur Wehr setzt. „Ich komme hierher, ohne die Absicht, irgendjemanden zu belehren oder irgendjemandem zu sagen, was er zu tun hat, oder mich in den politischen Prozess und andere Dinge der Vereinigten Staaten einzumischen“, betonte der britische Außenminister. Er komme als Freund der USA und sei der festen Überzeugung, dass weitere Unterstützung Kiews im eigenen Sicherheitsinteresse Amerikas sei. „Wenn wir den Ukrainern die Unterstützung geben, die sie verdienen, können sie diesen Krieg gewinnen“, mahnte er. Cameron sagte, er habe dazu auch diverse Treffen mit Abgeordneten und Senatoren aus dem US-Kongress geplant.
Die USA galten in den vergangenen zwei Jahren seit dem Beginn des Krieges als wichtigster Verbündeter Kiews und lieferten in gewaltigem Umfang Waffen und Munition. Seit geraumer Zeit gibt es jedoch keinen Nachschub mehr aus den USA. Hintergrund ist eine innenpolitische Blockade im US-Kongress, wo Republikaner – angetrieben von Trump – weitere Hilfen für Kiew zurzeit verweigern.
Trump will bei der US-Präsidentenwahl im November erneut für die Republikaner antreten – gegen den demokratischen Amtsinhaber Joe Biden. Trump ist ein ausgewiesener Kritiker der Nato. In seiner Amtszeit von 2017 bis 2021 hatte er immer wieder offen mit einem Rückzug der USA aus dem Bündnis gedroht./kil/DP/he
Nothilfe nach Angriffen: EU schickt Ukraine Generatoren
BRÜSSEL (dpa-AFX) – Deutschland und mehrere andere EU-Staaten haben nach der Zerstörung von Energieinfrastruktur der Ukraine durch russische Raketen und Drohnen zusätzliche Stromgeneratoren angeboten. Wie die EU-Kommission am Dienstag mitteilte, geht es um insgesamt 157 Geräte unterschiedlicher Größe. Sie sollen helfen, die Stromversorgung in besonders wichtigen Bereichen aufrechtzuerhalten.
Neben den Generatoren aus den EU-Staaten wurden den Angaben der EU-Kommission zufolge auch zehn leistungsstarke 1-Megawatt-Generatoren aus EU-Lagern für Krisenfälle mobilisiert. Jedes der Geräte soll den Notfallbetrieb eines mittelgroßen Krankenhauses sicherstellen können. Ihr Gesamtwert wurde mit 3,57 Millionen Euro beziffert.
„Russlands Plan, die Ukraine in die Dunkelheit zu bombardieren, wird keinen Erfolg haben“ kommentierte der für die EU-Krisenhilfe zuständige EU-Kommissar Janez Lenarcic. Er danke vor allem auch Österreich, Deutschland, Schweden und den Niederlanden für ihre Generatoren-Angebote./aha/DP/nas
Tote und Verletzte bei russischen Angriffen in der Ukraine
SUMY/POLTAWA (dpa-AFX) – Bei russischen Raketen- und Bombenangriffen in der Ukraine sind mehrere Menschen getötet und verletzt worden. In Poltawa im Zentrum des Landes forderte ein Raketenangriff in der Nacht zum Dienstag Behördenangaben zufolge mindestens ein Todesopfer und zwölf Verletzte, ein zweistöckiges Wohnhaus wurde dabei beschädigt. Im nordukrainischen Gebiet Sumy wurde am Montag ein Mensch bei russischen Luftangriffen getötet und mindestens sechs verletzt. Zudem wurde eine Person im Gebiet Donezk getötet, fünf weitere wurden verwundet. Weitere mindestens vier Verletzte gab es in den Gebieten Charkiw und Cherson. Bei den russischen Angriffen wurden Dutzende Wohnhäuser beschädigt oder zerstört.
Die Zahl der Opfer nach russischen Raketenangriffen vom Montag im südostukrainischen Gebiet Saporischschja stieg auf vier Tote und acht Verletzte, teilte Gouverneur Iwan Fedorow mit. Insgesamt seien 13 Ortschaften im südostukrainischen Gebiet angegriffen worden.
Die Ukraine wehrt seit über zwei Jahren eine russische Invasion ab. Die Vereinten Nationen haben seither über 10 600 getötete Zivilisten erfasst. Die Organisation geht aber von weitaus höheren Opferzahlen aus, da sie keinen Zugang zu lange umkämpften Städten wie Mariupol, Lyssytschansk, Popasna und Sjewjerodonezk in der russisch kontrollierten Ostukraine hat./ast/DP/nas
Russische Drohnenangriffe auf Energieobjekte in der Ukraine
LWIW/POLTAWA (dpa-AFX) – Das russische Militär hat die Ukraine in der Nacht mit 20 Kampfdrohnen iranischer Bauart angegriffen. Alle seien abgeschossen worden, teilte Luftwaffenchef Mykola Oleschtschuk am Dienstag bei Telegram mit. Die Abschüsse seien dabei über südlichen und zentralen Gebieten, aber auch der Westukraine erfolgt. Im Donezker Gebiet habe die russische Armee zudem noch vier umfunktionierte Flugabwehrraketen des Typs S-300 auf Bodenziele abgefeuert.
Im westukrainischen Gebiet Lwiw sind dem Gouverneur Maxym Koyszkyj zufolge Drohnentrümmer auf ein Objekt der „kritischen Infrastruktur“ gefallen. Das Energieministerium in Kiew teilte später mit, dass der Angriff einem Umspannwerk gegolten habe und die Schäden noch untersucht würden. Im zentralukrainischen Gebiet Poltawa ist dem Ministerium zufolge ein weiteres Umspannwerk beschädigt worden. Das ausgebrochene Feuer konnte gelöscht werden. Zudem seien zwei Hochspannungsleitungen im Gebiet Dnipropetrowsk im Südosten ausgefallen, heißt es. Ein Industrieobjekt sei daher ohne Strom.
Die Ukraine wehrt seit über zwei Jahren eine russische Invasion ab. Russland greift immer wieder die ukrainische Energieinfrastruktur an. Im ostukrainischen Gebiet Charkiw gibt es nach den verheerenden Angriffen vom März weiter nur stundenweise Strom./ast/DP/nas
20 weitere Schützenpanzer von Rheinmetall sollen Ukraine helfen
DÜSSELDORF/UNTERLÜSS (dpa-AFX) – Rheinmetall liefert 20 weitere Schützenpanzer an die Ukraine. Man habe einen entsprechenden Auftrag der Bundesregierung mit einem Wert im mittleren zweistelligen Millionen-Euro-Bereich erhalten, teilte die Firma am Dienstag in Düsseldorf mit. Die Auslieferung der „Marder“ soll bis Jahresende erfolgen – dann wird die Waffenschmiede der Ukraine insgesamt 120 Schützenpanzer bereitgestellt haben. Es handelt sich um alte Panzer, die Rheinmetall modernisiert.
Den Auftrag bezahlt die Bundesregierung im Rahmen ihrer Unterstützung des von Russland angegriffenen Staates. Separat hierzu hatte die Bundeswehr 20 eigene Marder an die Ukraine übergeben. Rheinmetalls Zentrale ist in Düsseldorf und sein größtes Werk im niedersächsischen Unterlüß. Die Firma lieferte der Ukraine zahlreiche andere Rüstungsgüter, darunter Artillerie- und Panzermunition./wdw/DP/nas
ZENTRALBANKEN
Tiefpunkt bei der Nachfrage nach privaten Wohnbaukrediten durchschritten – Österreich-Ergebnisse der euroraumweiten Umfrage über das Kreditgeschäft vom April 2024 (Bank Lending Survey)
Umfrageergebnisse zeigen, dass die Nachfrage nach privaten Wohnbaukrediten im ersten Quartal 2024 leicht gestiegen ist, nachdem sie zuvor eineinhalb Jahre stark gefallen war. Aufgrund des starken Rückgangs in den vergangenen Quartalen war das Jahreswachstum der Wohnbaukredite gemäß Monetärstatistik zu Jahresbeginn 2024 aber noch deutlich negativ. Für das zweite Quartal 2024 erwarten die befragten österreichischen Banken einen weiteren Anstieg der Nachfrage privater Haushalte nach Wohnbaufinanzierungen. Hintergrund ist vor allem die Aussicht auf ein sinkendes Zinsniveau ab Mitte dieses Jahres. Die Kreditnachfrage von Unternehmen ist hingegen im ersten Quartal 2024 weiter zurückgegangen – insbesondere jene zur Finanzierung von Investitionen. Demnach fehlen der Konjunktur nach wie vor die Wachstumsimpulse aus der unternehmerischen Investitionstätigkeit. Das zeigen die Ergebnisse der vierteljährlichen Umfrage der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB) über das Kreditgeschäft, in der führende Banken nach ihren Einschätzungen gefragt werden. Die aktuelle Umfrage wurde in der ersten Märzhälfte 2024 durchgeführt.
Leicht steigende Nachfrage privater Haushalte nach Wohnbaukrediten signalisiert moderate Trendwende bei Wohnbaufinanzierungen
Die Nachfrage nach Wohnbaukrediten ist im ersten Quartal 2024 leicht gestiegen. Für das zweite Quartal 2024 erwarten die befragten Banken eine Fortsetzung der Erholung bei der Kreditnachfrage nach Wohnbaukrediten. Damit könnte eine tiefe Talsohle der Nachfrageentwicklung durchschritten sein. Im Zuge der Zinswende kam es im zweiten Halbjahr 2022 – ausgehend von einem Rekordhoch – zu einem markanten Nachfrageeinbruch bei Wohnbaukrediten. Weitere Rückgänge folgten bis zum vierten Quartal 2023, was sich an deutlich negativen Jahreswachstumsraten der Wohnbaukredite gemäß Monetärstatistik zu Beginn des Jahres 2024 zeigte. Hintergrund der sich nun andeutenden Erholung ist die Erwartung eines sinkenden Zinsniveaus ab Mitte 2024. Zudem wachsen die Realeinkommen der Haushalte aufgrund der verzögerten Anpassung an die Inflation. Somit steigt die Leistbarkeit von Krediten. Mit expansiven Entwicklungen wie in den Jahren der Niedrigzinsphase bis Mitte 2022 ist aber auf absehbare Zeit nicht zu rechnen.
Angebotsseitig kam es in den letzten Quartalen nur zu wenigen Änderungen im Geschäft mit privaten Wohnbaukrediten. Die Kreditrichtlinien der Banken und die Kreditbedingungen blieben weitgehend unverändert.
Unternehmenskredite: Nachfrage neuerlich gesunken, Angebotspolitik weiter verschärft
Die Kreditnachfrage von Unternehmen ist hingegen im ersten Quartal 2024 neuerlich gesunken. Damit setzte sich ein seit dem vierten Quartal 2022 bestehender rückläufiger Trend fort; die Jahreswachstumsrate laut Monetärstatistik war im Februar 2024 mit 1,6 % nur noch moderat positiv. Eine persistente Nachfrageschwäche besteht insbesondere bei den langfristigen Krediten zur Investitionsfinanzierung. Neben der abnehmenden Investitionstätigkeit der Unternehmen haben vor allem die gestiegenen Zinsen bzw. Finanzierungskosten die Kreditnachfrage gebremst. Für das zweite Quartal 2024 erwarten die befragten Banken aber keinen weiteren Nachfragerückgang.
In den Umfrageergebnissen zeigt sich wiederholt ein zunehmend negativer Risikoausblick. Die Risikoeinschätzung der Banken hinsichtlich allgemeiner Wirtschaftslage und Kreditwürdigkeit der Unternehmen hat sich seit 2022 nach und nach verschlechtert und dementsprechend restriktiv auf das Kreditangebot ausgewirkt. Die Banken haben ihre Angebotspolitik für Unternehmenskredite seit dem zweiten Quartal 2022 umfassend verschärft und planen weitere Verschärfungen im zweiten Quartal 2024.
Die verhaltene Kreditnachfrage der Unternehmen für Investitionen und die restriktive Kreditvergabe der Banken bedeuten, dass nach wie vor Wachstumsimpulse für die österreichische Wirtschaft aus der unternehmerischen Investitionstätigkeit fehlen. Das spiegelt sich in der aktuellen Wirtschaftsprognose der OeNB wider, die für 2024 einen weiteren Rückgang der Ausrüstungsinvestitionen erwartet. Insgesamt wird die heimische Wirtschaft 2024 nur sehr moderat wachsen.
Die Zentralbanken des Euroraums – in Österreich die Oesterreichische Nationalbank (OeNB) – führen gemeinsam mit der Europäischen Zentralbank (EZB) seit Anfang 2003 viermal jährlich eine Umfrage über das Kreditgeschäft im Euroraum durch, um ihren Informationsstand über das Kreditvergabeverhalten der Banken, die Kreditnachfrage von Unternehmen und privaten Haushalten sowie sonstige die Geldpolitik betreffende Themen zu verbessern. Dabei werden rund 160 führende Banken aus allen Ländern des Euroraums befragt, darunter acht Institute aus Österreich.
Ein ausführlicher Bericht über die Österreich-Ergebnisse wird in der Publikationsreihe „OeNB Reports“ veröffentlicht. Weitere Informationen und Daten zur Umfrage finden sich auf der OeNB-Website.
Die Resultate für den Euroraum werden von der EZB auf ihrer Website publiziert.
BANKENWELT
INTERVIEW: «Die Bevölkerung ist nicht mehr in der Lage, die Wirtschaft eigenständig zu beurteilen», sagt einer der erfahrensten Bankchefs der Schweiz
Blaise Goetschin ist als Chef der Genfer Kantonalbank nach über 20 Jahren zurückgetreten. Im Interview blickt er auf das Ende der CS und kritisiert die fehlende Wirtschaftsbildung in der Schweiz. Diese sei der Grund für die Entfremdung zwischen Gesellschaft und Wirtschaft.
Herr Goetschin, Sie haben Ihre Karriere bei der Credit Suisse aufgebaut und das Corporate-Finance-Geschäft erfolgreich entwickelt. Was verliert die Schweiz mit dieser Bank?
Die Schweizer Wirtschaft hat noch nicht realisiert, was sie verloren hat. Das ist meine persönliche Meinung. Die zwei Grossbanken waren komplementär, dank ihrer Konkurrenz entstanden bessere, kreativere Lösungen. Der Wegfall der CS hat auch auf das Preisgefüge einen Einfluss. Die Unternehmen haben gegenüber den Banken an Verhandlungsmacht verloren. In der Export- oder der Infrastrukturfinanzierung war die CS führend – sie war williger, solche Geschäfte anzubieten, und sogar kompetenter als die Konkurrenz. Zudem hat der Ruf der Schweiz international gelitten.
Wo sehen Sie das?
Mehrere Kunden in Asien und im Nahen Osten sagen uns, sie hätten nie erwartet, dass eine Institution wie die Credit Suisse, welche die Schweiz im Namen trug, so schnell untergehen könnte. Dieser Schock wird mit der Zeit vergehen, aber die genannten Herausforderungen punkto Wettbewerb bleiben.
Die Genfer Kantonalbank ist nach der Übernahme der CS durch die UBS in vielen Geschäftsbereichen in Genf von der dritten zur zweiten Option aufgerückt. Was verändert sich damit?
Es wird uns etwas helfen, aber es sind keine Wunder zu erwarten. Die UBS wird die Lücke, die mit dem Verschwinden der CS entsteht, teilweise ausfüllen. Auch Raiffeisen und die ausländischen Banken sind an manchen Geschäften interessiert, Letztere etwa an der Finanzierung des globalen Rohstoffhandels.
Sie haben die Führung der Genfer Kantonalbank damals inmitten ihrer grössten Krise übernommen. In welchem Zustand haben Sie die Bank angetroffen?
Die Bank war 1999 einfach bankrott. Der Kanton hatte alle schlechten Hypothekarkredite einer Auffangstiftung übertragen. Ich startete am 1. Oktober 2000, als die Bank technisch und politisch stabilisiert war, und sollte den Bankbetrieb zu neuem Leben erwecken und dann normalisieren.
Was heisst normalisieren?
Wir starteten mit einem negativen Wert von fünf Milliarden Franken. Inzwischen haben wir wieder zwei Milliarden an Eigenkapital aufgebaut und den wirtschaftlichen Schaden, den der Kanton erlitt, mehrfach kompensiert. Das hat 24 Jahre gedauert.
Was war der Schlüssel, um die Bank zu stabilisieren?
In der ersten Phase ging es um die Bereinigung. Der Kanton hatte nur einen grossen Teil der faulen Kredite übernommen, wir fanden weitere 660 Millionen Franken bei uns. Einen Teil transferierten wir später in die Auffanggesellschaft, den anderen Teil haben wir abgeschrieben. Parallel dazu musste ich, in einer zweiten Phase, Bilanz und Infrastruktur der Bank verkleinern. Wir schrieben drei Jahre Verluste und betrieben Kriegschirurgie.
Wo fanden Sie 2000 noch Geldgeber?
Zum Glück waren die anderen Banken nicht so nervös wie heute. Die Krise betraf nur die Genfer Kantonalbank und war nicht systemisch. Die anderen Banken hatten daher keine Angst vor uns. Allen voran die deutschen Landesbanken und einige grosse französische Banken haben uns Kredite gewährt. Die Absicherung der Liquidität war Phase drei. In der vierten Phase regenerierten wir auch die Eigenmittel. Bis 2012 haben wir deshalb nur einen sehr kleinen Teil der Gewinne ausbezahlt.
Auch Angestellte arbeiten nicht gern bei einem Unternehmen, das auf Jahre hinaus schrumpft und spart. Wie nahmen Sie die Belegschaft mit?
Die menschliche Dimension ist anspruchsvoll. Zunächst musste ich die Geschäftsleitung neu aufbauen – die vorherige war weg. Wenn Sie von aussen zu einer Bank in der Krise kommen, wissen Sie noch nicht, wer die guten Mitarbeiter sind. Der CEO muss viel kommunizieren. Wir haben von Anfang an eine langfristige Vision formuliert. Wir wollten zu den besten Kantonalbanken der Schweiz gehören. Hinzu kam eine Werbekampagne – mit dem umgedrehten K der Kantonalbank, denn es ging uns um einen Richtungswechsel. Damit erreichten wir auch die Leute in der Bank.
Sie halten grosse Stücke auf die militärische Ausbildung. Hat das geholfen?
Als Offizier habe ich vom Militär gelernt, resilienter zu sein. Charisma und Kommunikation sind wichtig. Ich habe unsere Führungskräfte an die militärische Kaderschule in Luzern geschickt, so dass wir einen einheitlichen Führungsstil entwickelten. Inzwischen haben mehr als hundert Kollegen die mehrwöchige Schulung durchlaufen. Viele hatten keinen Militärdienst absolviert, die Franzosen, die Frauen, aber auch viele Schweizer Männer. Das hat mir geholfen, das mittlere Kader zu strukturieren und zu einen.
Vor Ihrer Zeit bei der BCGE führten Sie die Finanzverwaltung des Kantons Waadt, der damals ebenfalls in einer Budgetkrise steckte. Fehlen Ihnen diese Krisen mittlerweile?
Ich habe mich nie als Krisenmanager gesehen, aber ich bin einer geworden durch die Umstände. Zwischen meiner Tätigkeit beim Kanton Waadt und jener bei der BCGE führte ich die Schweizer Niederlassung eines US-Finanzinstituts, bei dem kurz davor ein ganzes Team abgesprungen war. Meine letzten drei Jobs begannen immer in einer Krisensituation. Ich habe Krisen überhaupt nicht gern, habe aber einige Charakterzüge, die mir beim Umgang damit helfen. Ich habe viel Lebensvertrauen. Ich werde nervös wie alle anderen, strahle aber dennoch etwas von diesem Vertrauen aus. Das stabilisierte die Bank und ihre Mitarbeiter, was sich wiederum stark auf das Vertrauen der Kunden auswirkt.
Die Genfer Kantonalbank ist eine der wenigen Kantonalbanken ohne eine Staatsgarantie. Führten Sie die Bank deswegen anders als Ihre Kollegen in Zürich oder Luzern?
Erstens verändert es nichts an der Art, wie wir Entscheide treffen. Zweitens macht auch der Markt keinen Unterschied, etwa wenn wir AT1-Anleihen oder Obligationen begeben. Wir müssen unseren Kunden auch keine höheren Depotzinsen zahlen als andere Kantonalbanken. Ich finde es aber ohnehin falsch, von einer «Staatsgarantie» zu sprechen. Das ist eine Aktionärsgarantie. Jeder Aktionär hat das Recht, seiner Firma seine persönliche Garantie zu geben. Das kann auch ein KMU-Besitzer sein, nicht bloss ein Kanton. All diese Garantien basieren auf kantonalen Gesetzen und sind demokratisch legitimiert.
Dennoch haben Sie die Garantie selbst an den Kanton zurückgegeben. Weshalb?
Wir brauchen die Garantie nicht. Wir sind kotiert und wollten keine Paralleldividende einführen. Das Problem der Garantie ist die Preisfindung. Nach welcher Logik bemisst man ihren Wert? Es ist sehr kompliziert. Also verzichten wir besser darauf und zahlen dafür Steuern und Dividenden. Die Garantie wieder einzuführen, ist jedenfalls kein Thema hier in Genf.
Gab Ihnen der Verzicht mehr Freiheit? Es verändert das Verhältnis zum Kanton Genf, auch wenn er ein Aktionär ist.
Wir zählen fünf Repräsentanten des Kantons im Verwaltungsrat, aber nach der Krise haben alle Kantonsvertreter, inklusive der Verwaltungsratspräsidenten, klar gesagt: Die Bank ist autonom und nicht politisch geführt. Natürlich ist niemand völlig autonom. Wenn wir Probleme schaffen, die der Reputation schaden, hat das Rückwirkungen auf die Politik. Aber die Beziehung zum Kanton ist streng geregelt und hat sich entspannt.
Sie haben vor einigen Jahren gesagt, dass sich in Zukunft fünf bis sechs Kantonalbanken den Schweizer Markt aufteilen würden. Würden Sie diese Aussage nochmals so treffen?
Das war ein bisschen provokativ, aber eine Konsolidierung bleibt eine ernstzunehmende Variante.
Warum?
Weil die Technologiekosten sehr hoch sind und die Regulierung immer komplexer wird. Daher glaube ich, dass einige Kantonalbanken vielleicht fusionieren sollten.
Bei diesen zwei Kostentreibern ist kein Gegentrend in Sicht. Werden kleine Banken an den Anschlag geraten?
Ich zögere, weil die Realität der letzten Jahre das Gegenteil gezeigt hat. Die kleine Caisse d’Epargne d’Aubonne wurde als beste Bank in der Schweiz ausgezeichnet. Die Grossen machen grosse Fehler, die Kleinen nur kleine. Aber es fällt kleinen Banken schwer, Herausforderungen wie den Umgang mit künstlicher Intelligenz oder die Konkurrenz durch Fintech-Unternehmen zu bewältigen. In jedem Fall ist eine starke operative Kooperation zwischen Kantonalbanken lebenswichtig.
Braucht die Schweiz die Kantonalbanken denn überhaupt noch? Im 19. Jahrhundert gründete man sie, weil es nicht genug Kredite für kleine Unternehmen gab. Heute sind sie vor allem Hypothekarbanken.
Es braucht sie, doch sie müssen auf die Bedürfnisse ihrer kantonalen Wirtschaft eingehen. Wir brauchen heute 24 Alfred Eschers, also 24 Unternehmerbanken. Seit der CS-Krise erst recht. Diese Kernaufgabe ist in den Kantonalbankgesetzen festgehalten. In Genf bewegen wir uns mit einem Anteil von nur 50 Prozent Hypothekargeschäft in unserem gesetzlichen Auftrag, die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern.
Kürzlich hat die Schweiz einer 13. AHV zugestimmt. Viele sagten sich: Wenn Geld für die Banken da ist, dann auch für mich. Hat die CS-Rettung die Schweiz verändert?
Ich teile diese Interpretation nicht. Die grossen Bankenrettungen haben die Schweiz letztlich nichts gekostet. Weder die UBS-Rettung von 2008 noch die Übernahme der CS im vergangenen Jahr. Bei der Genfer Kantonalbank hat es nach 1999 zwar lange gedauert, aber auch wir haben das Eigenkapital wiederhergestellt. Die Schweizer Banken ziehen Kundengelder aus dem In- und Ausland an, was die Verfügbarkeit von Kapital in der Schweiz erhöht und damit die Kreditkosten verringert. Ohne das Offshore-Geschäft der Schweizer Banken wären daher auch die Hypotheken teurer. Dieser Effekt wird nicht gut verstanden – und von den Banken auch nicht sehr gut kommuniziert.
Wenn es nicht an den Banken liegt, warum haben sich Wirtschaft und Politik auseinanderbewegt?
Ich denke, dass das Verständnis der Wirtschaft abgenommen hat.
Warum?
Einerseits ist die Wirtschaft komplizierter geworden. Wenn Sie eine Umfrage zu den abgeschriebenen AT1-Anleihen der CS machen – wer kann Ihnen schon sagen, was das genau für Instrumente sind? Oder warum die Schweizerische Nationalbank damals Negativzinsen eingeführt hat? Andererseits wurde der Wirtschaftsunterricht an den Schulen reduziert, und die Medien berichten weniger über die Konzepte wie die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. Früher war zudem ein Grossteil der Bevölkerung in der Landwirtschaft und im Kleingewerbe tätig. Sie war dank ihrem Alltag mit der Erfolgsrechnung vertraut: Sie wusste aus eigener Erfahrung, dass die Einnahmen die Ausgaben übersteigen müssen. Heute verstehen viele diese grundlegenden Konzepte nicht mehr; es fällt ihnen schwer, den eigenen Pensionskassenausweis zu lesen. Dadurch wird eine unfreiwillige Elite von Personen geschaffen, welche die Zusammenhänge versteht, während die Bevölkerung nicht mehr in der Lage ist, die Wirtschaft eigenständig zu beurteilen.
Wie liesse sich ein neues Gleichgewicht etablieren?
Das liegt in der Verantwortung der Politik, der Schulen und Universitäten. Die Wirtschaft kann der Bevölkerung diese Zusammenhänge nicht selbst erklären, denn sie würde eine verzerrte Botschaft aussenden. Die Verbände und Lobbys versuchen, die Zusammenhänge zu erklären, aber sie sind nicht sehr gut darin.
Sie haben sich lange bei Economiesuisse und der Bankiervereinigung engagiert. Welche Rolle können die Verbände hierbei einnehmen?
Damit werde ich mir nun keine Freunde machen. Aber es ist nicht die vorrangige Aufgabe der Wirtschaftsverbände, solche Aufklärungsarbeit zu leisten. Sie müssen die Interessen ihrer Mitglieder verteidigen. Als Verband sind wir eine Lobby. Wir sollten aufhören, so zu tun, als seien wir keine. Es liegt an den Schulen, diese Aufklärungsarbeit zu leisten, im Geschichtsunterricht etwa. Vielen Konflikten liegen wirtschaftliche Fragestellungen zugrunde. Wer den Nahen Osten verstehen will, muss die Ölwirtschaft verstehen.
Im Zuge des CS-Niedergangs wurde aber auch bemängelt, dass Führungskräfte keine Verantwortung mehr für das Tun ihrer Firmen übernähmen.
Hier folge ich der klassischen Linie. Es gibt einen Rechtsstaat. Wer gegen dessen Regeln verstösst, wird bestraft.
Aber was geschieht in Fällen, die diese Hürde nicht überschreiten?
Keinen Geschäftserfolg zu haben, Fehlinvestitionen zu tätigen und bankrottzugehen, ist kein Verbrechen. Wenn Misserfolg strafbar wird, wird niemand mehr etwas riskieren. Bereits heute zögern viele, in einer Bank Verantwortung zu übernehmen, weil sie wegen Fehlern bestraft werden könnten – auch Anwälte und Compliance-Fachleute. In dieser Frage habe ich eine sehr klare Haltung. Die Finanzmarktaufsicht soll keine Personen bestrafen, die bloss einen Fehler und keine Verbrechen begangen haben.
Das Vorgehen gegen Compliance-Spezialisten führt dazu, dass diese zu risikoavers werden.
Das Problem ist nicht bloss, dass es immer mehr und kompliziertere Regeln gibt – sie sind oft unklar formuliert. Der Interpretationsspielraum führt dazu, dass man viel Zeit und Energie mit Fragen verbringt, die der Gesellschaft nichts bringen. Darüber hinaus produziert diese Überregulierung sehr viel CO2.
Haben Sie Beispiele?
Erstens die Nachhaltigkeitsberichte. Muss die Generalversammlung bindend darüber abstimmen, oder ist es nur eine Konsultativabstimmung? Es gibt keine klare Leitlinie. Roche und Novartis gehen von einer Konsultativabstimmung aus, Nestlé und Swisscom sehen es anders. Jedes Unternehmen musste diese Frage selbst abklären. Auch wir haben einen Rechtsprofessor beigezogen und zig Stunden an Vorbereitungsarbeit investiert. Zweitens der revidierte Geschäftsbericht: Muss man ihn sofort publizieren, oder hat man einige Wochen Zeit dafür? Die Regeln sind unscharf. Die Börsenbetreiberin SIX büsste einige Firmen, weil sie den Geschäftsbericht zu spät publiziert hatten. Wir sprechen von Tausenden Franken Busse pro Tag, zudem eröffnet die SIX eine Untersuchung gegen das Unternehmen und verschickt dazu eine Medienmitteilung in drei Sprachen, was zu einer negativen Publizität führt. Beide Beispiele sind kleine Probleme – doch diese kumulieren sich.
Sie haben Anfang März die Führung der BCGE Ihrem Nachfolger Nicolas Krügel übergeben. Wie geht es für Sie weiter? Sie haben ja zeitlebens wenn nicht die Krisen, dann doch die Herausforderungen gesucht …
Es war eher umgekehrt, die Herausforderungen haben mich gesucht.
Gibt es neue Herausforderungen, die Sie aufsuchen werden?
Ich befinde mich in Gesprächen. Ich werde sicher nicht nur fischen gehen, sondern im Umfeld der Schweizer Wirtschaft aktiv bleiben. Picasso hat doch auch nach 65 noch gemalt.
Langjähriger Kantonalbankchef
Blaise Goetschin stand fast ein Vierteljahrhundert an der Spitze der Genfer Kantonalbank (BCGE). Der heute 66-Jährige startete seine Karriere im Jahr 1982 als Wirtschaftsprüfer bei PricewaterhouseCoopers.
Von 1985 bis 1995 war er für die Credit Suisse in Zürich, New York und Genf tätig. Danach arbeitete er während dreier Jahre als Leiter der Finanzverwaltung des Kantons Waadt, bevor er zur Schweizer Tochter des amerikanischen Vermögensverwalters Fiduciary Trust wechselte.
Im Jahr 2000 wurde Goetschin Chef der BCGE und blieb bis im Frühling 2024 auf diesem Posten. Seine Nachfolge übernahm Nicolas Krügel, der von der Credit Suisse zur Kantonalbank stiess.
Seit diesem April ist Goetschin Mitglied des Verwaltungsrates der Arab Bank in Genf und Vizepräsident des Verwaltungsrates der Privatbank Gonet & Cie. (lho.)
MELDUNGEN
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CHINA – Trotz aller Aufrufe, sich breiter aufzustellen, hat die Abhängigkeit der deutschen Industrie von China auch im Jahr 2023 nicht abgenommen.
Das geht aus einer Studie des arbeitgebernahen Instituts für Wirtschaftsforschung (IW) hervor, die dem Handelsblatt vorliegt. „Wenn wir uns die einzelne industrienahen Produktgruppen mit hohen Abhängigkeiten von China genauer anschauen, können wir kein nennenswertes strukturelles De-Risking der deutschen Wirtschaft erkennen“, sagte IW-Forscher Jürgen Matthes der Zeitung. Im Vergleich der Jahre 2022 und 2023 habe es bei der Importabhängigkeit von China zwar gewisse Veränderungen gegeben, deren Wirkung sei aber begrenzt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wird am Samstag zu seiner zweiten China-Reise aufbrechen. (Handelsblatt)
SLOWAKEI-WAHL – Der Nach der Wahl von Peter Pellegrini zum Staatsoberhaupt der Slowakei hat der Grünen-Europapolitiker Anton Hofreiter die Streichung der EU-Mittel für das Mitgliedsland ins Gespräch gebracht.
„Es ist wichtig, dass die slowakische Regierung ein deutliches Warnsignal aus Berlin und Brüssel erhält“, sagte Hofreiter den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Wenn Regierungschef Robert Fico und Präsident Pellegrini „die Axt an den slowakischen Rechtsstaat setzen und der Korruption Tür und Tor öffnen, darf kein Geld mehr aus EU-Töpfen fließen“. (Funke Mediengruppe)
DEUTSCHLAND – WAHLUMFRAGEN
ENERGIEMARKT – Trotz der gesunkenen Preise für Strom und Gas sieht Filip Thon, Deutschland-Chef des Energiekonzerns Eon, die Gefahr neuer Krisen am Energiemarkt nicht gebannt.
„Da reichen Kleinigkeiten, um die Stimmung zu verändern. Die Märkte sind noch immer unruhig“, sagte Thon dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Wir müssen bedenken, dass nach mehreren sehr milden Wintern auch sehr kalte Winter kommen könnten.“ Thon forderte die Stromanbieter auf, sich künftig verantwortungsvoller bei der Beschaffung zu verhalten. Die großen Vergleichsplattformen müssten intensiver vor unseriösen Anbietern warnen, anstatt ihnen uneingeschränkt eine Verkaufsplattform zu bieten. (Redaktionsnetzwerk Deutschland)
Bedeutungsverlust: Der Luftfahrtstandort Deutschland hat sich von den Einbrüchen durch die Corona-Pandemie noch nicht wieder erholt
Die Zahl der Flüge und Passagiere liegt immer noch unter dem Vor-Corona-Niveau. Ryanair etwa hat sein Flugangebot mit Verweis auf hohe Steuern und Gebühren drastisch verkleinert; der Vize-Chef der Billig-Airline nennt den deutschen Luftverkehrsmarkt schon „kaputt“. Auch die Lufthansa klagt darüber, dass der Standort besonders teuer sei. Jens Koenen und Christoph Schlautmann erläutern, welche Steuern und Gebühren es vor allem sind, die die Kosten in die Höhe treiben. Und was das für den Standort Deutschland insgesamt bedeutet.
VERKEHRSINFRASTRUKTUR – Die Modernisierung von Autobahnen und maroden Brücken wird in den kommenden Jahren deutlich teurer als bisher gedacht.
Nach internen Berechnungen der Autobahn GmbH fehlen in den kommenden vier Jahren bis 2028 insgesamt rund 9,7 Milliarden Euro für Neu- und Ausbau, Erhalt und Betrieb aller Bundesfernstraßen. Dies hat das bundeseigene Unternehmen auf Anfrage mitteilt. Grund für den Kostenschub ist vor allem das Brückenmodernisierungsprogramm, mit dem Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) in den nächsten Jahren rund 4500 marode Bauwerke sanieren muss. (Frankfurter Allgemeine Zeitung)
STAATSSCHULDEN – Um die deutschen Staatsfinanzen ist es erheblich schlechter bestellt, als die offizielle Statistik vermuten lässt
Die Deutsche Bundesbank beziffert die Schulden von Bund, Ländern und Gemeinden einschließlich Nebenhaushalten auf 2,62 Billionen Euro. Tatsächlich sind die Verbindlichkeiten, für die Deutschland in Haftung genommen werden könnte, exakt 10 Prozent höher. Zu diesem Ergebnis kommt eine bisher unveröffentlichte Studie, die das Europäische Zentrum für Wirtschaftsforschung (ZEW) mit Unterstützung der Strube-Stiftung erarbeitet hat. Die verdeckten Schulden sind vor allem auf die in der Pandemie massiv ausgeweitete Kreditaufnahme der Europäischen Union zurückzuführen. (Frankfurter Allgemeine Zeitung)
ÖSTERREICH – WAHLUMFRAGEN
Familienaufstellung: Dunkl, Dunkl, Dunkl und Dunkl führen Liste bei AK-Wahl an
Die parteiunabhängigen „Grünen Arbeitnehmer“ sehen die Familie als Schutzschild und Erfolgsrezept. Gleich sechs Dunkls kandidieren gemeinsam für die Arbeiterkammer Wien
Am Mittwoch starten in Wien die Wahlen zur Arbeiterkammer (AK). Zwei Wochen haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dann Zeit, ihre Interessenvertretung im Betrieb oder per Brief zu wählen – in den westlichen Bundesländern sind die Wahlen übrigens schon vorbei. 16 Listen stehen in der Bundeshauptstadt auf dem Stimmzettel und wollen möglichst viele Räte in der 180 Mitglieder zählenden Vollversammlung erringen.
Gemeinhin gilt eine gewisse personelle Vielfalt auf Wahllisten als vorteilhaft, doch dem Anschein nach sind nicht alle von dieser Devise überzeugt. Die Liste „Grüne Arbeitnehmer in der AK Wien“ setzt lieber voll auf einen Namen: Dunkl. Als Spitzenkandidatin geht Maria Dunkl ins Rennen, direkt dahinter folgen Rudolf Dunkl, Franz Dunkl und Marianne Dunkl. Auf Rang fünf findet sich mit Andrea Danek die erste lexikalische Abweichlerin, auf dem achten und elften Platz sorgen dann aber weitere Dunkls für Konstanz.
Die vorderen Plätze auf der Wiener AK-Liste der „Grünen Arbeitnehmer“. AK WienDie Liste hat keine Verbindung zur Parlamentspartei Die Grünen, ist allerdings schon seit Jahrzehnten in der Wiener Arbeiterkammer aktiv und hält seit der vergangenen Wahl 2019 bei fünf Mandaten – vier davon bekleidet eine Dunkl oder ein Dunkl. Um voreilige Schlüsse zu vermeiden, hat DER STANDARD sicherheitshalber nachgefragt, ob alle Dunkls derselben Familie entstammen. Woraufhin die Spitzenkandidatin Maria Dunkl mit der Feststellung antwortet, dass es „keine großen Fähigkeiten in deduktiver Logik“ erfordere, um zu erkennen, „dass Personen eines gleichen und nicht gerade häufigen Nachnamens verwandt sein könnten“.
In der ersten Reihe
Doch wie kommt es zur Dominanz der einen Familie? Maria Dunkl schreibt, die Kandidatenliste werde vor jeder Wahl unter den Gesichtspunkten der Bereitschaft und Zusicherung eines „stetigen und unverminderten Einsatzes für den Klima- und Umweltschutz“ erstellt. Aufgrund der verbreiteten Politikverdrossenheit und permanenter Anfeindungen wolle heutzutage jedoch kaum jemand, dem es um die Sache gehe, vorn stehen: „Die Dunkls sind in der ersten Reihe, damit die anderen frei bleiben von diesen negativen und feindlichen Aspekten der Politik, damit sie sich rein um die Sache kümmern können – und jederzeit die Freiheit haben, ihre Expertise einzubringen.“
Eine Gruppe, die für die gleichen Werte einstehe, brauche einen Schutzschild, argumentiert Dunkl weiter: „Nichts bietet so viel Schutz wie Menschen, die man lange kennt und auf die man sich verlassen kann wie in einer Familie.“ Sie sei stolz, ihrer Mutter Marianne Dunkl als Spitzenkandidatin nachfolgen zu dürfen, die schon in den 1990er-Jahren im bürgerlichen Flügel der Grün-Bewegung aktiv gewesen sei. Überdies seien Familienbetriebe bekanntlich ein Erfolgsrezept der heimischen Wirtschaft: „Weil es einfach funktioniert.“
Weniger familiär legt es die zweite grüne Liste in der Wiener AK an, sie heißt „Gemeinsam – Alternative, Unabhängige und Grüne Gewerkschafter:innen“. Diese Fraktion steht der Partei näher, versteht sich aber auch als unabhängig und hat derzeit 15 Sitze in der Vollversammlung. Ein richtiges Gehalt bekommen die 180 Kammerräte für ihr Engagement nicht, allerdings eine Aufwandsentschädigung für Sitzungen. Für die Teilnahme an der Vollversammlung, die zwei Mal im Jahr stattfindet, sind das laut AK Wien jeweils 50 Euro. (Theo Anders, 9.4.2024)
- Infos zur AK-Wahl in Wien
- AK-Wahl Oberösterreich: FSG trotz Verlusten klar vorne
- Schwarze Arbeiterkammer-Listen siegen in Tirol und Vorarlberg
Die Lage in Österreich: Der Super-GAU – „Neues“ aus der Spionagehochburg Wien – Fabian Schmid, Der Standard / Spiegel, 9.4.2024
MEDIZIN
RSV-Welle in Österreich heuer wieder mindestens so heftig wie 2022/23
Die RSV-Saison ist erst im Abklingen, aber schon jetzt steht fest: Die heurige vom Respiratorischen Synzytial-Virus ausgelöste Erkrankungswelle war mindestens so heftig wie 2022/23 und auch wie in den Jahren vor der Coronapandemie. Das bestätigt Bernhard Resch von der Abteilung für Neonatologie der MedUni Graz: „Wir hatten im Prinzip einen zeitlichen Ablauf wie vor Covid-19, aber sehr, sehr viele Aufnahmen und Zuweisungen auf die Kinderintensivstation.“
Es kam zu vielen Spitalsaufnahmen und schweren Verläufen, sowohl bei Säuglingen als auch bei Seniorinnen und Senioren, hieß es in einer Bilanz vom Österreichischen Verband der Impfstoffhersteller (ÖVIH). Die Saison habe sich gegenüber unmittelbar nach der Pandemie etwas mehr auf den Jahresanfang verschoben und lief gleichzeitig mit der Influenza-Epidemie. Die meisten Spitalsaufnahmen wurden Anfang Februar verzeichnet, da lag die Positivrate der eingesendeten Proben bei 20 Prozent – ab zehn Prozent geht man von einer epidemischen Situation aus:
Nach wenigen RSV-bedingten Spitalsaufenthalten im Oktober steigerten sich die Aufnahmen auf mehr als 450 in nur einer Woche im Februar, darunter 13 auf der Intensivstation.
Resch schilderte den Fall eines Frühgeborenen, das sich im Spital infiziert hatte: „Der Zustand des Säuglings hat sich bereits nach wenigen Stunden massiv verschlechtert, dabei war er eigentlich schon kurz vor der Entlassung. Der Bub kam auf die Kinderintensivstation und musste zwei Wochen lang intubiert und beatmet werden. Danach musste er noch wochenlang weiter auf der Intensivstation bleiben, während die nicht betroffene Zwillingsschwester schon seit fünf Wochen zu Hause war.“ In Wien sei sogar ein sieben Monate altes Baby gestorben.
RSV zeigt sich oft als „Erkältung“ bei Erwachsenen
Bei Erwachsenen im berufstätigen Alter zeigt sich RSV meist als „Erkältung“ mit Husten und Schnupfen. Bei Älteren können Bronchitis, Lungenentzündungen und Verschlechterungen von bestehenden Herz- und Lungenerkrankungen entstehen. In der EU kommt es laut ÖVIH pro Jahr zu rund 145.000 Hospitalisierungen aufgrund von RSV bei Über-65-Jährigen, 2.300 davon in Österreich.
Laut Stefan Winkler, stv. Leiter der Klinischen Abteilung für Infektionen und Tropenmedizin an der MedUni Wien, sind RSV und Influenza für ältere Menschen mittlerweile gleich problematisch. „Viele sind jetzt den ganzen Winter krank. Zuerst haben sie Corona, das schwächt ihr Immunsystem. Dann erkranken sie – weil viele ungeimpft sind – an Influenza, und dann noch an RSV.“ Speziell für Personen mit einer Vorerkrankung der Lunge könne eine RSV-Infektion lebensgefährlich sein.
Seit Herbst 2023 sind Impfstoffe für Seniorinnen und Schwangere verfügbar. Die zwei Vakzine für Personen ab 60 hätten in den Zulassungsstudien eine hohe Wirksamkeit gegen schwere RSV-Verläufe gezeigt, so der ÖVIH, einer ist auch für Schwangere zugelassen. Die Antikörper der Mutter werden über die Plazenta auf das Ungeborene übertragen.
Für „Risikosäuglinge“ gibt es in Österreich eine passive Immunisierung, die einmal monatlich verabreicht werden muss. Auf EU-Ebene ist bereits ein langwirksamer monoklonaler RSV-Antikörper zugelassen, der nur einmal pro Saison gegeben wird. In Österreich laufen dazu Gespräche. Ein weiterer langwirksamer monoklonaler RSV-Antikörper sei noch in Entwicklung.
Es gebe also Möglichkeiten, „um die Krankheitslast durch RSV in Österreich zu senken. Sie müssen nur noch entsprechend genützt werden“, so der ÖVIH. Die seit dem Vorjahr erstmals erhältlichen RSV-Impfstoffe sind jedoch selbst zu bezahlen und kosten weit mehr als 200 Euro.
Brustkrebs: Axilladissektion bei bis zu zwei Metastasen im Wächterlymphknoten verzichtbar
Stockholm – Wenn bei Patientinnen im Frühstadium eines Mammakarzinoms im Ultraschall keine verdächtigen Lymphknoten gefunden werden, kann auch dann auf eine Axilladissektion verzichtet werden, wenn in den Wächterlymphknoten bis zu 2 Makrometastasen gefunden werden.
Dies kam in einer randomisierten Studie aus Skandinavien im New England Journal of Medicine (2024; DOI: 10.1056/NEJMoa2313487 ) heraus. Voraussetzung ist eine den Leitlinien entsprechende adjuvante Behandlung, zu der in der Regel eine Bestrahlung der Lymphknotenregion gehört.
Die Einführung der Wächter- oder Sentinel-Node-Biopsie (SNB) hat seit Mitte der 1990er-Jahre zu weniger radikalen Eingriffen in der Axilla geführt. Zunächst wurde die Lymphknotenausräumung noch bei allen Frauen durchgeführt, bei denen Tumorzellen im SNB gefunden wurden.
Im Jahr 2011 zeigten dann die Ergebnisse der Studie Z0011 des American College of Surgeons Oncology Group (ACS), dass der Verzicht auf die Axilladissektion auch dann vertretbar ist, wenn in ein oder 2 SNB Krebszellen gefunden wurden.
In diesem Fall muss zwar damit gerechnet werden, dass weitere Lymphknoten in der Axilla befallen sind. Die adjuvante Chemotherapie und die Radiotherapie scheinen jedoch zu verhindern, dass sie zum Ausgangspunkt für ein Rezidiv werden.
Die AMAROS-Studie der European Organization for Research and Treatment of Cancer (EORTC) bestätigte dies im Jahr 2014. In dieser Studie waren die Patientinnen mit positivem SNB auf eine Axilladissektion oder eine Bestrahlung der Axilla randomisiert worden.
Beide Strategien erzielten gleich gute onkologische Ergebnisse. Nach der Axilladissektion kam es jedoch doppelt so häufig zu einem Lymphödem, das die Lebensqualität der Patientinnen deutlich beeinträchtigen kann.
Beide Studien wiesen jedoch Einschränkungen auf, weshalb sich der Verzicht auf die Axilladissektion bei Patientinnen mit positivem SNB nicht überall durchsetzte. Das Karolinska Institut in Stockholm hat deshalb 2015 mit einer weiteren Studie begonnen, an der sich 30 Zentren in Schweden und Dänemark sowie eine Klinik in Athen beteiligten.
An der SENOMAC-Studie nahmen bis Ende 2021 2.540 Patientinnen mit einem frühen Mammakarzinom im Stadium T1-3 teil, bei denen im Ultraschall keine verdächtigen Lymphknoten entdeckt wurden, die aber in der SNB eine oder 2 Makrometastasen (Größe über 2 mm) hatten. Dabei war eine Ausdehnung über die Kapsel des Lymphknotens erlaubt.
Die Patientinnen wurden auf eine Axilladissektion oder den Verzicht darauf randomisiert. Sie hatten die Wahl zwischen einer brusterhaltenden Operation plus Bestrahlung der Brust oder einer Mastektomie ohne Bestrahlung der Brust – wofür sich ein Drittel entschied.
In beiden Gruppen erhielten etwa 89 % der Patientinnen zusätzlich eine Bestrahlung der Axilla. Bei ungefähr 65 % der Patientinnen wurde eine adjuvante Chemotherapie durchgeführt, 93 % erhielten eine endokrine Therapie und 9 % eine gegen HER2 gerichtete Behandlung.
Wie Jana de Boniface vom Karolinska Institut und Mitarbeiter berichten, sind während einer mittleren Nachbeobachtungszeit von 46,8 Monaten (Bereich: 1,5 bis 94,5 Monate) 191 Patientinnen an einem Rezidiv erkrankt oder gestorben.
Das geschätzte rezidivfreie 5-Jahres-Überleben betrug in der Gruppe ohne Axilladissektion 89,7 % verglichen mit 88,7 % in der Gruppe mit Axilladissektion. De
Boniface ermittelte eine Hazard-Ratio für Rezidive oder Tod von 0,89 mit einem 95-%-Konfidenzintervall von 0,66 bis 1,19. Die obere Grenze lag deutlich unter der vorgegebenen Marge von 1,44. Die Studie hat damit den Beleg erbracht, dass der Verzicht auf die Axilladissektion die Therapieergebnisse nicht verschlechtert.
Interessanterweise wurden in der Gruppe mit Axilladissektion bei jeder dritten Patientin (34,5 %) in den entfernten Lymphknoten Metastasen gefunden. Bei den Patientinnen mit 2 Makrometastasen in den SNB war dies sogar bei jeder zweiten Patientin (51,3 %) der Fall. Man kann davon ausgehen, dass diese Metastasen in gleicher Häufigkeit auch bei den Frauen vorhanden waren, bei denen keine Axilladissektion durchgeführt wurde.
Die Ergebnisse führen zur der Frage, ob eine SNB überhaupt notwendig ist. Diese Frage wurde jüngst in der SOUND-Studie untersucht, an der in Italien, der Schweiz, Spanien und Chile 1.405 Patientinnen mit einem Mammafrühkarzinom (unter 2 cm) und einem negativen präoperativen axillären Ultraschallergebnis teilnahmen.
Die Patientinnen wurden zu gleichen Teilen auf eine SNB (bei einem positiven Befund mit anschließender Axilladissektion) oder auf den Verzicht auf eine SNB (und damit auch den Verzicht auf eine Axilladissektion) randomisiert.
Wie Oreste Davide Gentilini von der San Raffaele Klinik in Mailand im vergangenen Jahr in JAMA Oncology (2023; DOI: 10.1001/jamaoncol.2023.3759 ) berichtete, wurden bei 13,7 % der Patientinnen in der SNB Metastasen gefunden und eine Axilladissektion durchgeführt. Dennoch war das Überleben ohne Fernmetastasen mit 97,7 % in der SNB-Gruppe und mit 98,0 % in der Vergleichsgruppe nahezu identisch.
Auch ein lokoregionäres Rezidiv war mit 1,8 % in der SNB-Gruppe versus 1,6 % in der Gruppe ohne SNB gleich. Die Editorialistin der aktuellen Studie Kandace McGuire von der Virginia Commonwealth University (VCU) hält diese Ergebnisse sowohl für „hypothesengenerierend als auch für praxisverändernd“. Weitere Studien müssten jetzt klären, ob Faktoren wie das Alter der Patientin, Begleiterkrankungen, adjuvante Therapien, Genomtests und der Tumorphänotyp den Einsatz einer Axilladissektion beeinflussen sollten. © rme/aerzteblatt.de
GESUNDHEITSPOLITIK
Digitale Patientenakte: Frankreich positives Opt-out-Beispiel
Berlin – In Frankreich nutzen mehr als 95 Prozent der Sozialversicherten die dortige digitale Patientenakte (Mon Espace Santé (MES), übersetzt „Mein Gesundheitsbereich“). Diese wurde im Januar 2022 eingeführt und ist eine Opt-out-Lösung, so dass Sozialversicherte aktiv widersprechen mussten.
COMMENT: so wie in Österreich auch.
Das berichtete David Sainati, stellvertretender Leiter der Abteilung für Digitalisierung im französischen Gesundheitsministerium gestern Abend auf der Veranstaltung „French Healthcare Booster Germany“, ausgerichtet von der französischen Agentur Business France. Die Veranstaltung fand im Rahmen der aktuell stattfindenden Messe für digitale Gesundheit DMEA in der französischen Botschaft statt.
Versicherte könnten innerhalb eines Onlinebereichs auf ihre Daten zugreifen, auch Ärztinnen und Ärzte hätten Zugriff. Sainati erklärt sich die hohe Nutzungsrate einerseits mit der Opt-out-Regelung. Zudem habe der französische Staat ein Extrabudget von zwei Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, um die Sozialversicherungsdaten abzugleichen und in ein neues System einzuspeisen.
Der Bundestagsabgeordnete Maximilian Funke-Kaiser (FDP), erklärte, von solchen Zahlen könne Deutschland nur träumen. Mit den gerade in Kraft getretenen Digitalgesetzen sei aber zunächst eine Erhöhung der Nutzungsrate von einem auf 80 Prozent möglich, so Funke-Kaiser. Das hänge aber auch von der Umsetzung ab.
Für Marek Rydzewski von der Barmer ist es zudem wichtig, dass die Versicherten einen Mehrwert in der elektronischen Patientenakte (ePA) sehen. Das gehe nur, wenn sie etwas Interessantes in der Akte finden würden, beispielsweise zum Thema Vorsorge und Prävention. Zudem müsse das System leicht zugänglich sein.
Er setzt sich für eine Basis-ePA ein, die alle Kassen als Grundlage anbieten müssen. Alles, was darüber hinaus gehe, sollten die Kassen als Teil ihres Wettbewerbs selbst gestalten können. „Wir brauchen Differenzierungsmerkmale“, betonte Rydzewski.
Wichtig für die Umsetzung sei aber vor allem eine Schnittstellenanpassung, weiß Sainati. Wenn am Tag X nicht alle Softwareanpassungen vorhanden seien, dann könnten Systeme nicht verzahnt werden. Deshalb habe es in Frankreich im Vorfeld der Einführung von MES eine Taskforce gegeben, die sich Sektor für Sektor angeschaut und die Herausforderungen für Nutzende genau geprüft habe. Das Ziel sei gewesen, das System kompatibel und homogen zu gestalten.
Damit das ganze auch finanziell funktioniere, gebe es einen neuen Finanzierungsmechanismus in Frankreich, berichtet Sainati weiter. So kauften Apotheker und Ärzte dem Staat Anwendungen zur Aktualisierung von Schnittstellen ab, die zwischen MES und ihren eigenen Systemen fungierten. Mit diesem Geld könnten die Systeme und Schnittstellen weiterentwickelt werden, erklärte Sainati. Ziel sei aber eine schnellere und bessere Betreuung von Patienten und nicht mehr Wettbewerb zwischen den Krankenkassen.
Damit könne Deutschland noch viel von Frankreich hinsichtlich der digitalen Akten lernen, so der Konsens auf der Veranstaltung. Die beiden Länder seien im engen Austausch, auch um Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzubringen, betonte Sainati. Frankreich könne in Sachen Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) aber noch einiges von Deutschland lernen. Hier sei Frankreich noch sehr zurückhaltend und wolle sich künftig stärker am deutschen Beispiel orientieren, erklärte Sainati. © cmk/aerzteblatt.de
Lauterbach: Digitale Medizin und KI verändern Versorgung grundlegend
Berlin – Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) werden im Verbund die Medizin „komplett verändern“. Diese Prognose gab heute Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) im Rahmen der Digital-Health-Messe DMEA ab.
Lauterbach betonte, dies denke man in allen Gesetzgebungsverfahren mit. So erlaube beispielsweise die dem Menschen überlegene Mustererkennung der KI, Krankheiten schon sehr viel früher als bislang zu erkennen.
Diese Früherkennung gestatte dann eine noch personalisiertere Behandlung. Perspektivisch drohten allerdings „Bezahlbarkeitsgrenzen“, da neuartige Ansätze wie Chemotherapie-Antikörper-Kombinationen oder die CAR-T-Zell-Therapie „enorm teuer“ seien.
Auch hier könne KI helfen, um beispielsweise passgenau die exakt richtige Therapie für den individuellen Patienten zu bestimmen und so die Kosten abzudämpfen. Lauterbach wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass man mit Blick auf die für KI-Anwendungen nötige Datennutzung seit dieser Legislatur eine entsprechende gesundheitspolitische Strategie verfolge. In der Summe laufe diese Strategie auf einen „KI-in-all-policies“-Ansatz hinaus.
Insbesondere mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) sowie dem Digitalgesetz wolle man eine Umgebung schaffen, die Datenverarbeitung mit und durch KI-Modelle ermöglicht. Flankierend würden etwa das Medizinforschungsgesetz (MFG) und die europäische Initiative zum Europäischen Raum für Gesundheitsdaten (EHDS) wirken.
Bezüglich der elektronischen Patientenakte (ePA) sagte Lauterbach, man wolle den „Prozess der Etablierung beschleunigen“. Er sicherte zu, dass in den Testregionen auf Kriterien wie Zugriffszeiten und ähnliches geachtet werde – zudem habe man einen entsprechenden bilateralen Austausch mit den IT-Firmen angestoßen. © aha/aerzteblatt.de
UMWELT
Zehnter Rekord-Monat in Folge: März wärmer als jeder vorherige (inkl. Schaubild)
Zum zehnten Mal in Folge ist ein Monat im Vergleich zu den jeweiligen Vorjahresmonaten am wärmsten ausgefallen. Auch der März war nach Daten des EU-Klimawandeldiensts Copernicus weltweit wärmer als jeder vorherige März seit Aufzeichnungsbeginn. Die von Copernicus genutzten Daten gehen zurück bis in das Jahr 1950, teilweise sind auch frühere Daten verfügbar. Die Lufttemperatur an der Erdoberfläche habe im März durchschnittlich 14,14 Grad betragen, wurde am Dienstag mitgeteilt.
Das seien 0,73 Grad mehr als im Schnitt des Referenzzeitraums von 1991 bis 2020 und 0,10 Grad mehr als im bisher wärmsten gemessenen März im Jahr 2016. „Der März 2024 setzt die Reihe der Klimarekorde fort, die sowohl für die Luft- als auch für die Meeresoberflächentemperaturen gebrochen werden, mit dem zehnten Rekordmonat in Folge“, erklärte Copernicus-Vizedirektorin Samantha Burgess.
Im Vergleich zum Zeitraum 1850 bis 1900, dem vorindustriellen Referenzzeitraum, war der Monat 1,68 Grad wärmer, wie es weiter hieß. Die globale Durchschnittstemperatur für die vergangenen zwölf Monate (April 2023 bis März 2024) ist die höchste seit Beginn der Aufzeichnungen und liegt 1,58 Grad über dem vorindustriellen Durchschnitt. Das heißt aber noch nicht, dass das Pariser 1,5-Grad-Ziel verfehlt ist, da dafür auf längerfristige Durchschnittswerte geschaut wird. Sollte sich der Temperaturtrend der vergangenen 30 Jahre fortsetzen, werde dies im Jahr 2033 geschehen, schreibt der Klimawandeldienst.
2023 wärmer waren als die vergangenen 100.000 Jahre
Das vergangene Jahr war nach Copernicus-Daten von Februar 1,48 Grad wärmer als im weltweiten vorindustriellen Mittel und das wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen 1850. „Es ist wahrscheinlich, dass die Temperaturen 2023 wärmer waren als in den vergangenen 100.000 Jahren“, hatte Burgess Anfang Jänner erklärt. Europa hatte das zweitwärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen erlebt.
Der Klimawandeldienst Copernicus der Europäischen Union veröffentlicht regelmäßig Daten zur Temperatur an der Erdoberfläche, zur Meereisdecke und zu Niederschlägen. Die Erkenntnisse beruhen auf computergenerierten Analysen, in die Milliarden von Messungen von Satelliten, Schiffen, Flugzeugen und Wetterstationen auf der ganzen Welt einfließen.
SOZIALE MEDIEN
INTERVIEW: Sozialwissenschafter Jonathan Haidt: «Um das Jahr 2012 stürzte die geistige Gesundheit junger Menschen eine Klippe hinunter»
Haidt hat ein Buch über die Generation Z geschrieben. Er fürchtet, dass deren hohe Internetnutzung nicht nur zu veränderten Gehirnen führt, sondern ganze Demokratien ins Wanken bringen wird.
Jonathan Haidt, im vergangenen Jahr 60 geworden, ist Professor an der New York University Stern School of Business und gehört zu den wohl produktivsten Sozialwissenschaftern unserer Zeit. Bald erscheint sein neustes Buch «Bildschirm Kinder. Der verheerende Einfluss sozialer Medien auf die psychische Gesundheit einer ganzen Generation». Eine Warnung für die Generation Z und vor ihr – denjenigen also, die nach 1995 geboren wurden.
Was zur Hölle ist mit der Generation Z passiert?
Von den Anfängen der Menschheit bis Anfang 2010 haben Kinder wie alle anderen Säugetiere gespielt. Das schaltet ihr Gehirn ein. Plötzlich, um das Jahr 2012 herum, stürzte die geistige Gesundheit junger Menschen eine Klippe hinunter. Insbesondere bei den Mädchen, aber auch bei den Jungen.
Woran zeigt sich das?
Angstzustände, Depressionen, Selbstverletzungen, Selbstmord – all diese Kurven schiessen nach oben. Im Jahr 2010 gab es dafür noch keine Anzeichen. Also ist um 2012 herum etwas passiert. Die einzige plausible Erklärung ist die weitverbreitete Nutzung von Smartphones in Kombination mit sozialen Netzwerken unter Kindern ab den frühen 2010er Jahren. Ich glaube, das ist die Ursache für diese globale Krise der psychischen Gesundheit: Die vollständige Umstellung von einer spielerischen Kindheit, die wir seit Millionen von Jahren hatten, auf eine telefonbasierte Kindheit.
Welche konkreten Veränderungen brachte diese Umstellung?
Durch Smartphones und soziale Netzwerke sehen Kinder ihre Freunde nicht mehr so oft im wirklichen Leben. Sie schlafen nicht mehr so viel. Sie haben weniger Erfahrungen mit der Natur und sitzen den ganzen Tag nur vor ihrem Bildschirm. So verpassen sie das breite Spektrum der Erfahrungen, die für eine gesunde Entwicklung notwendig sind. Ihr Gehirn wird auf ein Leben am Bildschirm eingestellt. Das macht sie kaputt.
War Covid nicht schlechter für Kinder und Jugendliche?
2010 hatten die Teenager Klapphandys, um mit einer Person zu sprechen und sich trotzdem mit ihr zu treffen. Im Jahr 2015 hat fast jeder ein Smartphone, und die meisten Mädchen sind auf Instagram. Das ist genau der Zeitpunkt, an dem sich das gesamte soziale Leben der Teenager verändert hat. Die Generation Z begann in den frühen 2010er Jahren, sich sozial zu distanzieren. Im Jahr 2019 haben sie sich dann fast vollständig distanziert. Bei Covid hat sich die Zeit mit Freunden nicht sonderlich verringert, das war schon vorher der Fall.
Warum ist es so schwer, auf die sozialen Netzwerke zu verzichten?
Was an den sozialen Netzwerken so transformativ ist, ist der Effekt auf Gruppenebene. Alle sagen das Gleiche: «Ich kann nicht aufhören, soziale Netzwerke zu nutzen, weil alle anderen es auch tun.» Es ist ein Problem des kollektiven Handelns. Eine kollektive Lösung, die ich vorschlage, sind handyfreie Schulen.
Haben Sie einen Rat für jemanden, der mit 18-, 19-, 20-Jährigen zu tun hat?
Sie erhalten Hunderte von Benachrichtigungen pro Tag, viele von ihnen haben nie zehn Minuten ohne Unterbrechung. Bitten Sie sie, fast alle Benachrichtigungen auf ihren Smartphones abzuschalten.
Was schlagen Sie in Bezug auf Altersgrenzen vor?
Erstens: Kein Smartphone bis zum Alter von 14 Jahren. Zweitens: Keine sozialen Netzwerke bis zum Alter von 16 Jahren.
Gibt es Lehren, die aus anderen Kommunikationsrevolutionen wie dem Buchdruck, dem Radio oder dem Fernsehen gezogen werden können?
Alle konzentrieren sich immer auf den Inhalt. Im Fernsehen gibt es Gewalt und Sex, also sollten wir die Menge an Gewalt und Sex reduzieren. Aber der Inhalt ist nicht annähernd so wichtig wie die Tatsache, dass es im Leben mit der Einführung des Fernsehens plötzlich darum ging, stillzusitzen und unterhalten zu werden. Alles wurde zur Unterhaltung, auch unsere Politik. Das Medium, nicht der Inhalt, ist das Problem: Das Smartphone lässt die Kinder all ihre Erfahrungen auf einem winzigen Bildschirm machen.
Wie sieht es mit sehr kleinen Kindern aus? Können sie unser Smartphone von Zeit zu Zeit haben?
Die Kinder lieben es natürlich, und es verschafft den Eltern Ruhe. Als unsere Kinder vor Jahren an unseren Handys hängen wollten, dachten meine Frau und ich: Vielleicht ist das der Weg der Zukunft. Wir hatten keine Ahnung, was wir da taten. Heute zeigen die Korrelationsstudien ganz klar, dass Kinder, die mehr Zeit am Bildschirm verbringen, schon im Alter von ein, zwei oder drei Jahren schlechtere Leistungen erbringen, weil sie keine soziale Interaktion haben. Aber es gibt keine Experimente mit kleinen Kindern, Gott sei Dank.
Warum ist es so wichtig, dass Kinder draussen spielen und sich Gefahren aussetzen?
So lernen sie, wie die Welt funktioniert. Zwei Elemente sind entscheidend: dass es keine Überwachung durch Erwachsene geben darf, denn die Erwachsenen würden beim kleinsten Anzeichen von Ärger oder Konflikten eingreifen, und das ist nicht gut für die Entwicklung des Kindes. Und: Kinder müssen Dinge erobern, Risiken eingehen. Ich bin sicher, Sie können sich an Dinge erinnern, die Sie als Kind getan haben, die riskant waren. Das sind die aufregendsten Dinge, die wir je getan haben. Es sind die tatsächlichen Gefühle von Angst und Nervenkitzel, die den Angstpegel im Gehirn zurücksetzen und Ihnen sagen: Weisst du was? Ich kann das schaffen! Heute geben wir unseren Kindern nur noch selten die Chance, solche Momente zu erleben.
Kinder, die mit Smartphones aufwachsen – werden sie sich jemals konzentrieren können?
In ihren frühen Teenagerjahren müssen Kinder die exekutive Funktion entwickeln, also die Fähigkeit, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Sie basiert auf neuronalen Schaltkreisen im präfrontalen Kortex, die sich während der Pubertät entwickeln. Aber 45 Prozent der amerikanischen Teenager geben an, dass sie «fast ständig» online seien. Das heisst, wenn man sich mit ihnen unterhält, denken sie gerade über einen Beitrag nach, den sie verfasst haben, und schauen innerhalb von drei Minuten auf ihr Handy. Manche junge Menschen sind nie ganz bei ihren Gesprächspartnern. Dies ist meiner Meinung nach die grösste Bedrohung für die Gesundheit der Kinder in den westlichen Ländern. Covid war nichts im Vergleich zu dem, was wir unseren Kindern mit sozialen Netzwerken und Smartphones antun.
Sind die sozialen Netzwerke nicht erst der Anfang?
Ich denke, dass KI die gegenwärtigen Trends noch viel schlimmer machen wird. Videospiele etwa werden unglaublich immersiv sein. Und der Einsatz von KI mit dem Ziel, den perfekten Sexualpartner zu finden, ist bereits im Gange. Die Menschen verlieben sich bereits in ihre KI-Freundinnen und -Freunde. Sie werden irgendwann viel verführerischer und unterhaltsamer sein als ein echter Mensch. Viele junge Menschen – vor allem Buben – werden nie lernen, wie man mit echten Menschen umgeht.
Aber wenn wir unseren Kindern die Smartphones vorenthalten, werden sie nicht auf die Arbeitswelt vorbereitet sein.
Die Kinder können diese Dinge innerhalb von ein paar Wochen lernen. Wenn Sie also Ihr Kind bis zum 18. Lebensjahr von allen sozialen Netzwerken fernhalten und es dann einen Job in einem Unternehmen bekommt, in dem es soziale Netzwerke nutzen muss, wird es das in ein paar Wochen lernen, und es wird ein voll funktionsfähiges Gehirn mit guten exekutiven Funktionen haben, so dass es sogar besser in dem Job sein wird.
Ist das Anschauen von Videos schlecht?
Nehmen wir Netflix. Ich frage meine Studenten: «Wie viele von Ihnen schauen Netflix?» Alle von ihnen. «Wie viele von Ihnen wünschen sich, Netflix wäre nie erfunden worden?» Niemand. Sicher, Netflix frisst Zeit, aber die Qualität ist meistens gut, und die Leute bereuen es nicht. Wenn ich meine Schüler frage: «Wie viele von Ihnen schauen Tiktok?» Alle. Allerdings wünschen sich fast alle, dass es nie erfunden worden wäre. Es sind also die kurzen Videos, die giftig sind: Tiktok, Instagram Reels, Youtube Shorts. Das sind die zerstörerischsten Videos, weil der Inhalt oft bizarr und entwürdigend ist. Es ist wirklich ekelhaftes Zeug, in das die Kinder eingetaucht werden. Es ist verrückt, dass wir Kinder in die sozialen Netzwerke lassen – wir lassen 12-, 13-, 14-Jährige ja auch nicht in Bordelle oder Kasinos.
Wie sieht es mit Videospielen aus?
Es gibt ein paar kleine Vorteile von Videospielen. Jungen, die Videospiele spielen, sind bei bestimmten Aufgaben etwas besser, und die Spiele machen extrem viel Spass. Aber die Risiken eines starken Konsums überwiegen. 5 bis 10 Prozent der Jungen werden süchtig, 2 bis 5 Prozent sogar schwer süchtig. Die starke Stimulation der Dopamin-Neuronen führt dazu, dass das Gehirn eine Toleranz entwickelt. Wenn diese hochgradig süchtigen Jungen jeden Tag fünf Stunden spielen, verändert diese Stimulation wahrscheinlich die Entwicklung ihres Gehirns während der Pubertät. Ich würde also sagen, wenn Sie Ihr Kind am Wochenende ein, zwei Stunden pro Tag spielen lassen wollen, schadet das nicht. Aber wenn Ihre Kinder während der Pubertät anfangen, drei Stunden am Tag und sieben Tage die Woche zu spielen, könnte es durchaus zu dauerhaften Veränderungen im Gehirn kommen.
Können junge Erwachsene die Schäden an ihren Gehirnen vollständig rückgängig machen?
Meine Hypothese ist, dass jahrelanger starker Konsum während der Pubertät zu dauerhaften Veränderungen im Gehirn führt, was bedeutet, dass die Person zu mehr Negativität und Angst veranlagt ist. Das Gehirn ist jedoch bis zum Alter von 25 Jahren und sogar darüber hinaus noch plastisch. Meine College-Studenten an der NYU sind 19 Jahre alt. Sie sind mit den sozialen Netzwerken aufgewachsen. Viele haben Angstzustände. Die meisten haben Aufmerksamkeitsprobleme. Aber sie können Techniken lernen, um sich weniger ablenken zu lassen und die Kontrolle über ihre Aufmerksamkeit wiederzuerlangen.
Könnten die Algorithmen der sozialen Netzwerke so verändert werden, dass die Menschen ruhiger und glücklicher werden, statt ängstlicher und depressiver?
Das ist unmöglich. Denn das Problem ist nicht in erster Linie der Inhalt, sondern das Medium. Solange Kinder viele Stunden am Tag mit ihrem Handy verbringen, werden sie nichts Sinnvolles tun; nicht mit Freunden reden oder in der Natur spazieren gehen. Wenn man ihnen etwas bessere Inhalte bietet, werden sie vielleicht etwas weniger ängstlich, aber es gibt keine Möglichkeit, sie gesund und stark zu machen.
Wozu führt es, wenn wir als Eltern und als Gesellschaft keine Änderungen vornehmen?
Nehmen Sie die Vereinigten Staaten: Das amerikanische Experiment ist ein Experiment der Selbstverwaltung. Aber wir haben nicht mehr die Tugenden und Fähigkeiten, die unsere Gründerväter zur Aufrechterhaltung einer demokratischen Republik für notwendig befanden. Wir haben es vermasselt. Wir geben dieses Land an eine Generation weiter, der wir nie erlaubt haben, die Fähigkeit zur Selbstverwaltung zu erlernen. Nun haben wir eine Demokratie, die auf eine Klippe zusteuert. Ausserdem ist die Generation Z meiner Meinung nach weniger kreativ, weil sie keine Zeit zum Nachdenken hat. Viele von ihnen haben nie zehn Minuten Zeit, um ohne Unterbrechung zu träumen. Sie müssen jeden Tag so viele Inhalte konsumieren, dass ihnen keine Zeit bleibt, kreativ zu sein.
Welche Folgen könnte das haben?
Ich denke, die wirtschaftlichen Folgen werden schwerwiegend sein. Vor allem Jungen brechen die Schule ab. Stellen Sie sich eine Zukunft vor, in der sich junge Männer weitgehend aus der Gesellschaft zurückziehen. Sie beschäftigen sich lieber mit Videospielen und haben KI-Roboter-Freundinnen, mit denen sie sich verabreden und die sie heiraten. Die Mädchen gehen trotzdem aufs College und bekommen die Jobs in den Unternehmen. Aber weil sie so viel Angst haben, sind sie vielleicht weniger risikofreudig und unternehmerisch kreativ.
Haben autoritäre Regime das Problem besser im Griff?
Dies ist ein weiterer Grund für meine Besorgnis: Die heutige digitale Technologie macht es für Demokratien schwieriger, erfolgreich zu sein, und sie macht es autoritären Ländern wie China leichter. Meine Befürchtung ist, dass es den Demokratien auf lange Sicht schwerfallen könnte, sich für das digitale Zeitalter zu rüsten, während autoritäre Länder bereits davon profitieren.
Rolf Dobelli ist Gründer von «World.Minds», einer Community von weltweit führenden Köpfen. Das Gespräch mit Jonathan Haidt fand im Rahmen eines World.Minds-Zoom-Treffens statt.
NZZ Live-Veranstaltung: Generation Z – das Lebensgefühl einer neuen Generation
Ambivalent und schwer greifbar sind die Vertreterinnen und Vertreter der «Digital Natives». Die jüngste Generation ist vielen ein Rätsel. Was bewegt die Generation Z wirklich, und wohin will sie?
Montag 13. Mai 2024, 19:30 Uhr, Bernhard Theater, Zürich
Tickets und weitere Informationen finden Sie hier
Jonathan Haidt: Smartphones vs. Smart Kids – René Walter, PIQD, 19.12.2023
Jonathan Haidt fasst in einem seiner letzten Vorträge des Jahres die Ergebnisse der Arbeit an seinem kommenden Buch über Social Media und die rapide Zunahme von Mental Health Issues unter Jugendlichen seit 2012 zusammen.
Ich verfolge die Arbeit von Jonathan Haidt im Kontext von Social Media seit mehr als zehn Jahren, seit fünf berichte ich über seine Erkenntnisse regelmäßig hier auf Piqd und erst langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass Soziale Medien psychoaktive Wirkungen zeigen, die wir gerne unterschätzen und mit Verweisen auf die fraglos existierenden postiven Seiten digitaler Massenvernetzung beiseite wischen, auch wenn sich die psychoaktive Wirkung sozialer Medien verheerend auf die geistige Gesundheit von Jugendlichen auswirkt.
Der Gegenspieler von Jonathan Haidt, der Oxford Psychologe Andrew Przybylski, findet regelmäßig und so auch in seiner jüngsten Studie mit mehr als 12000 Probanden gar keine Zusammenhänge zwischen Screentime oder Sozialen Medien und der Teenage Mental Health Crisis.
Dementgegen fanden gleich zwei im gleichen Zeitraum veröffentlichte Meta-Studien mit mehr als 30000 Probanden sehr wohl signifikante Auswirkungen von Screentime auf die neurologische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Eine weitere Studie fand heraus, dass Screentime für Kinder von 1 Jahr zu Entwicklungsverzögerungen führt.
In Deutschland haben 40 Bildungsforscher einen offenen Brief veröffentlicht, in dem sie ein Moratorium der Digitalisierung an Kitas und Schulen fordern, da sich die „wissenschaftlichen Hinweise auf enorme Nachteile und Schäden für die Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen durch digitale Medien“ verdichten. Ich habe diesen offenen Brief als Mitzeichner unterschrieben und plädiere seit längerem für ein Smartphone-Verbot an Schulen, die Mental Health Krise unter US-Teenagern ist dabei nur eine weitere Facette. Nonkonsensuale Deepfake-Pornos (die auch an Schulen getauscht werden) und AI-Companions als die nächsten Stufen der digitalen Revolution werden die Zahlen der Mental Health Issues unter Jugendlichen garantiert nicht senken.
In seinem Vortrag schlägt Haidt nun vier Normen vor um den Teufelskreis allmächtiger digitaler Vernetzungsspielzeuge zu durchbrechen: Smartphones nicht unter 14 Jahren, Social Media-Zugang ab 16 Jahren, ein komplettes Verbot von Smartphones an Schulen und Unabhängigkeit und Free Play für Kids. Auch das unterschreibe ich.
Meines Erachtens sind die Beweise für eine schädliche Wirkung soziales Medien erdrückend. Ich halte sie sprichwörtlich für Drogen, eine Form von „social smoking„, und sie haben an Schulen nichts verloren.
„Nach Babel“ Jonathan Haidts radikale Kritik an Social Media – Maximilian Rosch, PIQD, 14.6.2022
Schon vor ein paar Wochen hat René Walter einen Text des Sozialpsychologen Jonathan Haidt für The Atlantic im englischen Original gepiqd und vor wenigen Tagen ein langes Podcast-Interview mit Jonathan Haidt nachgelegt. Wir halten Haidts Text für essentiell für das Verständnis der aktuellen US-amerikanischen Situation und für die genaue Betrachtung der gesellschaftlich toxischen Wirkungen von Social Media. Deshalb haben wir dem Atlantic die Übersetzungsrechte abgekauft und ihn in der Redaktion übersetzt. Der Text ist lang und er ist genau richtig lang, weil komplett wichtig. Teilt ihn, schickt ihn gerade auch jungen Menschen. Wir bitten darum, uns eventuell enthaltene Übersetzungsfehler nachzusehen und freuen uns über Hinweise an max@piqd.de.
WARUM DIE LETZTEN 10 JAHRE AMERIKANISCHEN LEBENS SO EINZIGARTIG DUMM WAREN – Es ist nicht nur eine Phase. – Jonathan Haidt, Juni 2022
Von Jonathan Haidt
Wie wäre es gewesen, in Babel nach dessen Zerstörung zu leben? Im Buch Genesis heißt es, dass die Nachkommen Noahs eine große Stadt im Land Schinar errichteten. Sie bauten einen Turm „mit seiner Spitze in den Himmel“, um sich „einen Namen zu machen“. Gott war beleidigt von der Hybris der Menschheit und sagte:
Sieh, sie sind ein Volk, und sie haben alle eine Sprache; und dies ist nur der Anfang dessen, was sie tun werden; nichts, was sie vorhaben, wird ihnen jetzt unmöglich sein. Komm, lass uns hinuntergehen und dort ihre Sprache verwirren, damit sie die Sprache des anderen nicht verstehen.
Der Text sagt nicht, dass Gott den Turm zerstört hat, aber in vielen populären Darstellungen der Geschichte tut er es, also also sollte man sich dieses dramatische Bild vor Augen halten: Menschen, die zwischen den Ruinen umherirren, unfähig zu kommunizieren, zu gegenseitigem Unverständnis verurteilt.
Die Geschichte von Babel ist die beste Metapher, die ich für das gefunden habe, was in den 2010er Jahren mit Amerika passiert ist, und für das zerbrochene Land, in dem wir jetzt leben. Irgendetwas ging ganz plötzlich schief. Wir sind desorientiert, unfähig, dieselbe Sprache zu sprechen oder dieselbe Wahrheit zu erkennen. Wir sind voneinander und von der Vergangenheit abgeschnitten.
Es ist seit geraumer Zeit klar, dass das rote Amerika [Farbe der Republikaner] und das blaue Amerika [Farbe der Demokraten] sich in zwei verschiedene Länder entwickeln werden, die dasselbe Territorium beanspruchen, mit zwei verschiedenen Versionen der Verfassung, der Vorstellung von Wirtschaft und der amerikanischen Geschichte. Aber Babel ist keine Geschichte über Tribalismus [hier so viel wie Stammesbildung, im Sinne der totalen Abgrenzung des einen Stammes vom anderen]; es ist eine Geschichte über die Fragmentierung von allem. Es geht um die Zertrümmerung von allem, was solide schien, die Zerstreuung von Menschen, die eine Gemeinschaft gewesen waren. Es ist eine Metapher für das, was nicht nur zwischen Rot und Blau passiert, sondern auch zwischen der Linken und der Rechten sowie innerhalb von Universitäten, Unternehmen, Berufsverbänden, Museen und sogar Familien.
Babel ist eine Metapher dafür, was einige Formen der sozialen Medien fast allen Gruppen und Institutionen angetan haben, die für die Zukunft des Landes am wichtigsten sind – und für uns als Volk. Wie ist das passiert? Und was bedeutet es für das Amerikanische Leben?
Der Aufstieg des „modernen Turms“
Es gibt eine Bewegung in der Geschichte, und zwar immer in Richtung Zusammenarbeit in größerem Maßstab. Wir sehen diesen Trend in der biologischen Evolution in einer Reihe von „großen Übergängen„, in denen zuerst vielzellige Organismen auftauchten und dann neue symbiotische Beziehungen entwickelten. Wir sehen es auch in der kulturellen Evolution, wie Robert Wright 1999 in seinem Buch Nonzero: The Logic of Human Destiny erklärte. Wright zeigte, dass es in der Geschichte eine Reihe von Übergängen gibt, die von der steigenden Bevölkerungsdichte und neuen Technologien (Schreiben, Straßen, Druckerpresse) angetrieben wurden und die neue Möglichkeiten für gegenseitig vorteilhaften Handel und Lernen geschaffen haben. Nullsummenkonflikte – wie die Religionskriege, die entstanden, als die Druckerpresse häretische Ideen in ganz Europa verbreitete – wurden lieber als vorübergehende Rückschläge betrachtet und manchmal sogar als integraler Bestandteil des Fortschritts. (Diese Religionskriege, argumentierte er, ermöglichten den Übergang zu modernen Nationalstaaten mit besser informierten Bürgern.) Präsident Bill Clinton lobte Nonzeros optimistische Darstellung einer kooperativeren Zukunft dank anhaltendem technologischem Fortschritt.
Das frühe Internet der 1990er Jahre mit seinen Chatrooms, Message Boards und E-Mails war ein Beispiel für die Nonzero-These, ebenso wie die erste Welle von Social-Media-Plattformen, die um 2003 auf den Markt kamen. Myspace, Friendster und Facebook machten es einfach, sich zu verbinden mit Freunden und Fremden, um kostenlos und in einem nie zuvor vorstellbaren Umfang über gemeinsame Interessen zu sprechen. Bis 2008 hatte sich Facebook zur dominierenden Plattform entwickelt – aus damals mehr als 100 Millionen monatlichen Nutzern sind bis heute rund 3 Milliarden geworden. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts galten die sozialen Medien weithin als Segen für die Demokratie. Welcher Diktator könnte einer vernetzten Bürgerschaft seinen Willen aufzwingen? Welches Regime könnte eine Mauer errichten, um das Internet fernzuhalten?
Der Höhepunkt des technodemokratischen Optimismus war wohl 2011, ein Jahr, das mit dem Arabischen Frühling begann und mit der globalen Occupy-Bewegung endete. Zu diesem Zeitpunkt wurde auch Google Translate auf praktisch allen Smartphones verfügbar, so dass man sagen könnte, dass 2011 das Jahr war, in dem die Menschheit den Turm zu Babel wieder aufgebaut hatte. Wir waren näher als je zuvor daran, „ein Volk“ zu sein, und wir hatten den Fluch der Trennung durch Sprache effektiv überwunden. Für technodemokratische Optimisten schien dies nur der Anfang dessen zu sein, was die Menschheit erreichen könnte.
Im Februar 2012, als er sich darauf vorbereitete, Facebook an die Börse zu bringen, dachte Mark Zuckerberg über diese außergewöhnlichen Zeiten nach und legte seine Pläne dar. „Heute hat unsere Gesellschaft einen weiteren Wendepunkt erreicht“, schrieb er in einem Brief an Investoren. Facebook hoffte, „die Art und Weise, wie Menschen Informationen verbreiten und konsumieren, neu zu verdrahten“. Indem es ihnen „die Macht zum Teilen“ gebe, würde es ihnen helfen, „viele unserer Kerninstitutionen und -industrien erneut zu transformieren“.
In den zehn Jahren seitdem hat Zuckerberg genau das getan, was er versprochen hatte. Er hat die Art und Weise, wie wir Informationen verbreiten und konsumieren, neu verkabelt; er hat unsere Institutionen transformiert und über den Kipppunkt hinausgeschoben. Es ist nicht so gelaufen, wie er es erwartet hatte.
Die Dinge fallen auseinander
Historisch gesehen haben sich Zivilisationen auf gemeinsames Blut, gemeinsame Götter und gemeinsame Feinde verlassen, um der Tendenz entgegenzuwirken, sich auseinander zu entwickeln, wenn sie wachsen. Aber was hält große und vielfältige, säkulare Demokratien wie die Vereinigten Staaten und Indien oder auch das moderne Großbritannien und Frankreich zusammen?
Sozialwissenschaftler haben mindestens drei Hauptkräfte identifiziert, die erfolgreiche Demokratien kollektiv zusammenhalten:
Sozialkapital (ausgedehnte soziale Netzwerke mit hohem gegenseitigem Vertrauen), starke Institutionen und gemeinsame Geschichten. Die sozialen Medien haben alle drei geschwächt. Um zu sehen, wie das passiert ist, müssen wir verstehen, wie sich die sozialen Medien im Laufe der Zeit verändert haben – und zwar insbesondere in den Jahren nach 2009.
In ihren frühen Inkarnationen [hier: Erscheinungsformen] waren Plattformen wie Myspace und Facebook relativ harmlos. Sie erlaubten es Benutzern, Seiten zu erstellen, auf denen sie Fotos, Familien-Updates und Links zu den meist statischen Seiten ihrer Freunde und Lieblingsbands posten konnten. Insofern können die frühen sozialen Medien nur als ein weiterer Schritt in der langen Entwicklung technologischer Verbesserungen angesehen werden – von der Post über das Telefon bis hin zu E-Mail und SMS – die den Menschen halfen, das ewige Ziel zu erreichen, ihre sozialen Bindungen aufrechtzuerhalten.
Aber nach und nach fühlten sich die Nutzer sozialer Medien wohler damit, intime Details ihres Lebens mit Fremden und Unternehmen zu teilen. Wie ich 2019 in einem Atlantic-Artikel mit Tobias Rose-Stockwell schrieb, wurden sie geschickter darin, sich darzustellen und ihre persönliche Marke zu pflegen – Aktivitäten, die andere beeindrucken könnten, aber die Freundschaften nicht so vertiefen, wie es ein privates Telefongespräch tun würde.
Nachdem die Social-Media-Plattformen die Benutzer darauf trainiert hatten, mehr Zeit darauf zu verwenden sich darzustellen und weniger Zeit mit Kontakt zu verbringen, war die Bühne für die große Transformation bereitet, die 2009 begann: die Intensivierung der viralen Dynamik.
Babel is not a story about tribalism. It’s a story about the fragmentation of everything.
Vor 2009 hatte Facebook den Nutzern eine einfache Zeitleiste zur Verfügung gestellt – einen endlosen Strom von Inhalten, von ihren Freunden und Verbindungen generiert, mit den neuesten Beiträgen oben und den ältesten unten. Dies war oft in der Menge überwältigend, aber es war eine genaue Widerspiegelung dessen, was andere gepostet hatten.
Das änderte sich 2009, als Facebook seinen Nutzern die Möglichkeit bot, Posts mit einem Klick öffentlich zu „liken“. Im selben Jahr führte Twitter etwas noch Mächtigeres ein: den „Retweet“-Button, der es Benutzern ermöglichte, einen Beitrag öffentlich zu unterstützen und ihn gleichzeitig mit all ihren Followern zu teilen. Facebook kopierte diese Innovation bald mit einem eigenen „Teilen“-Button, der 2012 für Smartphone-Nutzer verfügbar wurde. „Gefällt mir“- und „Teilen“-Buttons wurden schnell zu Standardfunktionen der meisten anderen Plattformen.
Kurz nachdem der „Gefällt mir“-Button begann, Daten darüber zu produzieren, was seine Nutzer am besten dazu bringt zu interagieren, entwickelte Facebook Algorithmen, um jedem Nutzer die Inhalte zu liefern, die am wahrscheinlichsten ein „Like“ oder eine andere Interaktion erzeugen, einschließlich des „Teilens“. Spätere Untersuchungen zeigten, dass Beiträge, die Emotionen auslösen – insbesondere Wut auf Fremdgruppen – am wahrscheinlichsten geteilt werden.
2013 waren die sozialen Medien zu einem neuen Spiel geworden, mit einer Dynamik, die sich von derjenigen des Jahres 2008 unterschied. Wenn man geschickt war oder Glück hatte, konnte man einen Beitrag verfassen, der „viral“ ging und einen für ein paar Tage „internetberühmt“ machte.
Wenn Sie aber einen Fehler machten, konnten Sie sich unter Hasskommentaren begraben sehen. Der Ruhm oder die Schmach Ihrer Beiträge hing von den Klicks Tausender Fremder ab, und Sie wiederum trugen Tausende von Klicks zu diesem Spiel bei.
Dieses neue Spiel förderte Unehrlichkeit und Mob-Dynamik: Die Nutzer ließen sich nicht nur von ihren wahren Vorlieben leiten, sondern auch von ihren früheren Erfahrungen mit Belohnung und Bestrafung sowie von ihrer Vorhersage, wie andere auf jede neue Aktion reagieren würden. Einer der Twitter-Ingenieure, der an der „Retweet“-Schaltfläche gearbeitet hatte, sagte später, dass er seinen Beitrag bedauerte, weil er Twitter zu einem noch unangenehmeren Ort gemacht hatte. Als er beobachtete, wie sich durch die Verwendung des neuen Tools Twitter-Mobs bildeten, dachte er bei sich: „Wir haben vielleicht gerade einem Vierjährigen eine geladene Waffe in die Hand gedrückt.“
Als Sozialpsychologe, der sich mit Emotionen, Moral und Politik beschäftigt, habe ich das auch gesehen. Die neu gestalteten Plattformen waren nahezu perfekt darauf ausgelegt, die moralischsten und unreflektiertesten Seiten zum Vorschein zu bringen. Das Ausmaß der Empörung war schockierend.
Es war genau diese Art von zuckendem und explosivem Wutausbruch, vor dem James Madison bei der Ausarbeitung der US-Verfassung zu schützen versucht hatte. Die Schöpfer der Verfassung waren hervorragende Sozialpsychologen. Sie wussten, dass die Demokratie eine Achillesferse hat, weil sie vom kollektiven Urteil des Volkes abhängt und demokratische Gemeinschaften „den Turbulenzen und der Schwäche unbändiger Leidenschaften“ ausgesetzt sind.
Der Schlüssel zu einer nachhaltigen Republik bestand daher darin, Mechanismen einzubauen, die die Dinge verlangsamen, die Leidenschaften abkühlen, Kompromisse erfordern und die Regierenden von der Manie des Augenblicks abschirmen, sie aber dennoch in regelmäßigen Abständen, am Wahltag, vor dem Volk zur Rechenschaft ziehen.
Die Tech-Unternehmen, die von 2009 bis 2012 die Viralität gesteigert haben, haben uns tief in Madisons Albtraum gebracht. Viele Autoren zitieren seine Bemerkungen in „Federalist No. 10“ über die angeborene menschliche Neigung zur „Fraktionierung“, womit er die Tendenz meinte, uns in Teams oder Parteien aufzuteilen, die so sehr von „gegenseitiger Feindseligkeit“ entflammt sind, dass sie „viel eher geneigt sind, sich gegenseitig zu ärgern und zu unterdrücken, als für ihr gemeinsames Wohl zusammenzuarbeiten.“
Der Aufsatz geht aber noch weiter zu einer weniger zitierten, aber ebenso wichtigen Erkenntnis über die Anfälligkeit der Demokratie für Trivialitäten. Madison stellt fest, dass die Menschen so anfällig für Fraktionszwang sind, dass dort,
wo sich kein wesentlicher Anlass bietet, die frivolsten und fantasievollsten Unterscheidungen ausreichen, um ihre unfreundlichen Leidenschaften zu entfachen und ihre heftigsten Konflikte zu entfachen.
Die sozialen Medien haben das Frivole sowohl vergrößert als auch zur Waffe gemacht. Ist unsere Demokratie jetzt gesünder, nachdem wir uns auf Twitter über das „Tax the Rich„-Kleid der Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez bei der jährlichen Met Gala und über Melania Trumps Kleid bei einer Veranstaltung zum Gedenken an den 11. September 2001 stritten, dessen Nähte irgendwie wie ein Wolkenkratzer aussahen? Wie wäre es mit dem Tweet von Senator Ted Cruz, in dem er Big Bird dafür kritisiert, dass er über seine COVID-Impfung getwittert hat?
Es geht nicht nur um die Verschwendung von Zeit und Aufmerksamkeit, sondern auch um den kontinuierlichen Abbau von Vertrauen. Eine Autokratie kann Propaganda betreiben oder Angst einsetzen, um die gewünschten Verhaltensweisen zu motivieren, aber eine Demokratie hängt von der weithin verinnerlichten Akzeptanz der Legitimität von Regeln, Normen und Institutionen ab. Blindes und unwiderrufliches Vertrauen in eine bestimmte Person oder Organisation ist niemals garantiert. Wenn die Bürger jedoch das Vertrauen in gewählte Führungspersönlichkeiten, Gesundheitsbehörden, Gerichte, die Polizei, Universitäten und die Integrität von Wahlen verlieren, dann wird jede Entscheidung angefochten; jede Wahl wird zu einem Kampf auf Leben und Tod, um das Land vor der anderen Seite zu retten. Das jüngste „Edelman Trust Barometer“ (ein internationales Maß für das Vertrauen der Bürger in Regierungen, Unternehmen, Medien und Nichtregierungsorganisationen) zeigt, dass stabile und kompetente Autokratien (China und die Vereinigten Arabischen Emirate) an der Spitze der Liste stehen, während umstrittene Demokratien wie die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Spanien und Südkorea am Ende der Liste zu finden sind (wenn auch vor Russland).
Jüngste akademische Studien legen nahe, dass die sozialen Medien tatsächlich das Vertrauen in Regierungen, Nachrichtenmedien sowie Menschen und Institutionen im Allgemeinen beeinträchtigen. Ein Arbeitspapier der Sozialwissenschaftler Philipp Lorenz-Spreen und Lisa Oswald, das den umfassendsten Überblick über die Forschung bietet, kommt zu dem Schluss, dass „die große Mehrheit der berichteten Zusammenhänge zwischen der Nutzung digitaler Medien und dem Vertrauen für die Demokratie schädlich zu sein scheint“. Die Literatur ist komplex – einige Studien zeigen Vorteile, insbesondere in weniger entwickelten Demokratien – aber die Untersuchung ergab, dass soziale Medien insgesamt die politische Polarisierung verstärken, Populismus, insbesondere Rechtspopulismus, schüren und mit der Verbreitung von Fehlinformationen in Verbindung gebracht werden.
Wenn die Menschen das Vertrauen in Institutionen verlieren, verlieren sie auch das Vertrauen in die Geschichten, die von diesen Institutionen erzählt werden. Das gilt besonders für die Institutionen, die mit der Erziehung von Kindern betraut sind. Geschichtslehrpläne haben schon oft politische Kontroversen ausgelöst, aber Facebook und Twitter machen es möglich, dass sich Eltern jeden Tag über einen neuen Ausschnitt aus dem Geschichtsunterricht ihrer Kinder empören – und auch über den Mathematikunterricht, die Literaturauswahl und jede neue pädagogische Veränderung irgendwo im Land. Die Motive von Lehrern und Verwaltungsangestellten werden in Frage gestellt, und manchmal folgen überzogene Gesetze oder Lehrplanreformen, die das Bildungswesen verdummen und das Vertrauen in es weiter schwinden lassen. Eine Folge davon ist, dass junge Menschen, die in der Zeit nach Babel erzogen wurden, seltener zu einer kohärenten Geschichte darüber gelangen, wer man als Volk ist, und dass sie eine solche Geschichte seltener mit denen teilen, die andere Schulen besucht haben oder in einem anderen Jahrzehnt erzogen wurden.
Der frühere CIA-Analyst Martin Gurri sagte in seinem 2014 erschienenen Buch The Revolt of the Public (Die Revolte der Öffentlichkeit) diese Zersetzungseffekte voraus. Gurris Analyse konzentrierte sich auf die die Autorität untergrabenden Auswirkungen des exponentiellen Wachstums von Informationen, das mit dem Internet in den 1990er Jahren begann. Als er [das Buch] vor fast einem Jahrzehnt schrieb, konnte Gurri bereits die Macht der sozialen Medien als universelles Lösungsmittel erkennen, das Bindungen aufbricht und Institutionen schwächt, wo immer es sie erreicht. Er stellte fest, dass verteilte Netzwerke „protestieren und umstürzen, aber niemals regieren können“. Er beschrieb den Nihilismus der vielen Protestbewegungen des Jahres 2011, die sich hauptsächlich online organisierten und die, wie Occupy Wall Street, die Zerstörung bestehender Institutionen forderten, ohne eine alternative Zukunftsvision oder eine Organisation anzubieten, die diese verwirklichen könnte.
Gurri ist kein Fan von Eliten oder zentralisierter Autorität, aber er stellt ein konstruktives Merkmal der vordigitalen Ära fest: ein einziges „Massenpublikum“, bei dem alle dieselben Inhalte konsumieren, als ob sie alle in denselben gigantischen Spiegel auf das Spiegelbild ihrer eigenen Gesellschaft blicken würden. In einem Kommentar bei Vox, der an die erste Diaspora nach Babel erinnert, sagte er:
Die digitale Revolution hat diesen Spiegel zerbrochen, und jetzt lebt die Öffentlichkeit in diesen Scherben. Die Öffentlichkeit ist also nicht einheitlich, sondern stark zersplittert und steht sich im Grunde genommen gegenseitig feindlich gegenüber. Die meisten Menschen schreien sich gegenseitig an und leben in Blasen der einen oder anderen Art.
Mark Zuckerberg mag sich das alles nicht gewünscht haben. Aber indem er in einem überstürzten Wachstumsrausch alles neu verdrahtete – mit einer naiven Vorstellung von menschlicher Psychologie, wenig Verständnis für die Komplexität von Institutionen und ohne Rücksicht auf die externen Kosten, die der Gesellschaft auferlegt wurden – haben Facebook, Twitter, YouTube und einige andere große Plattformen unwissentlich den Mörtel des Vertrauens, des Glaubens an Institutionen und gemeinsame Geschichten aufgelöst, der eine große und vielfältige säkulare Demokratie zusammengehalten hatte.
Ich denke, man kann den Fall des Turms auf die Jahre zwischen 2011 (Gurris Schwerpunktjahr der „nihilistischen“ Proteste) und 2015 datieren, ein Jahr, das durch das „große Erwachen“ auf der Linken und den Aufstieg von Donald Trump auf der Rechten gekennzeichnet war. Trump hat den Turm nicht zerstört, er hat lediglich seinen Sturz ausgenutzt. Er war der erste Politiker, der die neue Dynamik der Post-Babel-Ära beherrschte, in der die Empörung der Schlüssel zur Viralität ist, die Inszenierung die Kompetenz erdrückt, Twitter alle Zeitungen des Landes überwältigen kann und Geschichten nicht über mehr als ein paar benachbarte Fragmente hinweg geteilt werden können (oder zumindest vertrauenswürdig sind) – so dass die Wahrheit keine weitreichende Beachtung finden kann.
Die vielen Analysten, mich eingeschlossen, die der Meinung waren, dass Trump die Parlamentswahlen nicht gewinnen könne, stützten sich auf Intuitionen aus der Zeit vor Babel, die besagten, dass Skandale wie das Access Hollywood-Tape (in dem Trump damit prahlte, sexuelle Übergriffe begangen zu haben) für einen Präsidentschaftswahlkampf fatal sind. Aber nach Babel bedeutet nichts mehr wirklich etwas – zumindest nicht auf eine Weise, die dauerhaft ist und über die sich die Menschen weitgehend einig sind.
Politik nach Babel
„Politik ist die Kunst des Möglichen“, sagte der deutsche Staatsmann Otto von Bismarck 1867. In einer Demokratie nach Babel ist vielleicht nicht mehr viel möglich.
Der amerikanische Kulturkampf und der Niedergang der parteiübergreifenden Zusammenarbeit war natürlich schon vor der Einführung der sozialen Medien zu beobachten. Mitte des 20. Jahrhunderts war die Polarisierung im Kongress ungewöhnlich gering, und in den 1970er und 80er Jahren kehrte sie auf ein historisches Niveau zurück. Die ideologische Distanz zwischen den beiden Parteien begann in den 1990er Jahren schneller zu wachsen. Fox News und die „republikanische Revolution“ von 1994 verwandelten die GOP in eine kämpferischere Partei. So riet beispielsweise der Sprecher des Repräsentantenhauses, Newt Gingrich, neuen republikanischen Kongressmitgliedern davon ab, mit ihren Familien nach Washington, D.C., zu ziehen, wo sie wahrscheinlich soziale Bindungen mit Demokraten und deren Familien eingehen würden.
Die parteiübergreifenden Beziehungen waren also schon vor 2009 angespannt. Doch mit der zunehmenden Verbreitung sozialer Medien wurde es immer gefährlicher, sich mit dem Feind zu verbrüdern oder den Feind nicht energisch genug anzugreifen. Auf der rechten Seite wurde der Begriff RINO (Republican in Name Only) 2015 durch den verächtlicheren Begriff cuckservative ersetzt, der auf Twitter von Trump-Anhängern verbreitet wurde. Auf der linken Seite führten die sozialen Medien in den Jahren nach 2012 die „Callout-Kultur“ ein, die das Universitätsleben und später die Politik und Kultur in der gesamten englischsprachigen Welt verändert hat.
Was hat sich in den 2010er Jahren geändert? Man erinnere sich an die Metapher des Twitter-Ingenieurs, einem Vierjährigen eine geladene Pistole in die Hand zu drücken. Ein gemeiner Tweet tötet niemanden; er ist ein Versuch, jemanden öffentlich zu beschämen oder zu bestrafen und gleichzeitig die eigene Tugend, Brillanz oder Stammeszugehörigkeit zu zeigen. Es ist eher ein Dartpfeil als eine Kugel, der Schmerzen verursacht, aber nicht tödlich ist. Trotzdem verteilten Facebook und Twitter zwischen 2009 und 2012 weltweit etwa 1 Milliarde „Dartpistolen“. Seitdem schießt man sich gegenseitig ab.
Die sozialen Medien haben einigen Menschen eine Stimme gegeben, die zuvor kaum eine hatten, und sie haben es einfacher gemacht, mächtige Menschen für ihre Missetaten zur Verantwortung zu ziehen, nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft, in der Kunst, in der Wissenschaft und anderswo. Sexuelle Belästiger konnten vor Twitter in anonymen Blogbeiträgen angeprangert werden, aber es ist schwer vorstellbar, dass die #MeToo-Bewegung ohne die virale Verstärkung durch die großen Plattformen auch nur annähernd so erfolgreich gewesen wäre. Die verzerrte „Rechenschaftspflicht“ der sozialen Medien hat jedoch auch zu Ungerechtigkeit und politischer Dysfunktion geführt, und zwar in dreifacher Hinsicht.
Erstens verleihen die „Dartpistolen“ der sozialen Medien Trollen und Provokateuren mehr Macht, während gute Bürger zum Schweigen gebracht werden. Untersuchungen der Politikwissenschaftler Alexander Bor und Michael Bang Petersen haben ergeben, dass eine kleine Gruppe von Menschen auf Social-Media-Plattformen sehr darauf bedacht ist, Status zu erlangen, und bereit ist, dafür Aggressionen einzusetzen. Sie geben zu, dass sie in ihren Online-Diskussionen häufig fluchen, sich über ihre Gegner lustig machen und von anderen Nutzern blockiert oder wegen unangemessener Kommentare gemeldet werden. In acht Studien fanden Bor und Petersen heraus, dass das Internet die meisten Menschen nicht aggressiver oder feindseliger macht, sondern es vielmehr einer kleinen Anzahl aggressiver Menschen ermöglicht, eine viel größere Anzahl von Opfern anzugreifen. Bor und Petersen fanden heraus, dass selbst eine kleine Anzahl von Idioten in der Lage war, Diskussionsforen zu dominieren, weil Nicht-Idioten sich leicht von Online-Diskussionen über Politik abwenden. Weitere Untersuchungen haben ergeben, dass Frauen und Schwarze überproportional häufig belästigt werden, so dass ihre Stimmen in der digitalen Öffentlichkeit weniger gut zu hören sind.
Zweitens verleihen die Pfeilgeschosse der sozialen Medien den politischen Extremen mehr Macht und Stimme, während sie die Macht und Stimme der gemäßigten Mehrheit schwächen. Die Studie „Hidden Tribes“ der pro-demokratischen Gruppe More in Common befragte 2017 und 2018 8.000 Amerikaner und identifizierte sieben Gruppen, die gemeinsame Überzeugungen und Verhaltensweisen haben.
Die am weitesten rechts stehende Gruppe, die als „überzeugte Konservative“ bekannt ist, macht 6 Prozent der US-Bevölkerung aus. Die am weitesten links stehende Gruppe, die „progressiven Aktivisten“, machte 8 Prozent der Bevölkerung aus. Die progressiven Aktivisten waren bei weitem die produktivste Gruppe in den sozialen Medien: 70 Prozent hatten im vergangenen Jahr politische Inhalte geteilt. Es folgten die überzeugten Konservativen mit 56 Prozent.
Diese beiden extremen Gruppen sind sich auf überraschende Weise ähnlich. Sie sind die weißesten und reichsten der sieben Gruppen, was darauf hindeutet, dass Amerika von einem Kampf zwischen zwei Teilgruppen der Elite zerrissen wird, die nicht repräsentativ für die breitere Gesellschaft sind. Darüber hinaus sind das die beiden Gruppen, die die größte Homogenität in ihren moralischen und politischen Einstellungen aufweisen. Diese einheitliche Meinung, so vermuten die Autoren der Studie, ist wahrscheinlich ein Ergebnis der Gedankenpolizei in den sozialen Medien:
„Diejenigen, die ihre Sympathie für die Ansichten gegnerischer Gruppen zum Ausdruck bringen, müssen mit Gegenreaktionen aus ihrer eigenen Gruppe rechnen.“
Mit anderen Worten: Politische Extremisten schießen nicht nur Pfeile auf ihre Feinde, sondern sie verwenden einen Großteil ihrer Munition auch auf Andersdenkende oder differenzierte Denker in ihrem eigenen Team. Auf diese Weise bringen die sozialen Medien ein politisches System, das auf Kompromissen beruht, zum Stillstand.
Indem sie jedem einen Dartpfeil in die Hand geben, ernennen die sozialen Medien schließlich jeden zum Stellvertreter der Justiz, ohne dass es dafür ein ordentliches Verfahren gibt. Plattformen wie Twitter verwandeln sich in den Wilden Westen, in dem Selbstjustizler nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Ein erfolgreicher Angriff zieht eine Flut von Likes und Folgeschlägen nach sich. Plattformen mit erhöhter Viralität ermöglichen so eine massive kollektive Bestrafung für kleine oder eingebildete Vergehen, mit realen Konsequenzen, darunter unschuldige Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren und bis zum Selbstmord geschmäht werden. Wenn das öffentliche Leben von der Dynamik des Pöbels bestimmt wird, der nicht durch ein ordentliches Verfahren gezügelt wird, bekommen man keine Gerechtigkeit und Integration, sondern eine Gesellschaft, die Kontext, Verhältnismäßigkeit, Barmherzigkeit und Wahrheit ignoriert.
Strukturelle Dummheit
Seit dem Fall des Turms sind die Debatten aller Art immer verworrener geworden. Das allgegenwärtigste Hindernis für gutes Denken ist der „Confirmation Bias“ [Bestätigungsfehler], der sich auf die menschliche Tendenz bezieht, nur nach Beweisen zu suchen, die die bevorzugten Überzeugungen bestätigen. Schon vor dem Aufkommen der sozialen Medien verstärkten Suchmaschinen diese Tendenz, so dass es für die Menschen viel einfacher war, Beweise für absurde Überzeugungen und Verschwörungstheorien zu finden, z. B. dass die Erde flach sei und dass die US-Regierung die Anschläge vom 11. September inszeniert habe. Aber die sozialen Medien haben die Dinge noch viel schlimmer gemacht.
Das zuverlässigste Mittel gegen „Confirmation Bias“ ist die Interaktion mit Menschen, die die eigenen Überzeugungen nicht teilen. Sie konfrontieren uns mit Gegenbeweisen und Gegenargumenten. John Stuart Mill sagte: „Wer nur seine eigene Seite des Falles kennt, weiß wenig davon“, und er forderte dazu auf, widersprüchliche Ansichten „von Personen zu erfahren, die sie tatsächlich glauben“. Menschen, die anders denken und bereit sind, ihre Meinung zu äußern, wenn sie nicht zustimmen, machen schlauer, fast so, als wären sie eine Erweiterung des eigenen Gehirns. Menschen, die versuchen, ihre Kritiker zum Schweigen zu bringen oder einzuschüchtern, machen sich selbst dümmer, fast so, als ob sie Pfeile in ihr eigenes Gehirn schießen würden.
Im 20. Jahrhundert hat Amerika die fähigsten wissensproduzierenden Institutionen der Menschheitsgeschichte aufgebaut. Im letzten Jahrzehnt wurden sie massenhaft dümmer.
In seinem Buch The Constitution of Knowledge [Die Verfassung des Wissens] beschreibt Jonathan Rauch den historischen Durchbruch, bei dem westliche Gesellschaften ein „epistemisches Betriebssystem“ entwickelten – also eine Reihe von Institutionen, die Wissen aus den Interaktionen voreingenommener und kognitiv fehlerhafter Individuen erzeugen.
- Das englische Recht entwickelte das kontradiktorische System, so dass voreingenommene Anwälte beide Seiten eines Falles vor einer unparteiischen Jury darlegen konnten.
- Zeitungen voller Lügen entwickelten sich zu professionellen journalistischen Unternehmen mit Normen, die es erforderlich machten, mehrere Seiten einer Geschichte ausfindig zu machen, gefolgt von einer redaktionellen Prüfung und einer Überprüfung der Fakten.
- Universitäten entwickelten sich von abgeschotteten mittelalterlichen Einrichtungen zu Forschungszentren, die eine Struktur schufen, in der Gelehrte mit Beweisen untermauerte Behauptungen aufstellten, wohl wissend, dass andere Gelehrte auf der ganzen Welt motiviert sein würden, durch das Auffinden gegenteiliger Beweise an Ansehen zu gewinnen.
Ein Teil von Amerikas Größe im 20. Jahrhundert ist darauf zurückzuführen, dass es das fähigste, dynamischste und produktivste Netzwerk von wissensproduzierenden Institutionen in der gesamten Menschheitsgeschichte aufgebaut hat, das die besten Universitäten der Welt, Privatunternehmen, die wissenschaftliche Fortschritte in lebensverändernde Konsumgüter umwandelten, und Regierungsbehörden, die wissenschaftliche Forschung unterstützten und die Zusammenarbeit anführten, die Menschen auf den Mond brachte, miteinander verband.
Aber dieses Arrangement, so Rauch, „erhält sich nicht von selbst; es beruht auf einer Reihe von manchmal heiklen sozialen Einstellungen und Übereinkünften, und diese müssen verstanden, bestätigt und geschützt werden“. Was passiert also, wenn eine Institution nicht gut gewartet wird und interne Meinungsverschiedenheiten aufhören, entweder weil die Menschen ideologisch einheitlich geworden sind oder weil sie Angst haben, anderer Meinung zu sein?
Ich glaube, das ist es, was Mitte bis Ende der 2010er Jahre mit vielen der wichtigsten Institutionen Amerikas passiert ist. Sie wurden massenhaft dümmer, weil die sozialen Medien ihren Mitgliedern eine chronische Angst einflößten, [mit Dartpfeilen] abgeworfen zu werden. Am stärksten ausgeprägt war dieser Wandel an Universitäten, in wissenschaftlichen Vereinigungen, in der Kreativwirtschaft und in politischen Organisationen auf allen Ebenen (auf nationaler, bundesstaatlicher und lokaler Ebene), und er war so allgegenwärtig, dass er scheinbar über Nacht neue Verhaltensnormen etablierte, die durch neue Richtlinien unterstützt wurden.
Die neue Omnipräsenz sozialer Medien mit erhöhter Viralität bedeutete, dass ein einziges Wort eines Professors, einer Führungskraft oder eines Journalisten, selbst wenn es in positiver Absicht geäußert wurde, zu einem Feuersturm in den sozialen Medien führen konnte, der eine sofortige Entlassung oder eine langwierige Untersuchung durch die Institution zur Folge hatte. Die Teilnehmer an den wichtigsten Institutionen begannen, sich in einem ungesunden Ausmaß selbst zu zensieren, indem sie Kritik an politischen Maßnahmen und Ideen zurückhielten – sogar an solchen, die von ihren Studenten im Unterricht vorgetragen wurden – die sie für schlecht begründet oder falsch hielten.
Aber wenn eine Institution internen Dissens bestraft, schießt sie Pfeile in ihr eigenes Gehirn.
Die inhaltliche Kompromittierung spielt sich auf der Rechten und der Linken unterschiedlich ab, weil ihre aktivistischen Flügel unterschiedliche Narrative mit unterschiedlichen heiligen Werten vertreten. Aus der Studie „Hidden Tribes“ geht hervor, dass die „hingebungsvollen Konservativen“ die höchsten Werte im Zusammenhang mit autoritären Überzeugungen aufweisen. Sie teilen ein Narrativ, nach dem Amerika ständig von äußeren Feinden und inneren Umstürzlern bedroht ist; sie sehen das Leben als einen Kampf zwischen Patrioten und Verrätern. Laut der Politikwissenschaftlerin Karen Stenner, auf deren Arbeit die Studie „Hidden Tribes“ zurückgeht, unterscheiden sie sich psychologisch von der größeren Gruppe der „traditionellen Konservativen“ (19 Prozent der Bevölkerung), die eher Ordnung, Anstand und eher langsamen als radikalen Wandel betonen.
Nur innerhalb des Narrativs der engagierten Konservativen ergeben Donald Trumps Reden einen Sinn, von der ominösen Eröffnungsrede seiner Kampagne über mexikanische „Vergewaltiger“ bis zu seiner Warnung am 6. Januar 2021: „Wenn ihr nicht wie die Hölle kämpft, werdet ihr kein Land mehr haben.“
Die traditionelle Strafe für Hochverrat ist der Tod, daher der Schlachtruf am 6. Januar: „Hang Mike Pence“ [Hängt Mike Pence]. Die Todesdrohungen der Rechten, von denen viele von anonymen Absendern stammen, erweisen sich als wirkungsvoll, um die traditionellen Konservativen einzuschüchtern, zum Beispiel bei der Vertreibung lokaler Wahlbeamter, die es nicht geschafft haben, den Diebstahl zu stoppen („stop the steal!“). Die Welle von Drohungen gegen abweichende republikanische Kongressmitglieder hat viele der verbliebenen Gemäßigten dazu gebracht, zu kündigen oder zu schweigen, so dass wir eine Partei haben, die sich immer weiter von der konservativen Tradition, der verfassungsmäßigen Verantwortung und der Realität entfernt. Wir haben jetzt eine republikanische Partei, die einen gewaltsamen Angriff auf das U.S. Kapitol als „legitimen politischen Diskurs“ bezeichnet, unterstützt – oder zumindest nicht widersprochen – von einer Reihe rechter Denkfabriken und Medienorganisationen.
Die Dummheit der Rechten zeigt sich am deutlichsten in den vielen Verschwörungstheorien, die sich in den rechten Medien und jetzt auch im Kongress verbreiten. „Pizzagate“, QAnon, der Glaube, dass Impfstoffe Mikrochips enthalten, die Überzeugung, dass Donald Trump die Wiederwahl gewonnen hat – es ist schwer vorstellbar, dass eine dieser Ideen oder Glaubenssysteme ohne Facebook und Twitter ein solches Ausmaß erreicht hätte.
Auch die Demokraten sind von struktureller Dummheit stark betroffen, wenn auch auf andere Art und Weise. In der Demokratischen Partei ist der Kampf zwischen dem progressiven Flügel und den eher gemäßigten Fraktionen offen und andauernd, und oft gewinnen die Gemäßigten. Das Problem besteht darin, dass die Linke die Führungspositionen in der Kultur kontrolliert: Universitäten, Nachrichtenorganisationen, Hollywood, Kunstmuseen, Werbung, große Teile des Silicon Valley sowie die Lehrergewerkschaften und die pädagogischen Hochschulen, die die „K-12-Ausbildung“ prägen. Und in vielen dieser Institutionen wurden abweichende Meinungen im Keim erstickt: Als Anfang der 2010er Jahre jeder seine „Social Media-Dartpfeile“ erhielt, begannen viele linksgerichtete Institutionen, sich selber ins Gehirn zu schießen. Und unglücklicherweise waren das die Gehirne, die den größten Teil des Landes informieren, lehren und unterhalten.
Die Liberalen des späten 20. Jahrhunderts teilten eine Überzeugung, die der Soziologe Christian Smith als „liberale Fortschrittserzählung“ bezeichnete, nach der Amerika früher schrecklich ungerecht und repressiv war, aber dank der Kämpfe von Aktivisten und Helden, Fortschritte bei der Verwirklichung des edlen Versprechens seiner Gründung gemacht hat (und weiterhin macht). Diese Geschichte lässt sich leicht mit dem liberalen Patriotismus in Einklang bringen, und sie war das belebende Narrativ der Präsidentschaft von Barack Obama. Das ist ebenfalls die Betrachtung der „traditionellen Liberalen“ in der „Hidden Tribes“-Studie (11 Prozent der Bevölkerung), die starke humanitäre Werte haben, älter als der Durchschnitt sind und größtenteils die kulturellen und intellektuellen Institutionen Amerikas leiten.
Aber als die neuen viralen Social-Media-Plattformen jedem eine Dartpistole in die Hand gaben, waren es die jüngeren progressiven Aktivisten, die am meisten schossen, und sie zielten mit einer unverhältnismäßig großen Anzahl ihrer Pfeile auf diese älteren liberalen Führer. Verwirrt und ängstlich, stellten sich diese Führer kaum gegen die Aktivisten oder ihre nicht-liberale Erzählung, in der das Leben in jeder Institution ein ewiger Kampf zwischen Identitätsgruppen um einen Nullsummenkuchen ist, und die Leute an der Spitze es dorthin immer nur durch die Unterdrückung der Leute an der Basis geschafft haben. Diese neue Sichtweise ist streng egalitär – sie konzentriert sich auf die Gleichheit der Ergebnisse, nicht der Rechte oder Möglichkeiten. Sie kümmert sich nicht um die Rechte des Einzelnen.
Der universelle Vorwurf gegen Menschen, die mit diesem Narrativ nicht einverstanden sind, lautet nicht „Verräter“; sondern „Rassist“, „Transphobiker“, „Karen“ oder eine ähnliche Brandmarkung, die den Täter als jemanden kennzeichnet, der eine Randgruppe hasst oder ihr schadet. Die sich richtig anfühlende Strafe für solche Verbrechen ist nicht die Hinrichtung, sondern die öffentliche Schande und der soziale Tod.
Der Verblödungsprozess lässt sich am deutlichsten beobachten, wenn eine Person aus der Linken lediglich auf Forschungsergebnisse hinweist, die eine von progressiven Aktivisten bevorzugte Überzeugung in Frage stellt oder ihr widerspricht. Jemand auf Twitter wird einen Weg finden, den Andersdenkenden mit Rassismus in Verbindung zu bringen und andere werden sich darauf stürzen. In der ersten Woche der Proteste nach der Ermordung von George Floyd, bei denen es teilweise auch zu Gewalt kam, twitterte beispielsweise der progressive Politikanalyst David Shor, der damals bei „Civis Analytics“ beschäftigt war, einen Link zu einer Studie, aus der hervorging, dass gewalttätige Proteste in den 1960er Jahren zu Wahlverlusten für die Demokraten in den umliegenden Bezirken führten. Shor wollte eindeutig helfen, aber in der darauf folgenden Empörung wurde er der „Anti-Blackness“ beschuldigt und bald darauf entlassen. (Civis Analytics hat bestritten, dass der Tweet zu Shors Entlassung geführt hat.)
Der Fall Shor wurde berühmt, aber jeder, der auf Twitter unterwegs war, hatte bereits Dutzende von Beispielen gesehen, die die grundlegende Lektion lehrten: Hinterfrage nicht die Überzeugungen, die Politik oder die Aktionen deiner eigenen Seite. Und wenn traditionelle Liberale schweigen, wie es so viele im Sommer 2020 taten, übernimmt das radikalere Narrativ der progressiven Aktivisten die Führung in einer Organisation. Aus diesem Grund schienen in diesem und im nächsten Jahr so viele epistemische Institutionen in rascher Folge „woke“ zu werden, angefangen bei einer Welle von Kontroversen und Rücktritten bei der New York Times und anderen Zeitungen bis hin zu Erklärungen zur sozialen Gerechtigkeit von Ärztegruppen und medizinischen Verbänden (eine Veröffentlichung der American Medical Association und der Association of American Medical Colleges, riet Medizinern beispielsweise, Stadtteile und Gemeinden als „unterdrückt“ oder „systematisch enteignet“ zu bezeichnen, anstatt als „gefährdet“ oder „arm“) und die überstürzte Umgestaltung der Lehrpläne an den teuersten Privatschulen in New York City.
Tragischerweise ist die Verblödung in den COVID-Kriegen auf beiden Seiten zu beobachten. Die Rechte hat sich so sehr der Minimierung der COVID-Risiken verschrieben, dass sie die Krankheit zu einer Krankheit gemacht hat, die vorzugsweise Republikaner tötet. Die fortschrittliche Linke hat sich so sehr der Maximierung der Gefahren von COVID verschrieben, dass sie oft eine ebenso maximalistische, einheitliche Strategie für Impfstoffe, Masken und soziale Distanzierung verfolgt – selbst wenn es um Kinder geht. Solche Maßnahmen sind zwar nicht so tödlich wie die Verbreitung von Ängsten und Lügen über Impfstoffe, aber viele von ihnen haben verheerende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und die Bildung von Kindern, die unbedingt miteinander spielen und zur Schule gehen müssen; es gibt kaum eindeutige Beweise dafür, dass Schulschließungen und Masken für Kleinkinder die Todesfälle durch COVID verringern. Für die Geschichte, die ich hier erzähle, ist besonders bemerkenswert, dass progressive Eltern, die sich gegen Schulschließungen aussprachen, in den sozialen Medien häufig mit den allgegenwärtigen linken Vorwürfen des Rassismus und der weißen Vorherrschaft konfrontiert wurden. Andere in „blauen“ Städten haben gelernt, zu schweigen.
Die amerikanische Politik wird immer lächerlicher und dysfunktionaler, nicht weil die Amerikaner weniger intelligent werden. Das Problem ist strukturell bedingt. Dank der verbesserten Viralität der sozialen Medien wird Dissens in vielen unserer Institutionen bestraft, was bedeutet, dass schlechte Ideen in die offizielle Politik aufgenommen werden.
Es wird noch viel schlimmer werden
In einem Interview aus dem Jahr 2018 sagte Steve Bannon, der ehemalige Berater von Donald Trump, dass der richtige Weg, mit den Medien umzugehen, darin bestehe, „die Zone mit Scheiße zu überfluten„. Er beschrieb damit die Taktik des „Feuerwehrschlauchs der Unwahrheit„, wie sie von russischen Desinformationsprogrammen entwickelt wurde, um die Amerikaner zu verwirren, zu verunsichern und zu verärgern. Aber damals, im Jahr 2018, gab es eine Obergrenze für die Menge an verfügbarem Scheiß, denn alles musste von einem Menschen erstellt werden (abgesehen von einigen minderwertigen Sachen, die von Bots produziert wurden).
Nun aber steht die künstliche Intelligenz kurz davor, die grenzenlose Verbreitung höchst glaubwürdiger Desinformationen zu ermöglichen.
Das KI-Programm GPT-3 ist bereits so gut, dass man ihm ein Thema und einen Ton vorgeben kann, und es wird so viele Aufsätze ausspucken, wie man will, in der Regel mit perfekter Grammatik und einem überraschenden Maß an Kohärenz. In ein oder zwei Jahren, wenn das Programm zu GPT-4 aufgerüstet wurde, wird es noch viel leistungsfähiger sein. In einem Aufsatz aus dem Jahr 2020 mit dem Titel „The Supply of Disinformation Will Soon Be Infinite“ [Der Vorrat an Desinformation wird bald unendlich sein] erklärt Renée DiResta, die Forschungsleiterin des Stanford Internet Observatory, dass die Verbreitung von Unwahrheiten – sei es durch Text, Bilder oder gefälschte Videos – schnell unvorstellbar einfach werden wird (sie hat den Aufsatz zusammen mit GPT-3 verfasst).
Die Amerikaner werden nicht die einzigen sein, die KI und soziale Medien nutzen, um „Angriffsinhalte“ zu generieren; ihre Gegner werden es ebenfalls tun. In einem eindringlichen Essay aus dem Jahr 2018 mit dem Titel „The Digital Maginot Line“ beschrieb DiResta den Stand der Dinge unverblümt.
„Wir befinden uns in einem ausufernden, andauernden Konflikt: einem Informationsweltkrieg, in dem staatliche Akteure, Terroristen und ideologische Extremisten die soziale Infrastruktur, die dem täglichen Leben zugrunde liegt, nutzen, um Zwietracht zu säen und die gemeinsame Realität zu untergraben,“ schrieb sie.
Früher mussten die Sowjets Agenten schicken oder Amerikaner instrumentalisieren, die bereit waren, ihre Aufträge zu erfüllen. Aber die sozialen Medien machten es für die Russische Internet-Forschungsagentur billig und einfach, gefälschte Ereignisse zu erfinden oder reale Ereignisse zu verzerren, um die Wut sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite zu schüren, oft über Rassenfragen.
Spätere Nachforschungen ergaben, dass eine intensive Kampagne 2013 auf Twitter begann, sich aber bald auf Facebook, Instagram und YouTube und andere Plattformen ausbreitete. Eines der Hauptziele war es, die amerikanische Öffentlichkeit zu polarisieren und Misstrauen zu verbreiten – und sie genau an der Schwachstelle zu spalten, die Madison ausgemacht hatte.
Wenn wir nicht bald grundlegende Änderungen vornehmen, könnten unsere Institutionen, unser politisches System und unsere Gesellschaft zusammenbrechen.
Wir wissen jetzt, dass es nicht nur die Russen sind, die die amerikanische Demokratie angreifen. Vor den Protesten 2019 in Hongkong hatte sich China hauptsächlich auf inländische Plattformen wie WeChat konzentriert. Aber jetzt entdeckt China, wie viel es mit Twitter und Facebook für so wenig Geld in seinem eskalierenden Konflikt mit den USA tun kann. Angesichts der eigenen Fortschritte Chinas in der KI können wir erwarten, dass es in den nächsten Jahren immer geschickter darin wird, Amerika weiter zu spalten und China weiter zu vereinen.
Im 20. Jahrhundert war es die gemeinsame Identität Amerikas das Land zu sein, das den Kampf anführte, die Welt für Demokratie sicher zu machen, eine starke Kraft, die dazu beitrug, die Kultur und das Gemeinwesen zusammenzuhalten.
Im 21. Jahrhundert haben Amerikas Technologieunternehmen die Welt neu verdrahtet und Produkte geschaffen, die sich nun als schädlich für die Demokratie, als Hindernisse für die gemeinsame Verständigung und als Zerstörer des „modernen Turms“ erweisen.
Demokratie nach Babel
Wir können nie wieder in den Zustand des vor-digitalen Zeitalters zurückkehren. Die Normen, Institutionen und Formen der politischen Partizipation, die sich in der langen Ära der Massenkommunikation entwickelt haben, werden nicht mehr gut funktionieren, da die Technologie alles so viel schneller und multidirektionaler gemacht hat und es so einfach ist, die professionellen Gatekeeper zu umgehen. Und dennoch arbeitet die amerikanische Demokratie heute außerhalb der Grenzen der Nachhaltigkeit. Wenn wir nicht bald grundlegende Änderungen vornehmen, könnten unsere Institutionen, unser politisches System und unsere Gesellschaft beim nächsten großen Krieg, einer Pandemie, einem finanziellen Zusammenbruch oder einer Verfassungskrise zusammenbrechen.
Welche Änderungen sind erforderlich? Die Neugestaltung der Demokratie für das digitale Zeitalter übersteigt bei weitem meine Fähigkeiten, aber ich kann drei Kategorien von Reformen vorschlagen – drei Ziele, die erreicht werden müssen, wenn die Demokratie in der Zeit nach Babel lebensfähig bleiben soll.
- Wir müssen die demokratischen Institutionen stärken, damit sie chronischem Ärger und Misstrauen standhalten können,
- die sozialen Medien reformieren, damit sie weniger sozial korrosiv wirken, und
- die nächste Generation besser auf die Rolle des demokratischen Bürgers in diesem neuen Zeitalter vorbereiten.
Demokratische Institutionen festigen
Die politische Polarisierung wird in absehbarer Zukunft wahrscheinlich zunehmen. Daher müssen wir, was auch immer wir sonst tun, die wichtigsten Institutionen so reformieren, dass sie auch dann noch funktionieren können, wenn das Ausmaß an Wut, Fehlinformationen und Gewalt weit über das heutige Maß hinausgeht.
Die Legislative etwa wurde so gestaltet, dass sie Kompromisse voraussetzte, der Kongress, die sozialen Medien und die parteiischen Kabelnachrichtenkanäle haben sich jedoch so entwickelt, dass jeder Abgeordnete, der einen Kompromiss eingeht, innerhalb weniger Stunden mit der Empörung des extremen Flügels seiner Partei konfrontiert wird, was seine Aussichten auf Spendengelder schmälert und sein Risiko erhöht, bei der nächsten Wahl in die Vorwahlen zu müssen.
Reformen sollten den übergroßen Einfluss wütender Extremisten verringern und dafür sorgen, dass die Abgeordneten stärker auf den durchschnittlichen Wähler in ihrem Bezirk eingehen. Ein Beispiel für eine solche Reform ist die Abschaffung geschlossener Vorwahlen und ihre Ersetzung durch eine einzige, überparteiliche, offene Vorwahl, aus der die besten Kandidaten in die allgemeinen Wahlen einziehen, bei denen ebenfalls nach Rangfolge gewählt wird. Eine Version dieses Wahlsystems wurde bereits in Alaska eingeführt, und es scheint Senatorin Lisa Murkowski mehr Spielraum gegeben zu haben, um sich dem ehemaligen Präsidenten Trump entgegenzustellen, dessen favorisierter Kandidat in einer geschlossenen republikanischen Vorwahl eine Bedrohung für Murkowski darstellen würde, in einer offenen aber nicht.
Eine zweite Möglichkeit, die demokratischen Institutionen zu stärken, besteht darin, die Macht der politischen Parteien zu beschneiden, das System zu ihren Gunsten zu beeinflussen, indem sie beispielsweise die Wahlbezirke festlegen oder die Beamten auswählen, die die Wahlen überwachen. All diese Aufgaben sollten überparteilich erledigt werden. Untersuchungen zur Verfahrensgerechtigkeit zeigen, dass Menschen, die ein Verfahren als fair empfinden, eher bereit sind, eine Entscheidung zu akzeptieren, die ihren Interessen zuwiderläuft. Denken Sie nur an den Schaden, den die republikanische Führung des Senats bereits der Legitimität des Obersten Gerichtshofs zugefügt hat, als sie die Prüfung von Merrick Garland für einen neun Monate vor der Wahl 2016 frei gewordenen Sitz blockierte und dann die Ernennung von Amy Coney Barrett im Jahr 2020 im Eiltempo durchsetzte. Eine weithin diskutierte Reform würde diese politischen Spielchen beenden, indem die Amtszeiten der Richter auf 18 Jahre gestaffelt werden, so dass jeder Präsident alle zwei Jahre eine Ernennung vornimmt.
Soziale Medien reformieren
Eine Demokratie kann nicht überleben, wenn ihre öffentlichen Plätze Orte sind, an denen die Menschen Angst haben, ihre Meinung zu sagen, und an denen kein stabiler Konsens erzielt werden kann. Die Ermächtigung der extremen Linken, der extremen Rechten, inländischer Trolle und ausländischer Agenten durch die sozialen Medien führt zu einem System, das weniger nach Demokratie als vielmehr nach der Herrschaft der Aggressivsten aussieht.
Aber es liegt in unserer Macht, die Fähigkeit der sozialen Medien zu verringern, Vertrauen zu zerstören und strukturelle Dummheit zu schüren. Reformen sollten die Verstärkung der aggressiven Ränder durch die Plattformen einschränken und gleichzeitig dem, was More in Common „die erschöpfte Mehrheit“ nennt, mehr Gehör verschaffen.
Diejenigen, die sich gegen eine Regulierung der sozialen Medien aussprechen, konzentrieren sich in der Regel auf die berechtigte Sorge, dass staatlich verordnete Inhaltsbeschränkungen in der Praxis zu einer Zensur führen. Das Hauptproblem bei den sozialen Medien ist jedoch nicht, dass manche Leute gefälschte oder toxische Inhalte posten, sondern dass gefälschte und empörende Inhalte heute eine Reichweite und einen Einfluss erlangen können, die vor 2009 nicht möglich waren.
Die Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen plädiert für einfache Änderungen an der Architektur der Plattformen und nicht für massive und letztlich vergebliche Bemühungen, alle Inhalte zu kontrollieren.
Sie hat zum Beispiel vorgeschlagen, die „Teilen“-Funktion auf Facebook so zu ändern, dass die dritte Person in der Kette, nachdem ein Inhalt zweimal geteilt wurde, sich die Zeit nehmen muss, den Inhalt zu kopieren und in einen neuen Beitrag einzufügen.
Reformen wie diese sind keine Zensur; sie sind blickwinkel- und inhaltsneutral und funktionieren in allen Sprachen gleich gut. Sie halten niemanden davon ab, etwas zu sagen; sie verlangsamen nur die Verbreitung von Inhalten, die im Durchschnitt weniger wahrscheinlich wahr sind.
Die vielleicht größte Veränderung, die die Toxizität bestehender Plattformen verringern würde, wäre die Überprüfung durch die Nutzer als Voraussetzung für die algorithmische Verstärkung, die soziale Medien bieten.
Banken und andere Wirtschaftszweige haben „Know your customer“-Regeln, damit sie keine Geschäfte mit anonymen Kunden machen können, die Geld von kriminellen Unternehmen waschen. Große Social-Media-Plattformen sollten dazu verpflichtet werden, dasselbe zu tun. Das bedeutet nicht, dass die Nutzer unter ihrem echten Namen posten müssten; sie könnten immer noch ein Pseudonym verwenden. Es bedeutet nur, dass eine Plattform, bevor sie Worte an Millionen von Menschen weitergibt, verpflichtet ist, zu überprüfen (vielleicht durch eine dritte Partei oder eine gemeinnützige Organisation), ob man ein echter Mensch in einem bestimmten Land und alt genug ist, um die Plattform zu nutzen. Diese eine Änderung würde die meisten der Hunderten von Millionen von Bots und gefälschten Konten auslöschen, die derzeit die großen Plattformen verunreinigen. Sie würde wahrscheinlich auch die Häufigkeit von Todesdrohungen, Vergewaltigungsdrohungen, rassistischen Abscheulichkeiten und Trolling im Allgemeinen verringern. Untersuchungen zeigen, dass antisoziales Verhalten im Internet häufiger vorkommt, wenn Menschen das Gefühl haben, dass ihre Identität unbekannt und nicht verfolgbar ist.
Auf jeden Fall gibt es immer mehr Beweise dafür, dass die sozialen Medien der Demokratie schaden, so dass eine stärkere Aufsicht durch eine Regulierungsbehörde, wie die Federal Communications Commission oder die Federal Trade Commission, gerechtfertigt ist. Eine der ersten Aufgaben sollte darin bestehen, die Plattformen zu zwingen, ihre Daten und Algorithmen mit akademischen Forschern zu teilen.
Die nächste Generation vorbereiten
Die Mitglieder der Generation Z – die 1997 und später Geborenen – tragen keine Schuld an dem Schlamassel, in dem wir stecken, aber sie werden ihn erben, und die ersten Anzeichen deuten darauf hin, dass die älteren Generationen sie daran gehindert haben zu lernen, wie man damit umgeht.
Die Kindheit ist in den letzten Generationen stärker eingegrenzt worden – es gibt weniger Möglichkeiten für freies, unstrukturiertes Spiel, weniger unbeaufsichtigte Zeit im Freien und mehr Zeit im Internet.
Was auch immer die Auswirkungen dieser Veränderungen sind, sie haben wahrscheinlich die Entwicklung von Fähigkeiten behindert, die viele junge Erwachsene für eine effektive Selbstverwaltung benötigen.
Unbeaufsichtigtes freies Spiel ist die Art und Weise, wie die Natur jungen Säugetieren die Fähigkeiten beibringt, die sie als Erwachsene brauchen werden.
In einem brillanten Aufsatz des Wirtschaftswissenschaftlers Steven Horwitz aus dem Jahr 2015 wird argumentiert, dass das freie Spiel Kinder auf die „Kunst der Assoziation“ vorbereitet, von der Alexis de Tocqueville sagte, sie sei der Schlüssel zur Lebendigkeit der amerikanischen Demokratie; er argumentiert auch, dass ihr Verlust „eine ernsthafte Bedrohung für liberale Gesellschaften“ darstelle. Eine Generation, die daran gehindert werde, diese sozialen Fähigkeiten zu erlernen, warnte Horwitz, würde sich gewohnheitsmäßig an Autoritäten wenden, um Streitigkeiten zu lösen, und würde unter einer „Verrohung der sozialen Interaktion“ leiden, die „eine Welt mit mehr Konflikten und Gewalt schaffen würde“.
Und während die sozialen Medien die Kunst des Miteinanders in der gesamten Gesellschaft ausgehöhlt haben, hinterlassen sie bei Jugendlichen möglicherweise die tiefsten und dauerhaftesten Spuren. Anfang der 2010er-Jahre kam es zu einem plötzlichen Anstieg von Angstzuständen, Depressionen und Selbstverletzungen unter amerikanischen Jugendlichen. (Das selbe geschah zur gleichen Zeit mit kanadischen und britischen Jugendlichen.) Die Ursache ist nicht bekannt, aber der Zeitpunkt deutet darauf hin, dass die sozialen Medien einen wesentlichen Beitrag dazu leisten – der Anstieg begann genau zu dem Zeitpunkt, als die große Mehrheit der amerikanischen Teenager zu täglichen Nutzern der großen Plattformen wurde. Korrelations- und experimentelle Studien belegen den Zusammenhang mit Depressionen und Angstzuständen, ebenso wie Berichte von jungen Menschen selbst und eigene Untersuchungen von Facebook, wie das Wall Street Journal berichtet.
Bei Depressionen ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass man sich auf neue Menschen, Ideen und Erfahrungen einlässt. Ängste lassen neue Dinge bedrohlicher erscheinen. In dem Maße, in dem diese Bedingungen zugenommen haben und die Lektionen über differenziertes soziales Verhalten, die durch freies Spiel erlernt wurden, verzögert wurden, haben die Toleranz für unterschiedliche Standpunkte und die Fähigkeit, Streitigkeiten zu lösen, bei vielen jungen Menschen abgenommen.
So haben beispielsweise Universitätsgemeinschaften, die noch 2010 eine Bandbreite von Rednern tolerieren konnten, diese Fähigkeit in den Folgejahren verloren, als die Generation Z auf dem Campus ankam. Die Versuche, Gastredner auszuladen, nahmen zu. Die Studierenden sagten nicht nur, dass sie mit Gastrednern nicht einverstanden seien, sondern einige sagten auch, dass diese Vorträge gefährlich, emotional verheerend und eine Form der Gewalt seien. Da die Zahl der Depressionen und Ängste bei Jugendlichen bis in die 2020er Jahre weiter gestiegen ist, sollten wir davon ausgehen, dass sich diese Ansichten in den nachfolgenden Generationen fortsetzen und sogar noch verschärfen werden.
Die wichtigste Änderung, die wir vornehmen können, um die schädlichen Auswirkungen sozialer Medien auf Kinder zu verringern, ist der Aufschub des Zugangs, bis sie die Pubertät durchlaufen haben.
Der Kongress sollte das Gesetz zum Schutz der Privatsphäre von Kindern im Internet (Children’s Online Privacy Protection Act) aktualisieren, das 1998 unklugerweise das Alter für das so genannte Internet-Adoleszenzalter [das Alter, ab dem Unternehmen persönliche Daten von Kindern ohne elterliche Zustimmung sammeln dürfen] auf 13 Jahre festlegte, ohne jedoch wirksame Durchsetzungsmaßnahmen vorzusehen. Dieses Alter sollte auf mindestens 16 Jahre angehoben werden und die Unternehmen sollten für die Durchsetzung dieses Alters verantwortlich gemacht werden.
Generell ist es vielleicht das wichtigste, dass wir die Kinder zum Spielen rauslassen, um die nächste Generation auf die Demokratie nach Babel vorzubereiten.
Hören Sie auf, Kindern die Erfahrungen vorzuenthalten, die sie am meisten brauchen, um gute Bürger zu werden: freies Spiel in altersgemischten Kindergruppen mit minimaler Aufsicht durch Erwachsene.
Comment: dazu lese man das November 2021 erschienene Buch „Generation lebensunfähig: Wie unsere Kinder um ihre Zukunft gebracht werden“ vom Psychologen Rüdiger Maas. Der Titel verrät alles.
Jeder Bundesstaat sollte dem Beispiel von Utah, Oklahoma und Texas folgen und eine Version des Free-Range-Parenting-Gesetzes verabschieden, das Eltern die Gewissheit gibt, dass gegen sie nicht wegen Vernachlässigung ermittelt wird, wenn ihre 8- oder 9-jährigen Kinder beim Spielen im Park beobachtet werden. Wenn solche Gesetze in Kraft sind, sollten Schulen, Pädagogen und Gesundheitsbehörden die Eltern dazu ermutigen, ihre Kinder zu Fuß zur Schule gehen und in Gruppen draußen spielen zu lassen, so wie es früher mehr Kinder getan haben.
Hoffnung nach Babel
Die Geschichte, die ich erzählt habe, ist düster, und es gibt kaum Anzeichen dafür, dass Amerika in den nächsten fünf oder zehn Jahren zu einem gewissen Grad an Normalität und Stabilität zurückkehren wird. Welche Seite wird sich versöhnlich zeigen? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Kongress wichtige Reformen zur Stärkung der demokratischen Institutionen oder zur Entgiftung der sozialen Medien beschließen wird?
Doch wenn wir den Blick von der dysfunktionalen Bundesregierung abwenden, uns von den sozialen Medien abkoppeln und direkt mit unseren Nachbarn sprechen, sieht die Lage hoffnungsvoller aus. Die meisten Amerikaner in dem Bericht More in Common gehören zur „erschöpften Mehrheit“, die der Streitereien überdrüssig ist und bereit ist, der anderen Seite zuzuhören und Kompromisse einzugehen. Die meisten Amerikaner erkennen jetzt, dass die sozialen Medien negative Auswirkungen auf das Land haben, und werden sich ihrer schädlichen Auswirkungen auf Kinder immer bewusster.
Werden wir etwas dagegen tun?
Als Tocqueville in den 1830er Jahren die Vereinigten Staaten bereiste, war er beeindruckt von der Gewohnheit der Amerikaner, freiwillige Vereinigungen zu bilden, um lokale Probleme zu lösen, anstatt auf das Handeln von Königen oder Adligen zu warten, wie es die Europäer tun würden. Diese Gewohnheit hat sich bis heute gehalten. In den letzten Jahren haben die Amerikaner Hunderte von Gruppen und Organisationen gegründet, die sich dem Aufbau von Vertrauen und Freundschaft über die politische Kluft hinweg verschrieben haben, darunter BridgeUSA, Braver Angels (in dessen Vorstand ich mitarbeite) und viele andere, die unter BridgeAlliance.us aufgelistet sind. Wir können nicht erwarten, dass der Kongress und die Technologieunternehmen uns retten. Wir müssen uns selbst und unsere Gemeinschaften ändern.
Wie würde es sein, in den Tagen nach der Zerstörung von Babel zu leben? Wir wissen es. Es ist eine Zeit der Verwirrung und des Verlusts. Aber es ist auch eine Zeit zum Nachdenken, zum Zuhören und zum Aufbauen.
BILDUNG
INTERVIEW: «Die Bevölkerung ist nicht mehr in der Lage, die Wirtschaft eigenständig zu beurteilen», sagt einer der erfahrensten Bankchefs der Schweiz
Blaise Goetschin ist als Chef der Genfer Kantonalbank nach über 20 Jahren zurückgetreten. Im Interview blickt er auf das Ende der CS und kritisiert die fehlende Wirtschaftsbildung in der Schweiz. Diese sei der Grund für die Entfremdung zwischen Gesellschaft und Wirtschaft. …
Wenn es [der Mangel an Wirtschaftsverständis]nicht an den Banken liegt, warum haben sich Wirtschaft und Politik auseinanderbewegt?
Ich denke, dass das Verständnis der Wirtschaft abgenommen hat.
Warum?
Einerseits ist die Wirtschaft komplizierter geworden. Wenn Sie eine Umfrage zu den abgeschriebenen AT1-Anleihen der CS machen – wer kann Ihnen schon sagen, was das genau für Instrumente sind? Oder warum die Schweizerische Nationalbank damals Negativzinsen eingeführt hat? Andererseits wurde der Wirtschaftsunterricht an den Schulen reduziert, und die Medien berichten weniger über die Konzepte wie die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung.
Früher war zudem ein Grossteil der Bevölkerung in der Landwirtschaft und im Kleingewerbe tätig. Sie war dank ihrem Alltag mit der Erfolgsrechnung vertraut: Sie wusste aus eigener Erfahrung, dass die Einnahmen die Ausgaben übersteigen müssen. Heute verstehen viele diese grundlegenden Konzepte nicht mehr; es fällt ihnen schwer, den eigenen Pensionskassenausweis zu lesen. Dadurch wird eine unfreiwillige Elite von Personen geschaffen, welche die Zusammenhänge versteht, während die Bevölkerung nicht mehr in der Lage ist, die Wirtschaft eigenständig zu beurteilen.
Wie liesse sich ein neues Gleichgewicht etablieren?
Das liegt in der Verantwortung der Politik, der Schulen und Universitäten. Die Wirtschaft kann der Bevölkerung diese Zusammenhänge nicht selbst erklären, denn sie würde eine verzerrte Botschaft aussenden. Die Verbände und Lobbys versuchen, die Zusammenhänge zu erklären, aber sie sind nicht sehr gut darin. …
RECHT
Historisches Urteil: Klimaschutz ist ein Menschenrecht
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkennt erstmals eine direkte Pflicht der Staaten, ihre Bürger besser als bisher vor der Erderwärmung zu schützen. Ist das Urteil ein Wendepunkt in der Klimapolitik?
Wien/Straßburg. Die Schweizer Klimaseniorinnen haben es geschafft: Zum ersten Mal hat ein europäisches Höchstgericht einer Klimaklage stattgegeben und so den Staaten direkt die Pflicht auferlegt, ihre Bürgerinnen und Bürger besser als bisher vor den Folgen der Erderhitzung zu schützen. Die Schweiz habe „nicht zeitgerecht und angemessen“ auf den Klimawandel reagiert und durch das Verfehlen von Zielen zur Emissionsreduktion „einige Menschenrechte“ der Klägerinnen verletzt, schreibt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seiner Urteilsverkündung. Zwei weitere, ähnlich gelagerte Fälle wies der EGMR zurück.
Befürworter feierten das Urteil schon vor dessen Verkündung als „historische“ Wende im Kampf gegen den Klimawandel. Endlich könnten Regierungen zu einer ehrgeizigeren Klimapolitik gezwungen werden. Aber wie weitreichend sind die Folgen tatsächlich?
Österreichs Richter schauen genau hin
Der EGMR urteilte am Dienstag über drei Klagen, die unterschiedlichen europäischen Staaten Versagen im Kampf gegen die Erderwärmung vorgeworfen hatten: Letztlich erfolgreich war eine Gruppe an 2000 Schweizer Pensionistinnen. Sie argumentierten, dass ihre Gesundheit aufgrund ihres Alters und Geschlechts durch extremere Hitzewellen stark gefährdet sei und die Schweiz es verabsäumt habe, sie davor zu beschützen. In Frankreich klagte ein ehemaliger Bürgermeister, der sein Recht auf Privat- und Familienleben (Artikel 8) durch den steigenden Meeresspiegel bedroht sah. Und im dritten Fall waren sechs Kinder und Jugendliche aus Portugal gegen 33 Staaten, inklusive Österreich, vor Gericht gezogen. Hitzewellen und Waldbrände würden ihr Leben, ihr Wohlbefinden und ihre psychische Gesundheit beeinträchtigen (Artikel 2). Die beiden letztgenannten Klagen wies der EGMR zurück, da der nationale Instanzenzug nicht voll ausgeschöpft wurde bzw. im Fall des Bürgermeisters die persönliche Betroffenheit nicht als gegeben ansah.
Die Klimaseniorinnen erhielten hingegen einen positiven Richterspruch. Zwar wurden auch hier die persönlichen Klagen von vier Pensionistinnen abgewiesen, da das Gericht nicht genug Beleg fand, dass ihr persönliches Wohlbefinden unter der mangelhaften Klimapolitik der Schweiz leide. Der mitklagende Verein KlimaSeniorinnen Schweiz jedoch wurde als legitimer Kläger angesehen und seinen Forderungen nach mehr Klimaschutz stattgegeben.
„Damit hat der EGMR Neuland geschaffen“, sagt Daniel Ennöckl, Leiter des Instituts für Rechtswissenschaften der Universität für Bodenkultur Wien (Boku). Bisher seien viele Klimaklagen gescheitert, weil die Kläger nachweisen mussten, dass sie persönlich und überdurchschnittlich von den Folgen der schlechten Klimapolitik bestimmter Staaten betroffen waren. Das haben etwa die Schweizer Pensionistinnen auch vor dem EGMR nicht geschafft. Der Verband hingegen durfte aufgrund der Besonderheiten des Klimawandels als Kläger auftreten.
Das könnte auch Auswirkungen auf die Rechtsprechung in Österreich haben, meinen Juristen. Bisher war hierzulande der Weg für Klimaklagen ein steiniger, da es „keinen Rechtsschutz bezüglich gesetzgeberischer Untätigkeit“ gibt, so Ennöckl. Direkte Auswirkungen etwa auf die Urteile des Verfassungsgerichtshofs sind zwar nicht zu erwarten. Doch sollte sich ein Verein entschließen, Österreich vor dem EGMR zu verklagen, stehen die Chancen auf Erfolg nicht schlecht. Und dann müsste auch Österreich aktiv werden und etwa nach vier Jahren ohne Klimaschutzgesetz ein entsprechendes Gesetz vorlegen.
„Herstellung von Öffentlichkeit“
Wieviel das Urteil letztlich wert sein wird, bleibt abzuwarten. Denn schon bisher hatten einige Klimaklagen zwar vor Gericht Erfolg, brachten in der Realität aber nur wenig Veränderung. Dennoch sei die Strahlkraft des Urteils nicht zu vernachlässigen, sagen Juristen. Der Druck auf Unternehmen und Politik steige mit jeder Klimaklage – ganz egal, wie sie letztlich ausgehe. „Es geht hier eigentlich gar nicht primär um den Sieg im Gerichtssaal“, sagte Burkhard Hess, Professor für Zivilverfahrensrecht an der Universität Wien. „Hier geht es um die Herstellung von Öffentlichkeit“.
GESELLSCHAFT
Extreme Jugendgewalt schockiert Frankreich
Spitalreif geschlagen, weil freizügig angezogen. Umgebracht, weil früh verliebt: Zwei Fälle extremer Jugendgewalt schockieren Frankreich. Ein Bericht aus Paris
Vier Jugendliche im Alter von 15 bis 20 Jahren sind am Montag wegen Mordes einem Pariser Richter vorgeführt worden. Vermummt und mit Handschuhen versehen, hatten sie in der Pariser Vorstadt Viry-Châtillon nach Schulschluss einen Schüler namens Shemseddine abgepasst. In einem Stiegenhaus schlugen sie ihn so brutal zusammen, dass er kurz darauf verstarb.
Shemseddines „Verbrechen“: Der 15-Jährige soll mit der Schwester einiger der teilweise vorbestraften Schläger Kontakt gepflegt haben. Offenbar sprach das junge Pärchen – so es denn eines war – am Smartphone auch über Sexualität. Als die Brüder dies entdeckten, verlangten sie von allen männlichen Telefonkontakten, ihre Schwester in Ruhe zu lassen. „Shem“, wie der friedliche, im Viertel allseits geschätzte Schüler genannt wurde, hielt sich aber nicht daran.
Dafür bezahlte er nun mit dem Leben. Die Pariser Medien sprechen von einem „crime d’honneur“, einem Ehrenverbrechen. Der Staatsanwalt nannte als Tatmotiv „Angst um die Reputation der Familie“.
„Gesetz der Taliban“
Bestürzung und höchste Entrüstung kennzeichnen die landesweiten Reaktionen. Regierungssprecherin Prisca Thevenot geißelte ein „barbarisches Verbrechen“. Am weitesten ging der Rechtsaußen Eric Zemmour, der von einem islamisch-arabischen Ehrenkodex spricht und behauptet, in den französischen Banlieue-Vierteln herrsche heute das „Gesetz der Taliban“.
Vergangene Woche hatte es an einer Vorstadtschule in Montpellier (Südfrankreich) bereits einen ähnlich schweren Vorfall gegeben. Samara, ein 13-jähriges Mädchen, wurde von einer Gruppe Gleichaltriger an der Schule so brutal verprügelt, dass es ins Koma fiel. Die kaum älteren Täterinnen wurden von einer Mittelschülerin angeführt, die sich islamisch mit Kopftuch und Abaya kleidet. Sie soll das Opfer auf den sozialen Medien seit langem wegen allzu freizügiger Bekleidung verfolgt sowie als „Hure“ und, was noch schlimmer sein soll, „Kouffar“ („Ungläubige“) beschimpft haben.
Samaras Mutter zeigte sich über die Tat, wie man sich vorstellen kann, schwer geschockt. Später verlas sie allerdings im Fernsehen eine schriftliche Erklärung, wonach ihre Tochter den aktuellen Ramadan befolge und fünfmal am Tag bete. Damit erreichte die Mutter aber nur, dass viele Stimmen hinter ihr den Einfluss islamischer Kreise ausmachen. Die frühere Schulleiterin und Beamtin Fatiha Boudjahlat glaubt, Samaras Mutter sei „umgedreht“ worden: „Die islamische Patrouille hat sie gepackt.“ Samara werde sich, wenn sie ihre schweren Verletzungen überlebe, zweifellos nicht mehr „europäisch“ kleiden.
Boudjahlat verlangt als radikale Lösung – gegen den offiziellen Diskurs –, die Mittelschulen aus den Einwanderervierteln zu entfernen. Ein Mädchen könne dem Druck der Islamisten oder ihrer Brüder nur entkommen, wenn es außerhalb des Viertels zum Unterricht gehe – also dort, wo der lange Arm der Radikalen nicht hinreiche. Ähnlich äußerte sich am Montag auch Mila, eine heute 20-jährige Französin, von der nur der Vorname bekannt ist, weil sie seit kritischen Islam-Aussagen unter Polizeischutz steht. Sie erklärte am Montag: „An den französischen Schulen gibt es heute eine Art Sittenpolizei – die von den Schülern selber ausgeübt wird. Die tragen selbst trotz des gesetzlichen Verbotes den Hijab und verlangen von Muslimas ein ’sittsames‘ Auftreten.“
Keine „vorschnellen Schlüsse“
Viel diskutiert wird in Frankreich eine sichtbare Polizeipräsenz an den Schulen. Präsident Emmanuel Macron warnte in einer spontanen Wortmeldung indessen vor „vorschnellen Schlüssen“. Das Phänomen der Jugendgewalt gehe viel weiter. In diesem Sinn äußert sich auch Innenminister Gérald Darmanin, der seit längerem vor der „Verwilderung“ („ensauvagement“) der ganzen Gesellschaft warnt.
Die Medien sind täglich voll von den 20.000 Fällen physischer Gewalt, welche die französische Kriminalstatistik jährlich anführt. Die Täter werden immer jünger. Der Bürgermeister von Viry-Châtillon, Jean-Marie Vilain, berichtete am Montag in einer TV-Sendung vom schwer vorstellbaren Jugendelend, das in seiner landesweit berüchtigten Banlieue-Siedlung Grande Borne herrsche. Viele Minderjährige gingen gar nicht mehr zur Schule; ohne Bildung, ohne Mittel, ohne jeden Halt bekämen sie oft schon mit 15 ihr erstes Kind. „Und wenn nichts mehr da ist, geben sie dem Säugling Coca-Cola in der Babyflasche“, erzählte der Zentrumspolitiker. (Stefan Brändle aus Paris, 8.4.2024)
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