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FAZIT DES TAGES
COMMENT – FAZIT:
- Gaza-Krieg: Gerangel um Verhandlungen, Entrüstung Israels über UNO
- Ukraine-Krieg: Ukraine in der Defensive wegen Waffen- und Munitionsmangels
- Klimawandel als künftiger Inflationstreiber
- Deutsche Immobilien billiger
- Die Schmerzen der Frau Engelhorn und die Umverteilung
- Vermögenssteuer in Österreich kommt aus guten Rechtsgründen nicht
Märkte – Report
Israel, Ukraine
Meldungen
Themenreigen – Medizin, Psychologie, Wissenschaft & Technik, Internet, Vermögens-/Erbschaftssteuer-Vermögensumverteilung, Gesellschaft & Demographie, Gender, Antisemitismus
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Viel Stoff – Nutze die Suchfunktion!
HELLMEYER-Report (gekürzt)
- Märkte: DAX und EuroStoxx 50 markieren neue Rekorde
- Frankreichs Staatsdefizit unerwartet groß
- Institute schlagen laut Insidern Reform der Schuldenbremse vor
Märkte: DAX und EuroStoxx 50 markieren neue Rekorde
Die Finanzmärkte zeigen sich weiter in stabiler oder guter Verfassung. Das galt gestern allen
voran für die europäischen Aktienmärkte. Der DAX markierte sowohl auf Basis des Schlusskurses
als auch der „Intra-Day“ Bewegung neue Rekordstände. Gleiches gilt für den EuroStoxx 50.
Das Thema Geopolitik belastet weiter hintergründig. Gestern brach Israel die Verhandlungen über
einen Waffenstillstand im Gaza-Konflikt ab. Die Bereitschaft, der UN-Resolution zu folgen, ist
seitens der Regierung Israels nicht gegeben. Wie wird die Weltgemeinschaft darauf reagieren, so
wie auf die fortgesetzte völkerrechtswidrige Siedlungspolitik (verbale Kritik ohne Folgen)?
Im Ukraine-Konflikt zeigt sich kein Ansatz für Entspannung. Der Eskalationskurs setzt sich fort.
Das Datenpotpourri lieferte gestern divergente Signale. Aus den USA erreichten uns tendenziell
enttäuschende Datensätze. So sank das Verbrauchervertrauen nach Lesart des Conference Board
unerwartet. Gleiches gilt für den Richmond Composite Index. Der Auftragseingang für langlebige
Wirtschaftsgüter war in der Zweimonatsperspektive schwächer als erwartet (höher im
Monatsvergleich, aber stärkere Revision des Vormonats).
Spaniens BIP war stark. Das deutsche IFO Beschäftigungsbarometer stieg erstmalig nach zwei Rückgängen in Folge per März. In China nahmen die Gewinne der Industrieunternehmen erstmalig seit Juni 2022 im Jahresvergleich zu. Per Februar 2024 kam es zu einem Anstieg im Jahresvergleich um 10,2% (Vormonat -2,3%).
Die Aktienmärkte Europas schlossen mit Gewinnen. Der Late DAX stieg um 0,62%, der EuroStoxx
50 um 0,32%. In den USA ergab sich kein homogenes Bild. Der Dow Jones legte um 0,11% zu,
dagegen verloren der S&P 500 0,14% und der Citi US Tech 100 um 0,28%. In Fernost ergibt sich
Stand 07:10 Uhr folgendes Bild. Der Nikkei (Japan) legt um 1,19% zu, der CSI 300 (China) verliert
0,10%, der Hangseng (Hongkong) gibt 0,54% nach, der Sensex (Indien) steigt um 0,79% und der
Kospi (Südkorea) verzeichnet ein Minus in Höhe von 0,12%.
Am Rentenmarkt gab es nur wenig Veränderung. 10-jährige Bundesanleihen rentieren mit 2,35%
(Vortag 2,37%) und 10-jährige US-Staatsanleihen mit 4,24% (Vortag 4,25%.
Der USD zeigt gegenüber EUR, Gold und Silber wenig Bewegung.
Nachrichten in Kurzform:
• Berlin: Das IFO Beschäftigungsbarometer stieg erstmalig nach zwei Rückgängen in
Folge per März von zuvor 94,9 auf 96,3 Punkte.
• London: Der WikiLeaks-Gründer Assange darf gegen einen Beschluss
Großbritanniens zu seiner Auslieferung an die USA in Berufung gehen. Das
entschied der britische High Court am Dienstag.
• Baltimore: Ein durch ein Containerschiff verursachter Brückeneinsturz legt den für
den Welthandel bedeutenden Hafen von Baltimore lahm.
• Peking: China geht bei der WTO gegen staatliche Beihilfen für die US-Industrie vor.
Dazu leitete China ein Streitbeilegungsverfahren gegen die USA ein. Es richte sich
gegen „diskriminierende Subventionen“ im Rahmen des Inflation Reduction Act.
Frankreichs Staatsdefizit unerwartet groß
Das Defizit im französischen Staatshaushalt ist per 2023 überraschend deutlich
angewachsen. Es summierte sich auf 5,5% des Bruttoinlandsproduktes, wie das
Statistikamt INSEE mitteilte. 2022 lag die Neuverschuldung bei 4,8%. Die Regierung
hatte lediglich einen Anstieg auf 4,9% erwartet. Dem Statistikamt zufolge lag die
Staatsverschuldung am Ende des vierten Quartals 2023 bei 110,6% des
Bruttoinlandsproduktes nach 111,9% im Jahr zuvor (Inflationseffekt reduzierte).
Kommentar: Das im Vergleich zu Deutschland (2,1%) hohe Haushaltsdefizit in Höhe von 5,5%
des BIP unterstreicht die Fragilität der französischen Ökonomie. Man ist nicht auf den Niveaus
der USA (circa 8% Haushaltsdefizit), aber es ist ein prekäres Defizitniveau. Auch bei der
Gesamtverschuldung sieht es kritisch aus. Sie liegt per Ende des vierten Quartals 2023 bei
110,6% des BIP (Deutschland rund 64% des BIP). Frankreichs Frühindikatoren
(Einkaufsmanagerindices) sind im Kontext schwach. Der Composite PMI (Gesamtwirtschaft)
stellte sich zuletzt auf 47,7 Punkte (Deutschland 47,4). Der Index der Eurozone lag bei 49,9
Zählern. Daran wird deutlich, dass die beiden wirtschaftlichen Schwergewichte der Eurozone,
Deutschland und Frankreich, die Eurozone ökonomisch belasten. Frankreich liegt konjunkturell
noch vor Deutschland bezüglich des Composite PMIs, aber der Preis im öffentlichen Haushalt
ist und bleibt hoch (Struktur!)!
Finanzminister Le Maire nannte als Grund für die verfehlte Prognose, dass die
Steuereinnahmen geringer ausfielen als erwartet, weil sich die Inflation stärker zurückgebildet
habe als prognostiziert. Die Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung und der kommunalen
Verwaltungen seien höher ausgefallen als angenommen. Er kündigte an, öffentliche
Einrichtungen aufzufordern, so viele Einsparungen vorzunehmen wie möglich. Die
Kommunalverwaltungen müssten ihre Haushalte kürzen. Zusätzliche Haushaltseinsparungen
müssten gefunden werden, um das Defizitziel von 4,4% für 2024 zu erreichen. Die Regierung
habe Kürzungen in Höhe von 10 Mrd. EUR für dieses Jahr ins Visier genommen. Le Maire
bekräftigte, das Defizit bis 2027 unter die zulässige EU-Obergrenze von 3% zu senken.
Steuererhöhungen schloss er dabei aus.
Kommentar: Im Hinblick auf die labile innenpolitische Lage in Frankreich wird es schwer sein,
den Haushalt zu konsolidieren. Macron und die aktuelle Regierung haben laut
Meinungsumfragen keine Mehrheit hinter sich. Wir bieten eine konstruktive Idee „out of the
box“ an. Eine Neuausrichtung der Außenpolitik könnte der Wirtschaft Frankreichs,
Deutschlands und der Eurozone neues Leben einhauchen und damit der Defizitsituation
entgegenwirken, nur eine Idee …
Institute schlagen laut Insidern Reform der Schuldenbremse vor
Die Wirtschaftsinstitute machen sich für eine Reform der Schuldenbremse stark. Ziel
sei es, mehr Investitionen zuzulassen. Konkret wird beispielsweise vorgeschlagen, die
Defizitbegrenzung nach Ziehen der Ausnahmeklausel nicht mehr abrupt, sondern
stufenweise scharf zu stellen. In der Ampel-Regierung machen sich SPD und Grüne für
eine Reform der Schuldenbremse stark. Die FDP pocht dagegen auf eine Einhaltung
und verweist auf eine entsprechende Vereinbarung im Koalitionsvertrag für die
laufende Amtszeit.
Kommentar: Die sich wie in keinem anderen Land abschwächende Wirtschaftslage, die nicht
eine konjunkturelle Delle (Habeck), sondern ein ausgewachsenes strukturelles Problem als
Grundlage hat, wird sich auf die Staatseinnahmen belastend auswirken. Das ist keine Frage
des „ob“, sondern des „wie“ und „wann“. Diese absehbare Not muss erfinderisch machen. Ich
habe bezüglich der notwendigen strukturellen Erneuerung kein Problem, die Schuldenbremse
aufzulösen für nachhaltige Investitionen, die die strukturellen Defizite andressieren, nicht
jedoch für „esoterische“ Investitionspolitik, implizite US-Subventionen und Konsumausgaben!
Datenpotpourri der letzten 24 Handelsstunden
Eurozone: Spaniens BIP erwartungsgemäß stark
Deutschland: Der GfK-Konsumklimaindex verbesserte sich per April von zuvor -28,8 (revidiert
von -29,0) auf -27,4 Punkte (Prognose -27,9).
Spanien: Das BIP legte per 4. Quartal 2023 gemäß finaler Berechnung im Quartalsvergleich um
0,6% und im Jahresvergleich um 2,0% zu. Beides entsprach den vorläufigen Werten und den
Prognosen.
Ungarn: Leitzins von 9,0 auf 8,25% gesenkt
Die Notenbank senkte den Leitzins auf der gestrigen Sitzung erwartungsgemäß von zuvor 9,0%
auf 8,25%.
China: Industrieprofite legen stark zu
Die Profite der Industrieunternehmen stiegen per Februar im Jahresvergleich um 10,2% nach
zuvor -2,3% per Januar 2024. Der Tiefpunkt lag im Februar 2023 bei -22,9%. Seitdem kommt es
zu einer Entspannung und nun erstmals seit Juni 2022 ein Anstieg im Jahresvergleich.
USA: Verbrauchervertrauen schwächer, Richmond pessimistischer
Der Auftragseingang für langlebige Wirtschaftsgüter verzeichnete per Berichtsmonat Februar
im Monatsvergleich einen Anstieg um 1,4% (Prognose 1,1%). Der Vormonatswert wurde von
nach -6,2% auf -6,9% revidiert. Kumuliert war das Ergebnis 0,4% schwächer als erwartet.
Der Case/Shiller Hauspreisindex (20 Städtevergleich) legte per Januar im Monatsvergleich um
0,1% (Prognose 0,2%) nach zuvor 0,3% (revidiert von 0,2%) zu. Im Jahresvergleich stellte sich
ein Anstieg um 6,6% (Prognose 6,7%) nach zuvor 6,2% (revidiert von 6,1%) ein.
Der Index des Verbrauchervertrauens nach Lesart des Conference Board sank per März von
zuvor 104,8 (revidiert von 106,7) auf 104,7 Punkte (Prognose 107,0).
Der Richmond Fed Composite Index sank per Berichtsmonat März von zuvor -5 auf-11Punkte.
Hier den Hellmeyer Report lesen! (inkl. Graphiken und Tabellen!)
MÄRKTE
DJI – BAHA *** DJI – KGV *** Rendite 10-jg. US-Anleihen
DAX Deutsche Börse *** DAX – KGV *** Rendite 10-jg. Bundesanl. *** Euro-Bund Futures
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Einkommen – Gehalt: Mit 3.500 Euro monatlich schon „reich“
Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, heißt es. Doch ab wann gilt man in Deutschland eigentlich als reich?
Ab welchem Gehalt gelte ich als reich? Diese Frage stellt sich so mancher in Deutschland. Während der eine oder andere beim Gedanken an Reichtum von schier unermesslichen Vermögen träumt, zeigt eine neue Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft, dass die Realität weitaus bescheidener aussieht.
Die Studie zeigt, dass die Schwelle zum Reichtum vielleicht niedriger liegt, als viele denken.
Neues Bild von Reichtum
Die traditionellen Bilder von Reichtum – seien es Dagobert Ducks Geldspeicher, Luxusyachten in abgelegenen Buchten oder die neueste Mode von hochkarätigen Designern – prägen zwar oft unsere Vorstellung, doch in der realen Welt zeichnet sich ein anderes Bild.
Laut dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales gilt man bereits als reich, wenn das eigene Einkommen das Dreifache des Nettomedians der deutschen Bevölkerung erreicht. Bei einem durchschnittlichen Nettomedian von etwa 2.600 Euro, wie ihn die Jobbörse Absolventa festhält, sind es also 7.800 Euro, die monatlich auf dem Konto landen müssen, um nach dieser Definition als reich zu gelten.
Oberen zehn Prozent gelten als reich
Das Institut der Deutschen Wirtschaft geht sogar noch einen Schritt weiter und definiert die oberen zehn Prozent der Einkommensbezieher als reich. Wer also mehr verdient als 90 Prozent seiner Mitbürger, gehört zu den Reichen im Land.
Der renommierte Vermögensforscher Wolfgang Lauterbach schränkt diese Definition noch weiter ein: Als wohlhabend gelten für ihn Personen, deren Einkommen das Doppelte des Nettomedians erreicht – also etwa 5.200 Euro. Wirklicher Reichtum beginne dagegen erst beim Dreifachen des Durchschnittseinkommens, ohne klare Grenze nach oben.
3.000 Euro netto zählen als wohlhabend
Ein Single mit einem Nettoeinkommen von 3.000 Euro im Monat gehört zu den oberen 15 Prozent der Einkommensbezieher in Deutschland und gilt damit als wohlhabend. Steigt das Einkommen auf etwa 3.500 Euro, rutscht man in die Kategorie der oberen neun Prozent und gilt als reich. Hingegen gilt man mit einem Einkommen von 1.250 Euro netto als armutsgefährdet. Zwischen armutsgefährdet und reich liegen also 2.250 Euro im Monat!
Für Paare ohne Kinder bedeutet ein gemeinsames Nettoeinkommen von 6.000 Euro bereits, zu den oberen 14 Prozent zu gehören. Übersteigt das gemeinsame Einkommen die Schwelle von 7.000 Euro, gehört man zu den Reichen.
Als Paar mit zwei Kindern gehört man mit einem gemeinsamen Nettoeinkommen von 7.000 Euro im Monat zu den oberen 14 Prozent der Bevölkerung und ist damit wohlhabend. Von Reichtum spricht man von einem Gehalt ab 8.000 Euro.
Frage der Unabhängigkeit von Arbeit
Dies zeigt, dass finanzielle Sicherheit und ein gewisses Maß an Luxus für einen größeren Teil der Bevölkerung erreichbar sind, als es die oft hochgesteckten Vorstellungen von Reichtum vermuten lassen. Reichtum ist in Deutschland weniger an exorbitante Summen gebunden als an ein stabiles und überdurchschnittliches Einkommen, das einen gewissen finanziellen Spielraum ermöglicht.
Es ist aber auch nicht ganz einfach, erst einmal auf ein so hohes Einkommensniveau zu kommen.
ISRAEL
n-tv aktuell ISRAEL
Israel bestätigt „Nummer drei“ der Hamas ist tot
Der stellvertretende Kommandeur des Kassam-Brigaden, Marwan Issa, ist offenbar nicht mehr am Leben. Israels Armee ist sich inzwischen sicher, dass er bei einem Luftschlag getötet wurde. Issa soll einer der Drahtzieher des Massakers am 7. Oktober gewesen sein.
Einige konnten nicht schwimmen Mehrere Palästinenser ertrinken nach Hilfsgüter-Abwurf über Meer
Im nördlichen Gazastreifen ist die Not der Zivilbevölkerung in dem seit mehr als fünf Monaten dauernden Gaza-Krieg besonders groß. Nachdem Hilfspakete im Meer gelandet sind, sollen mehrere Menschen versucht haben, an sie heranzukommen – sogar solche, die nicht schwimmen konnten.
Genozid-Vorwurf eine „Schande“ Israel ist über Bericht von UN-Expertin entrüstet
Als eine „obszöne Umkehrung der Realität“ kritisiert Israel den Bericht einer UN-Beauftragten, der dem jüdischen Staat Völkermord und Siedlungskolonialismus vorwirft. Derweil sehen die USA die Kriegsführung in Gaza im Einklang mit dem Völkerrecht.
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ROUNDUP: Gaza-Verhandlungen scheinen in Sackgasse – Die Nacht im Überblick
GAZA/WASHINGTON/DOHA (dpa-AFX) – Die indirekten Verhandlungen über eine Waffenruhe im Gaza-Krieg scheinen in eine Sackgasse geraten zu sein. Die israelische Verhandlungsdelegation wurde laut Medienberichten bis auf ein kleines Team aus Katar zurückbeordert, was zu Schuldzuweisungen zwischen den USA und Israel führte.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagte am Dienstag nach Angaben seines Büros: „Die Position der Hamas beweist eindeutig, dass sie nicht an einer Fortsetzung der Verhandlungen über einen Deal interessiert ist, und ist ein trauriger Beweis für den Schaden, den die Entscheidung des Weltsicherheitsrats angerichtet hat.“
Die US-Regierung wies seine Äußerung prompt zurück: Die Erklärung, dass die Hamas den jüngsten Vorschlag in den Geisel-Verhandlungen wegen der UN-Resolution zurückgewiesen habe, sei „in fast jeder Hinsicht ungenau, und sie ist unfair gegenüber den Geiseln und ihren Familien“, sagte der Sprecher des US-Außenministeriums, Matthew Miller, am Dienstag in Washington.
Mit einer völkerrechtlich bindenden Resolution hatte der Weltsicherheitsrat am Vortag erstmals seit Kriegsbeginn eine „sofortige Waffenruhe“ im Gazastreifen gefordert. Die USA hatten auf ihr Vetorecht verzichtet. Hintergrund ist die katastrophale humanitäre Lage in Gaza und die Sorge vor einer israelischen Bodenoffensive in der im Süden des abgeriegelten Küstengebiets gelegene Stadt Rafah an der Grenze zu Ägypten. Die Hamas teilte daraufhin mit, sie beharre bei den Verhandlungen auf ihrer Forderung nach einem umfassenden Waffenstillstand, einschließlich eines vollständigen israelischen Abzugs aus Gaza.
Die Hamas habe „alle US-Kompromissvorschläge abgelehnt, während sie die Resolution des Weltsicherheitsrats feiert“, sagte Netanjahu. US-Außenamtssprecher Miller betonte dagegen, die Hamas habe bereits vor dem Votum im UN-Sicherheitsrat ihre Antwort auf den jüngsten Verhandlungsvorschlag vorbereitet und nicht nach der Abstimmung.
Israels Verteidigungsminister zu Gesprächen in Washington
Der Streit um die festgefahrene Situation dürfte die ohnehin schon angespannten Beziehungen zwischen Netanjahu und der Regierung von US-Präsident Joe Biden zusätzlich belasten. Der israelische Verteidigungsminister Joav Galant traf am Dienstag in Washington mit US-Verteidigungsminister Lloyd Austin zusammen, um die Situation zu entschärfen. „Die Verhandlungen über die Geiseln und die Positionen der Hamas erfordern, dass wir uns bei unseren militärischen und diplomatischen Bemühungen die Hände reichen und den Druck auf die Hamas erhöhen“, sagte Galant nach Mitteilung des Pentagons zu Beginn des Treffens mit Austin. In dem gemeinsamen Gespräch habe Austin betont, dass die USA und Israel eine „moralische Verpflichtung“ dazu hätten, die Zivilbevölkerung in Gaza zu schützen. Es gebe auch ein „strategisches Interesse“ daran.
Die US-Regierung hatte Israel zuletzt mehrfach deutlich vor einer Bodenoffensive in Rafah gewarnt. Präsident Biden forderte sogar ein, dass Israel eine Delegation nach Washington schickt, auch um Alternativen zu erläutern. Netanjahu sagte den Besuch seiner Entsandten jedoch am Montag in letzter Minute erbost ab, nachdem der UN-Sicherheitsrat mithilfe der USA die Resolution mit der Forderung nach einer sofortigen Waffenruhe verabschiedet hatte.
Bericht: Rufe in Israel nach mehr Unabhängigkeit von US-Einfluss
Die Entscheidung Washingtons, die Verabschiedung der Resolution zuzulassen, ermutige populistische Stimmen in Israel, die eine größere Unabhängigkeit des Landes vom amerikanischen Einfluss forderten, schrieb das „Wall Street Journal“ am Dienstag. „Israel ist insbesondere von amerikanischen Waffen übermäßig abhängig geworden“, sagte Caroline Glick, eine israelische Kolumnistin und ehemalige Beraterin Netanjahus, der US-Zeitung. Der israelische Verteidigungsminister Galant hatte sich kürzlich in einem Brief an die US-Regierung dazu verpflichtet, US-Waffen nur in Einklang mit internationalem Recht einzusetzen. Auf die Frage, ob die USA zum Ergebnis gekommen seien, dass Israel nicht gegen das Völkerrecht verstoßen habe, sagte der Außenministeriumssprecher Miller am Dienstag, es gebe noch keine endgültige Beurteilung, der Prozess dauere an.
Bericht: Verhandlungen dürften trotz Sackgasse bald weitergehen
Am Wochenende hatten sich ranghohe Vertreter der Vermittler Katar, Ägypten und der USA in der katarischen Hauptstadt Doha mit der israelischen Delegation unter Leitung des Chefs des Auslandsgeheimdiensts Mossad, David Barnea, getroffen, um zu versuchen, die Verhandlungen über eine Waffenruhe und die Freilassung von Geiseln voranzutreiben. Am Montag hieß es, Israel habe sich bereiterklärt, auf die Hamas zuzugehen und im Austausch für 40 israelische Geiseln einige hundert palästinensische Häftlinge mehr freizulassen als bisher zugestanden worden war. In der Nacht gab dann die Hamas bekannt, sie beharre auf ihrer Forderung nach einem umfassenden Waffenstillstand. Damit sei klar gewesen, „dass wir uns in einer Sackgasse befinden und dass die Hamas ungeachtet der israelischen Kompromissbereitschaft nicht vorankommen will“, zitierte das Nachrichtenportal „Axios“ einen Beamten Israels.
Kurz darauf habe Barnea sein Verhandlungsteam größtenteils nach Hause beordert. Laut israelischen Medien ließ er jedoch ein kleines Team in Katar, um die Gespräche fortzusetzen. Die US-Regierung, Katar und Ägypten bewerteten die derzeitige Situation lediglich als „Pause“ in den Gesprächen und erwarteten, dass die Verhandlungen in einigen Tagen wieder aufgenommen werden, zitierte „Axios“ eine mit der Angelegenheit vertraute Quelle. Die israelische Delegation sei zu internen Konsultationen nach Hause zurückgekehrt. „Alle wollen die Gespräche fortsetzen, also glauben wir nicht, dass es vorbei ist“, sagte die Quelle demnach.
Israel setzt Bombardierung Gazas fort
Das israelische Militär setzt unterdessen die Bombardierung des Gazastreifens fort. Im Laufe des vergangenen Tages hätten Kampfflugzeuge mehr als 60 Ziele in dem Küstengebiet angegriffen, teilte die Armee am Dienstag mit. Sie bestätigte zudem die Tötung des dritthöchsten Hamas-Führers im Gazastreifen, Marwan Issa, bei einem Luftangriff vor zwei Wochen. „Wir haben alle Geheimdienstinformationen überprüft und die Gewissheit erlangt“, sagte Armeesprecher Daniel Hagari am Dienstagabend. Issa und ein weiterer Hamas-Führer seien bei einem „komplexen und präzisen Angriff“ der israelischen Luftwaffe getötet worden. Israel hatte vor zwei Wochen über den Angriff auf einen Tunnel berichtet, in dem Issa vermutet wurde, wollte seinen Tod damals aber noch nicht bestätigen.
Eine von der Hamas in den Gazastreifen entführte Israelin hat derweil als erstes Opfer der Islamisten öffentlich über dort erlittenen sexuellen Missbrauch und Folter gesprochen. Sie sei während ihrer Gefangenschaft immer wieder tätlichen Angriffen, Folter, Demütigungen und angsteinflößenden Situationen ausgesetzt gewesen, sagte die 40-Jährige der „New York Times“ (Dienstag). Ende November, als Israel und die Hamas 110 Geiseln gegen rund 400 palästinensische Häftlinge austauschten, war sie freigekommen.
Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Gruppen hatten am 7. Oktober den Süden Israels überfallen. Sie töteten 1200 Menschen und verschleppten 250 nach Gaza. Es war der Auslöser des Kriegs./ln/DP/zb
UKRAINE
n-tv aktuell UKRAINE
+++ 23:39 UN-Bericht: Mindestens 32 ukrainische Kriegsgefangene hingerichtet +++
Laut dem Bericht der Vereinten Nationen über die Menschenrechtslage in der Ukraine sind zwischen Dezember und Februar mindestens 32 ukrainische Kriegsgefangene von den russischen Besatzern hingerichtet worden, mehr als in jedem anderen Zeitraum. Es gebe dokumentierte glaubwürdige Berichte über zwölf separate Fälle, schreibt das Portal „Ukrainska Pravda“. In Befragungen von 60 ukrainischen Soldaten, die kürzlich aus der Gefangenschaft entlassen worden waren, hätten die Befragten von Schlägen, Folter und sexueller Gewalt berichtet, so die UN.
+++ 22:016 Sprengung von Eisenbahnlinie geplant: Kiews Geheimdienst fasst FSB-Saboteure +++
Der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) teilt mit, er habe einen Sabotageversuch von Agenten des russischen Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) an einer Eisenbahnlinie im ukrainischen Gebiet Poltawa vereitelt. Die Generalstaatsanwaltschaft fügt hinzu, dass es sich bei den beiden Verdächtigen um ukrainische Staatsbürger handelt. Das Gebiet Poltawa liegt in der Zentralukraine, wobei der östlichste Teil etwa 100 Kilometer von der russischen Grenze entfernt ist. Der SBU gibt nicht genau an, wo der Sabotageversuch stattfand. Nach Angaben des SBU wurden zwei FSB-Agenten „an Ort und Stelle“ verhaftet, nachdem sie einen improvisierten Sprengsatz an einer wichtigen Eisenbahnstrecke, die die Zentral- und Ostukraine verbindet, angebracht haben.
+++ 19:56 Finnland sieht Russland als größte Bedrohung für eigene Sicherheit +++
Die Aktivitäten der russischen Geheimdienste stellen nach finnischen Angaben die größte Bedrohung für die Sicherheit Finnlands dar. Für Russland sei das Nachbarland ein „Ziel für Spionageaktivitäten und böswillige Einflussnahme“, erklärt der finnische Geheimdienst Supo. Zwar habe Finnland durch „Gegenspionage“, die Ausweisung russischer Geheimdienstmitarbeiter und eine strenge Visapolitik die Bedingungen für russische Nachrichtendienstmitarbeiter im vergangenen Jahr schwächen können. Dennoch blieben die russischen Geheimdienstaktivitäten eine Bedrohung, heißt es in der Erklärung des Supo. Russland werde auch weiterhin auf eine „Instrumentalisierung der Einwanderung“ zurückgreifen, um „seine Unzufriedenheit mit Finnlands NATO-Beitritt“ zum Ausdruck zu bringen, warnte der Supo.
+++ 19:20 Russland beginnt „Waffen-gegen-Öl“-Handel mit Nordkorea +++
Russland beliefert Nordkorea entgegen den UN-Sanktionen mit Öl, wahrscheinlich im Tausch gegen Waffen, berichtet die „Financial Times“. Laut Satellitenbildern, die von der FT und dem Royal United Services Institute (RUSI) eingesehen wurden, fahren nordkoreanische Tanker seit dem 7. März mit deaktivierten Peilsendern zum und vom Hafen Vostochny im Fernen Osten Russlands. Pjöngjang unterliegt einer strengen Obergrenze für Öltransfers, die der UN-Sicherheitsrat 2017 nach einer Reihe von Atomwaffentests verhängt hat. Hugh Griffiths, ein ehemaliger Koordinator des UN-Gremiums, das die Sanktionen gegen Nordkorea überwacht, sagt der FT: „Diese Öllieferungen sind ein Frontalangriff auf das Sanktionsregime, das nun am Rande des Zusammenbruchs steht. Was wir jetzt sehen, ist ein klarer Waffen-gegen-Öl-Tauschhandel, der offen gegen die Sanktionen verstößt und den (der russische Präsident) Wladimir Putin persönlich abgesegnet hat, was die Entwicklung Russlands in den letzten Jahren vom internationalen Spielverderber zum Verbrecherstaat verdeutlicht“.
+++ 18:10 Private Rüstungsunternehmen florieren in der Ukraine +++
Im Krieg gegen Russland setzt die Ukraine zunehmend auf private Rüstungsunternehmen. Diese übernehmen bereits 80 Prozent der Produktion von Munition und anderen Waffen und werden gerade seit der russischen Invasion vom Staatshaushalt gefördert. Den Bedarf der Front decken sie dennoch nicht.
Kauf einheimischer Waffen Private Rüstungsunternehmen florieren in der Ukraine
+++ 17:46 Polnischer Vize-Außenminister: NATO erwägt Abschuss russischer Raketen, die sich Grenzen nähern +++
Die NATO erwägt Berichten zufolge die Möglichkeit, russische Raketen abzuschießen, wenn sie sich ihren Grenzen zu sehr nähern, sagt der stellvertretende polnische Außenminister Andrzej Szejna gegenüber dem polnischen Medienkanal RMF24.
Während des russischen Drohnen- und Raketenangriffs auf die Ukraine am Sonntag, als ein russischer Marschflugkörper für 39 Sekunden in den polnischen Luftraum eindrang, war Polen gezwungen, seine Kampfjets zum Schutz seines Luftraums einzusetzen. Der russische Botschafter in Polen, Sergej Andrejew, wurde vom polnischen Außenministerium als Reaktion auf den Vorfall vorgeladen, lehnte das Ersuchen jedoch ab. Szejna sagt: „(Russland) wusste, dass die Rakete abgeschossen würde, wenn sie sich weiter nach Polen bewegte. Es würde einen Gegenangriff geben. Innerhalb der NATO werden verschiedene Konzepte geprüft, darunter auch die Möglichkeit, solche Raketen abzuschießen, wenn sie sich sehr nahe an der NATO-Grenze befinden.“ Ein solcher Vorschlag müsste von der ukrainischen Seite gebilligt werden.
+++ 17:10 Russische Starlink-Nutzung bremst Netz für Ukraine aus +++
Musk und SpaceX halten einen systematischen Einsatz der Starlink-Technologie durch russische Truppen für abwegig. Doch laut der ukrainischen Armee stellt die wachsende Verwendung von Starlink-Terminals des Feindes ein zunehmendes Problem dar. Die Abhängigkeit des unberechenbaren Tech-Milliardärs bereitet den Ukrainern Sorge.
+++ 16:43 Selenskyj feuert den Sekretär des Sicherheitsrates +++
Präsident Wolodymyr Selenskyj hat den Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, Oleksii Danilow, entlassen. Die Entscheidung wird auf der offiziellen Website des Präsidialamtes bekannt gegeben. Danilow war seit kurz nach Beginn von Zelenskys Amtszeit im Jahr 2019 in diesem Amt tätig. Ein Grund für seine Entlassung wird bislang nicht genannt. Danilow wird durch den derzeitigen Chef des Auslandsgeheimdienstes, Oleksandr Lytvynenko, ersetzt.
+++ 16:11 Lukaschenko: Attentäter von Moskau wollten zuerst nach Belarus fliehen +++
Die Angreifer im Konzertsaal bei Moskau haben nach Angaben des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko zunächst die Flucht nach Belarus versucht. Sie seien aber wegen der Grenzkontrollpunkte umgekehrt, erklärt Lukaschenko. „Deswegen gab es keine Möglichkeit für sie, nach Belarus einzureisen. Sie haben das gesehen. Deswegen kehrten sie um und gingen zu dem Abschnitt an der ukrainischen-russischen Grenze“, sagt er. Damit widerspricht der belarussische Machthaber den russischen Angaben, dass die Angreifer zunächst versucht hätten, in die Ukraine zu fliehen. Mehr dazu lesen Sie hier.
+++ 15:15 Putins „Behauptungen machen überhaupt keinen Sinn“ +++
Nach dem Anschlag auf ein Konzerthaus nahe Moskau reklamiert der Islamische Staat die Tat für sich. Russlands Präsident Putin braucht drei Tage, um „radikale Islamisten“ für die Tat verantwortlich zu machen. Dabei deutet er erneut Verbindungen der Ukraine in das Attentat an. Russlandexperte Niko Karasek erklärt, was dahintersteckt.
Karasek zu Anschlags-Vorwürfen Putins „Behauptungen machen überhaupt keinen Sinn“
+++ 14:49 Russischer Parlamentschef: Todesstrafe problemlos wieder anwendbar +++
Der russische Parlamentschef Wjatscheslaw Wolodin hält die Wiederanwendung der Todesstrafe in Russland für schnell machbar. „In unserer Verfassung und im Strafrecht hat niemand die Todesstrafe abgeschafft“, sagt Wolodin bei einer Parlamentssitzung. Das Verfassungsgericht könne die Anwendung beschließen. Es seien keine Referenden oder anderen Entscheidungen nötig. Bisher gilt ein Moratorium auf die Anwendung der Todesstrafe in Russland. Führende Politiker, darunter von der Kremlpartei Geeintes Russland, haben sich nach dem Terroranschlag bei Moskau am Freitag für eine Wiedereinführung dieser Höchststrafe ausgesprochen. Wolodin hatte sich nach dem Anschlag auf das Veranstaltungszentrum Crocus City Hall, bei dem mindestens 139 Menschen starben, noch am Freitag für eine Tötung der Täter ausgesprochen. Nun sagt er, dass eine Entscheidung über die Wiederanwendung der Todesstrafe mit kühlem Verstand und nach einer Diskussion getroffen werden müsse.
+++ 14:31 Westen angeblich involviert: FSB verbreitet Verschwörungstheorien über Anschlag +++
Der russische Inlandsgeheimdienst FSB wirft westlichen und ukrainischen Geheimdiensten vor, den Anschlag auf einen Konzertsaal bei Moskau angeblich unterstützt zu haben. „Wir glauben, dass die Aktion sowohl von den radikalen Islamisten selbst als auch von westlichen Geheimdiensten vorbereitet wurde“, zitierte die russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti FSB-Chef Alexander Bortnikow. Die ukrainischen Dienste seien „unmittelbar involviert“, fügt er hinzu. Nach Angaben des FSB wurde der Auftraggeber des Anschlags noch nicht identifiziert. Russland verstehe jedoch, wer die Angriffe organisiert habe, sagt Bortnikow. Seinen Angaben zufolge hatten die mutmaßlichen Angreifer vor, in die Ukraine zu fliehen. Dort hätten sie „als Helden“ begrüßt werden sollen. Beweise für seine Behauptungen legt der FSB-Chef nicht vor. Mehr dazu lesen Sie hier.
+++ 13:48 Schoigu nennt weitere Mobilmachung für Pufferzone „Unsinn“ +++
Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu hält eine weitere Mobilmachung von Soldaten zur Sicherung einer Pufferzone im Grenzgebiet für unnötig. Eine solche Idee sei „Unsinn“, sagt Schoigu, ein enger Vertrauter des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der staatlichen Nachrichtenagentur RIA zufolge. Putin sagte unlängst, dass möglicherweise eine Pufferzone besetzt werden muss, um die Region Belgorod zu schützen. Diese liegt an der Grenze zur Ukraine und wurde in den vergangenen Monaten von ukrainischen Streitkräften wiederholt massiv angegriffen.
+++ 13:15 Munz zu Anschlag: „Entscheidende Frage traut sich hier niemand zu stellen“ +++
Der Kreml zeigt nach dem Terroranschlag in Moskau rasend schnell mit dem Finger auf die Ukraine, muss sich später aber den Tatsachen stellen und zurückrudern. Eine Frage, die sich aufdrängt, darf in Russland aber nicht laut ausgesprochen werden, berichtet ntv-Korrespondent Rainer Munz.
Munz zu Terroranschlag in Moskau „Entscheidende Frage traut sich hier niemand zu stellen“
+++ 12:44 Putin-Vertrauter Patruschew bezichtigt die Ukraine des Anschlags in Moskau +++
Der Sekretär des russischen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, macht die Ukraine verantwortlich für den Anschlag auf die Konzerthalle bei Moskau. Das russische Nachrichtenportal Shot veröffentlicht ein Video, in dem einer seiner Reporter Patruschew im Vorbeigehen nach den Verantwortlichen fragt: „ISIS oder Ukraine?“ Patruschew antwortet: „Natürlich die Ukraine.“ Die Regierung in Kiew bestreitet jegliche Beteiligung. Dagegen hat sich der afghanische Ableger der Extremisten-Organisation Islamischer Staates IS, ISPK, mehrfach zu der Tat bekannt, bei der mindestens 139 Menschen getötet wurden. Patruschew verfügt als Sekretär des wichtigen Sicherheitsrates, dessen Vorsitz Präsident Wladimir Putin hat, über viel Einfluss und ist ein enger Vertrauter des Staatschefs.
+++ 12:16 Zwei Moskauer Terrorverdächtige konnten offenbar ungehindert nach Russland einreisen +++
Zwei der wegen des Anschlags bei Moskau Beschuldigten haben sich nach türkischen Angaben zuvor in der Türkei aufgehalten und konnten ungehindert nach Russland reisen. Die beiden Tadschiken seien mit demselben Flug am 2. März von Istanbul nach Moskau gereist, es habe kein Haftbefehl gegen sie vorgelegen, heißt es in türkischen Sicherheitskreisen. Die beiden Männer hätten sich in Istanbul in einem Hotel aufgehalten. Einer der beiden habe im Februar mehrfach Fotos aus Istanbul in Onlinediensten gepostet. Nach Informationen aus türkischen Sicherheitskreisen sagt er aus, dass er in die Türkei gereist sei, weil sein Visum für Russland abgelaufen sei. „Wir gehen davon aus, dass die beiden sich in Russland radikalisiert haben, da sie sich nur kurze Zeit in der Türkei aufhielten“, sagt ein türkischer Beamter, der anonym bleiben wollte.
+++ 11:24 Rheinmetall erhält EU-Beihilfen zur Produktion von Munition +++
Rheinmetall bekommt Fördergelder der EU zur Ausweitung der Produktion von dringend benötigter Munition. Der Düsseldorfer Rüstungskonzern erhalte insgesamt 130 Millionen Euro aus dem rund 500 Millionen Euro schweren EU-Topf des Act of Support in Ammunition Production (ASAP), teilt Rheinmetall mit. Die Gelder sollen in sechs Projekte von Rheinmetall-Tochtergesellschaften in Deutschland, Ungarn, Rumänien und Spanien fließen. Munition wird in der von Russland angegriffenen Ukraine dringend benötigt. Aber auch die Bundeswehr und Streitkräfte anderer NATO-Länder müssen ihre Bestände auffüllen. Rheinmetall stehe dafür bereit, erklärt Rheinmetall. Bis 2027 will der Konzern in der Lage sein, jährlich bis zu 1,1 Millionen Artilleriegranaten zu produzieren. Aktuell sind es jährlich rund 700.000 Schuss. Die Munitionsproduktion ist einer der Treiber von Umsatz und Gewinn bei Rheinmetall.
+++ 10:51 Sicherheitsexperte: Putin sieht seinen Pakt mit den Russen gefährdet +++
Mit deutlichen Folterspuren führen russische Ermittler die Terrorverdächtigen nach dem Anschlag in Moskau vor Gericht. Ein Video soll zeigen, wie einem der mutmaßlichen Täter beim Verhör ein Ohr abgeschnitten wird. Sicherheitsexperte Markus Kaim erwartet ein zunehmend hartes Durchgreifen in Russland.
Brutales Vorgehen nach Anschlag Kaim: Putin sieht seinen Pakt mit den Russen gefährdet +++ 10:20 FSB will Anschlag verhindert haben +++
Der russische Inlandsgeheimdienst FSB soll laut der Nachrichtenagentur Interfax in der Region Samara einen Anschlag verhindert haben. Der Angreifer habe sich während der Festnahme selbst in die Luft gesprengt, meldet die Agentur unter Berufung auf den FSB. Es habe sich um einen Komplizen des Russischen Freiwilligenkorps gehandelt, dem pro-ukrainische Russen angehörten, heißt es weiter.
+++ 09:58 Juso-Chef: Nur wenige Beispiele, wo das Einfrieren von Kriegen funktioniert hat +++
Juso-Chef Philipp Türmer geht auf Abstand zur Äußerung von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich zum „Einfrieren“ des Ukraine-Kriegs und äußert Verständnis an der Kritik daran. „Dieser Begriff mit dem Einfrieren, da muss ich sagen, den finde ich nicht so glücklich“, sagt Türmer in der ntv-Talkshow „Beisenherz“. „Es gibt ohnehin nicht so wirklich viele Beispiele aus der Friedensforschung, wo das mit dem Einfrieren funktioniert hat. Vor allem nicht, wenn (…) Putins Russland auf der anderen Seite steht“, führt der Vorsitzende der SPD-Jugendorganisation aus. Mützenich hatte sich für kürzlich für eine Äußerung in einer Bundestags-Debatte Kritik eingefangen, hielt aber an der umstrittenen Formulierung fest. Er hatte gefragt: «Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“
Signale für jeden Will Putin verhandeln?
+++ 09:32 Lukaschenko inspiziert Truppen an der Grenze zu Litauen +++
Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko wird ein Panzerbataillon inspizieren, das in der Nähe der Stadt Aschmjany nahe der belarussischen Grenze zu Litauen stationiert ist. Das geht aus einem seiner Regierung nahestehenden Telegram-Kanal hervor. Die Beziehungen von Belarus und Litauen haben sich in den letzten Jahren stark verschlechtert. Litauen ist sowohl Mitglied der Europäischen Union als auch der NATO. Das Land bot der belarussischen Opposition Unterstützung an. Lukaschenko wiederum ist einer der engsten Verbündeten des russischen Präsidenten Wladimir Putin.
+++ 09:01 Kiew: Haben von Russland gekapertes ukrainisches Kriegsschiff getroffen +++
Die Ukraine hat eigenen Angaben zufolge das Landungsschiff Konstantin Olschansky mit einer Neptun-Rakete angegriffen. Das teilt der Sprecher der ukrainischen Marine, Dmytro Pletentschuk mit. „Dieses Schiff ist derzeit nicht kampfbereit.“ Russland hatte das Schiff 2014 von der Ukraine erbeutet.
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ROUNDUP: Ukrainische Bodentruppen weiter unter Druck – Die Nacht im Überblick
KIEW (dpa-AFX) – Die russische Armee setzt die ukrainischen Verteidiger an der Front im Osten des angegriffenen Landes weiter unter Druck. Besonders heftige Gefechte meldete der ukrainische Generalstab aus dem Ort Nowomychajliwka südlich von Donezk. Dort habe es am Dienstag 21 versuchte russische Vorstöße gegeben, teilte das Militär in Kiew mit. Insgesamt wurden an der fast 1000 Kilometer langen Frontlinie durch die Ost- und Südukraine 51 Bodengefechte gemeldet.
Für Aufsehen sorgte in Kiew ein Wechsel an der Spitze des nationalen Sicherheitsrates. Präsident Wolodymyr Selenskyj entließ den Sekretär des Rates, Olexij Danilow, und ersetzte ihn durch den bisherigen Leiter der Auslandsaufklärung, Olexander Lytwynenko.
Nach mehreren Nächten schwerer russischer Luftangriffe begann die Nacht auf Mittwoch für die Ukraine vergleichsweise ruhig. Luftalarm herrschte nur in der östlichen Großstadt Charkiw, die ständig durch Raketenbeschuss aus dem nahegelegenen russischen Gebiet Belgorod bedroht ist.
Von dort wiederum wurde eine Vielzahl anfliegender ukrainischer Kampfdrohnen gemeldet. 18 Fluggeräte seien abgefangen worden, teilte Gebietsgouverneur Wjatscheslaw Gladkow mit. Er sprach zunächst von einem Verletzten. In einigen Dörfern um die Stadt Belgorod habe es Schäden an Häusern oder Autos gegeben. Die Angaben waren nicht unabhängig überprüfbar.
Ukrainische Frontlinie weiter unter Druck
Seit mittlerweile mehr als zwei Jahren wehrt die Ukraine eine großangelegte russische Invasion ab. Bei den Kämpfen am Boden sind die ukrainischen Streitkräfte seit Monaten in der Defensive, was unter anderem am Mangel an Munition und Unterstützung aus der Luft liegt. Die russischen Truppen können mehr Soldaten und Material aufbieten, ihre Angriffe werden durch Bombardements aus der Luft unterstützt. Bei Nowomychajliwka im Gebiet Donezk versuchen die russischen Truppen, eine seit Langem bestehende vorgeschobene Position der Ukrainer einzunehmen.
Auch ausländische Beobachter wie das Institut für Kriegsstudien (ISW) in den USA bestätigten diese Kämpfe. Das ISW berichtete zudem von kleineren russischen Geländegewinnen jeweils westlich von Bachmut und von Awdijiwka.
Neue Aufgabe für entlassenen Sekretär des Sicherheitsrates
Präsident Selenskyj erwähnte die Entlassung des Sicherheitsratssekretärs Danilow in seiner abendlichen Videobotschaft am Dienstag, nannte aber keine Gründe. Danilow werde eine neue Aufgabe erhalten, kündigte er an. Im Präsidialamt sprach Berater Mychajlo Podoljak von einer üblichen Rotation des Personals. Danilow hatte vor knapp einer Woche im ukrainischen Nachrichtenfernsehen den chinesischen Vermittler Li Hui öffentlich beleidigt. Dieser war kürzlich nach Kiew und Moskau gereist, um die Möglichkeit einer Friedenslösung zwischen den Kriegsgegnern auszuloten.
Dem 21-köpfigen Sicherheitsrat in der Ukraine gehören Regierungsmitglieder, die Geheimdienstchefs, der Generalstaatsanwalt, der Chef der Zentralbank und der Präsident der Akademie der Wissenschaften an. In dem Rat werden unter Vorsitz des Präsidenten Fragen der nationalen Sicherheit diskutiert. Der Sekretär erfüllt dabei vor allem organisatorische Aufgaben und untersteht direkt dem Staatschef.
Zum neuen Chef des Auslandsgeheimdienstes wurde Oleh Iwaschtschenko ernannt. Dieser war vorher Vizechef des Militärgeheimdienstes HUR. Selenskyj hat in mehr als zwei Jahren Krieg an den meisten seiner Mitstreiter im Sicherheitsbereich festgehalten. Doch über die Zeit wurden die Leitungen des Geheimdienstes SBU, des Verteidigungsministeriums und zuletzt der Armee neu besetzt./fko/DP/zb
MELDUNGEN
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Klimawandel treibt die Inflation nach oben – Untersuchung von PIK und EZB: Jährliche Lebensmittelinflation bis zu 3,2 Prozentpunkte höher
Potsdam (pte013/22.03.2024/09:30) – Erhöhte Durchschnittstemperaturen könnten die jährliche Lebensmittelinflation um bis zu 3,2 Prozentpunkte pro Jahr und die Gesamtinflation um bis zu 1,18 Prozentpunkte pro Jahr bis 2035 ansteigen lassen. Dies zeigt eine neue Studie des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) und der Europäischen Zentralbank (EZB). Details sind in „Communications Earth & Environment“ publiziert.
Wirtschaftsfaktor Klimawandel
Der errechnete Effekt bleibt, so die Forscher, über zwölf Monate in reichen und armen Ländern gleichermaßen bestehen, was den Klimawandel zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor für die Preisstabilität macht.
„Anhand unserer Ergebnisse schätzen wir, dass der extreme Hitzesommer 2022 die Lebensmittelinflation in Europa um etwa 0,6 Prozentpunkte erhöht hat. Die für 2035 prognostizierte künftige Erwärmung würde die Auswirkungen solcher Extreme um 50 Prozent verstärken“, so PIK-Forscher Maximilian Kotz.
Hitze, starke Regenfälle und Co
Die Experten haben untersucht, wie sich Klimakennzahlen – wie hohe Temperaturen, extreme Regenfälle und Co – in historischen Daten auf die Inflation ausgewirkt haben. Die Studie zeigt, dass die Inflation nicht linear auf den Anstieg der monatlichen Durchschnittstemperatur reagiert.
Den Autoren zufolge steigt die Inflation, wenn die Temperaturen steigen, und zwar am stärksten im Sommer und in heißen Regionen in niedrigeren Breitengraden, zum Beispiel im globalen Süden. (Ende)
Deutschland: schwache Nachfrage : Preise für Wohnimmobilien sinken so stark wie seit 2000 nicht mehr (Inkl. Schaubild)
Höhere Bauzinsen, hohe Inflation: Die Preise für Häuser und Wohnungen sind so stark gefallen wie seit Beginn des Jahrtausends nicht mehr. Und das nicht nur auf dem Land.
Die Preise für Wohnimmobilien in Deutschland sind im vergangenen Jahr wegen der schwachen Nachfrage als Folge hoher Bauzinsen in Rekordtempo gefallen. Sie gaben um durchschnittlich 8,4 Prozent im Vergleich zu 2022 nach, wie das Statistische Bundesamt am Freitag mitteilte. Das ist der stärkste Rückgang seit Beginn der Zeitreihe im Jahr 2000 und zugleich der erste seit dem Jahr 2007. „Von 2008 bis 2022 waren die Wohnimmobilienpreise im Jahresdurchschnitt kontinuierlich gestiegen“, hieß es dazu.
Wegen der Zinserhöhungen der Europäischen Zentralbank (EZB) im Kampf gegen die hohe Inflation sind Baukredite deutlich teurer geworden. „Der Preisrückgang ist nicht Ausdruck eines Überangebots, sondern allein Ausdruck der verschlechterten Erschwinglichkeit“, sagt LBBW-Ökonom Martin Güth. Auch im laufenden Jahr 2024 dürften die Preise von ihrem hohen Niveau aus noch etwas sinken. „Der allergrößte Teil des Rückgangs liegt aber hinter uns“, sagt Güth voraus.
Zuletzt verlangsamte sich der Rückgang schon leicht: Im vierten Quartal fielen die Preise um 7,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, nach minus 10,1 Prozent im dritten Vierteljahr und minus 9,6 Prozent im zweiten Quartal. Vom dritten auf das vierte Quartal gaben die Preise um 2,0 Prozent nach. Dabei sanken sie für Bestandsimmobilien um 2,1 Prozent, für Neubauten um 1,0 Prozent.
Sowohl in den Städten als auch in den ländlichen Regionen wurden Immobilien von Oktober bis Dezember billiger. In den Top-7-Metropolen (Berlin, Hamburg, München, Köln, Frankfurt/Main, Stuttgart und Düsseldorf) gaben die Preise für Ein- und Zweifamilienhäuser um 9,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal nach. Für Eigentumswohnungen mussten 5,8 Prozent weniger gezahlt werden. In dünn besiedelten ländlichen Kreisen waren Ein- und Zweifamilienhäuser um 6,9 Prozent günstiger zu haben, Wohnungen wurden 2,8 Prozent günstiger.
Die Immobilienpreise insgesamt werden Fachleuten zufolge auch in diesem Jahr sinken, wenn auch nicht mehr so stark. Sie dürften um durchschnittlich 1,7 Prozent fallen, ergab eine Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters unter 14 Immobilienanalysten. Für 2025 wird ein Anstieg von 3,0 Prozent erwartet.
„Generell erwarten wir eine längere Phase der Bodenbildung“, sagte ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski. „Die angespannte Situation im Bausektor mit nach wie vor hohen Lohn- und Materialkosten dürfte zu einer Verknappung des Angebots führen, was einen Aufwärtsdruck auf die Preise ausüben dürfte.“ Quelle: Reuters
Österreich: „Güterverkehr auf der Donau: Transportmenge 2023 auf historischem Tiefstand“
von Statistik Austria finden Sie als PDF
MEDIZIN
Entstellte Gesichter: Welche Folgen der Konsum von Kokain haben kann
Wer regelmäßig Kokain schnupft, riskiert ernsthafte Konsequenzen für die Gesundheit. Ärzte berichten von ansteigenden Nasenoperationen.
Der Handel mit Kokain ist nicht nur strafbar, der Konsum kann die Gesichter der Konsumenten deformieren. In Belgien unterziehen sich immer mehr betroffene Menschen einer Nasenoperation.
Dr. Sophie Tombu, die als HNO-Ärztin am CHU Lüttich arbeitet, erklärt, dass sowohl die Schleimhaut als auch der Knorpel zerstört wird, betroffen seien die Nasenscheidewand sowie die inneren Strukturen. Dieser Knorpelschaden führe dann zu einem Zusammenbruch der Nasenpyramide.
Durch das Schnupfen von Kokain verengen sich mit der Zeit die Gefäße, das Blut gelangt nicht mehr in die Nase, wodurch das Gewebe mit der Zeit abstirbt. Nach Ansicht von Ärzten nehmen diese Entstellungen immer weiter zu.“Es handelt sich um relativ junge Patienten, Anfang 40, manchmal auch ein bisschen älter“, sagt Philippe Lefèbvre, Leiter der HNO-Abteilung im CHU Lüttich. „Sie sind zum Beispiel Manager, Lehrer oder Bankangestellte, sie haben einen sehr privilegierten, sozioökonomischen Hintergrund.“n Belgien werden fast täglich Drogen und Bargeld beschlagnahmt. Nach Angaben der Brüsseler Polizei waren im vergangenen Jahr 45 Prozent der Straftaten Drogendelikte.
Fettleber wird medikamentös behandelbar
Erstmals gibt es Hoffnung auf eine wirksame medikamentöse Behandlung der chronischen Fettlebererkrankung (MASH). Sie ist eine der häufigsten Ursachen für Leberzirrhose und Leberkarzinome. In den USA wurde vor kurzem mit Resmetirom das erste Arzneimittel mit durch klinische Studien belegtem positiven Effekt zugelassen. Weitere ähnliche Medikamente dürften folgen.
MASH (ehemals NASH – nichtalkoholische Steatohepatitis) ist eine chronische und fortschreitende Lebererkrankung. Man schätzt, dass derzeit weltweit rund 115 Millionen Menschen betroffen sind. Im Prinzip handelt es sich um eine fortschreitende Leberverfettung mit Vernarbung (Fibrose). Bei einem Teil der Betroffenen geht dies in schließlich in ein Leberversagen (Zirrhose) über. Solche Erkrankungen sind auch bei Menschen mit chronisch hohem Alkoholkonsum häufig, bei MASH fehlt aber der Alkohol als Ursache.
Voraussetzungen für MASH
Oft sind Adipositas und Diabetes die Voraussetzungen für das Entstehen der Erkrankung. MASH ist aber auch eng mit Herz-Kreislauf-, Nieren- oder Stoffwechselerkrankungen verbunden. Man schätzt, dass ein Drittel der Menschen, die adipös sind, auch MASH haben. In den USA machen solche Patienten bereits knapp 20 Prozent der Kranken aus, die eine Lebertransplantation benötigen. Der Anteil der Personen, die in den westlichen Industriestaaten deshalb für eine Transplantation infrage kommen, steigt derzeit stark an.
Bis vor kurzem existierte kein zugelassenes Arzneimittel zur Behandlung der Erkrankung. Das änderte sich Mitte März, als die US-Arzneimittelbehörde mit Resmetirom ein solches Medikament in Verbindung mit Diätmaßnahmen und Fitness-Trainingsprogrammen freigab. Bei dem Wirkstoff handelt es sich um eine Substanz, welche auf die Beta-Rezeptoren für das Schilddrüsenhormon (THR-Beta-Agonist; Anm.) wirkt.
Am 8. Februar ist die für die Zulassung des Medikaments entscheidende Studie im „New England Journal of Medicine“ erschienen (DOI: 10.1056/NEJMoa2309000) . Insgesamt 966 Patienten mit der chronischen Lebererkrankung waren entweder mit zwei unterschiedlichen Dosierungen des Arzneimittels behandelt worden oder hatten ein Placebo erhalten. Fazit: Bei rund einem Viertel jener Probanden, welche das Mittel in der niedrigeren Dosis (täglich 80 Milligramm) eingenommen hatten, verschwand die Fettlebererkrankung. In der höheren Dosis war das bei knapp 30 Prozent der Fall (Placebo: 9,7 Prozent). Bei einem weiteren Viertel der Behandelten stellte sich eine Verbesserung der Lebervernarbung um zumindest eine Stufe ein, in der Placebogruppe war das bei rund 14 Prozent der Fall.
„Bisher wurde jemand mit Adipositas und Diabetes vom Arzt über Diät und Lebensstil beraten, aber es kam zu keinen Schritten bezüglich MASH, weil es nichts zur Behandlung gab“, zitierte der US-Arzneimittel-Informationsdienst BioSpace Rohan Palekar, den Geschäftsführer des US-Biotech-Unternehmens 89Bio, das gerade eine groß angelegte Wirksamkeitsstudie mit einem anderen möglichen MASH-Medikament (Pegozafermin) gestartet hat. Es werde auf diesem Gebiet durch zahlreiche Therapieentwicklungen zu einem Umbruch kommen. Allerdings, in den USA dürften Jahres-Therapiekosten mit Resmetirom zwischen umgerechnet 30.000 bis 40.000 Euro liegen.
Boehringer Ingelheim setzt auf Survodutid
In Europa ist offenbar der deutsche Pharmakonzern Boehringer Ingelheim mit seinem Wirkstoff Survodutid am weitesten in der Entwicklung solcher Therapien. Es handelt sich dabei um einen sogenannten Glukagon/GLP-1-Rezeptor-Agonisten – ganz ähnlich wie die in der jüngeren Vergangenheit weltweit so bekannt gewordenen Antidiabetika und neuen „Abnehmmedikamente“ („Wegovy“ etc.).
Der deutsche Konzern entwickelt das Medikament in Kooperation mit Zealand Pharma (Dänemark). Vor kurzem wurden die wichtigsten Ergebnisse einer klinischen Studie der Phase II (Dosisfindung) mit 295 Probanden veröffentlicht. Dabei wurden die Teilnehmer einmal wöchentlich mit drei unterschiedlichen Dosierungen des Arzneimittel behandelt oder bekamen ein Placebo. Das Mittel muss einmal wöchentlich unter die Haut injiziert werden.
Laut den ersten Resultaten wurde bei bis zu 83 Prozent der mit Survodutid behandelten Erwachsenen eine statistisch signifikante Verbesserung des MASH-Status erzielt. In der Placebogruppe war das nur bei 18,2 Prozent der Studienteilnehmer der Fall.
Damit könnte Survodutid laut dem Pharmakonzern das Potenzial haben, zu einer „Best-in-Class-Behandlung für MASH“ zu werden. Weltweit könnten derzeit schon rund eine Milliarde Menschen mit Herz-Kreislauf-, Nieren- und Stoffwechselerkrankungen konfrontiert sein, die damit in Verbindung stehen.
„Fliegende Mücken“ sind lästig, tun aber der Sehschärfe keinen Abbruch
Etwa 80 Prozent der Bevölkerung kennen sie: „fliegende Mücken“ beim Sehen. Gemeint sind damit kleine bewegliche Punkte oder Flusen im Sichtfeld, die Betroffene in Folge von Glaskörpertrübungen wahrnehmen. Die Stiftung Auge erklärt, wann eine ärztliche Abklärung notwendig ist und was im Falle starker Beschwerden helfen kann.
Der Glaskörper befindet sich im Auge zwischen der Linse und der Netzhaut. Dort nimmt er mit seiner geleeartigen Substanz etwa zwei Drittel des Augeninneren ein.
Diese besteht zu einem Großteil aus Wasser, aber auch aus kleinen Anteilen Hyaluronsäure und Kollagenfasern. Im Laufe des Lebens verflüssigt sich der Glaskörper zunehmend, mit der Folge, dass dabei Gewebsverdichtungen entstehen können. Diese bewegen sich in der Glaskörperflüssigkeit, was Betroffene häufig als kleine schwarze Punkte – oder „fliegende Mücken“ wahrnehmen.
„Bei der Glaskörpertrübung handelt es sich um eine weit verbreitete Alterserscheinung, die zwar etwas lästig sein kann, jedoch in der Regel harmlos ist“, erklärt Professor Frank Holz, Vorsitzender der Stiftung Auge und Direktor der Augenklinik an der Universität Bonn. Etwa 80 Prozent der Bevölkerung sind betroffen.
Bemerkbar bei heller Oberfläche
Glaskörpertrübungen werden oftmals nur vorübergehend wahrgenommen. Bemerkbar machen sie sich zum Beispiel besonders beim Blick auf eine weiße Wand oder helle Oberfläche. Wird der Augapfel bewegt, wandern vorhandene Gewebsverdichtungen mit – was als störend empfunden werden kann. Einen Einfluss auf die Sehschärfe haben sie meist nicht. „Glücklicherweise stellt sich oftmals ein Gewöhnungseffekt ein. Unser Gehirn ist also in der Lage, mögliche Trübungen mit der Zeit auszublenden“, so der Experte.
Spezielle Behandlungen sind in der Regel nicht notwendig. In seltenen Fällen – wenn sehr starke Beschwerden vorliegen – können operative Maßnahmen helfen. Dabei entfernt der Operateur den Glaskörper inklusive vorhandener Trübungen und ersetzt ihn durch Flüssigkeit. Je nach Art und Lokalisation der Trübungen kommt auch ein innovatives Laser-Verfahren zur Behandlung in Frage.
„Ob diese Behandlung sinnvoll ist, entscheiden Arzt und Patient bei einer augenärztlichen Untersuchung gemeinsam“, so Holz.
„Auch beim erstmaligen Auftreten der fliegenden Mücken ist es sinnvoll, andere Ursachen durch einen Augenarzt ausschließen zu lassen. So können wir mögliche Erkrankungen frühzeitig erkennen“, empfiehlt Professor Gerd Geerling, Direktor der Universitäts-Augenklinik Düsseldorf. Insbesondere plötzlich auftretende Beschwerden oder Verschlechterungen seien ernst zu nehmen.
So kann beispielsweise das zusätzliche Auftreten von Lichtblitzen ein frühes Warnzeichen einer Netzhautablösung sein. „Die Gefahr einer Netzhautablösung oder anderen Augenerkrankung lässt sich heutzutage sehr gut und zügig behandeln – wichtig ist in jedem Fall der rechtzeitige Gang zum Augenarzt“, ergänzt der Experte.
Glioblastom: CAR-T-Zellen mit TEAM-Antikörper erzielen innerhalb weniger Tage eine Remission
Boston – Ein neuer Therapieansatz, der die CAR-T-Zelltherapie mit einem bispezifischen Antikörper kombiniert, hat in einer Phase-1-Studie gleich bei den ersten 3 Patienten innerhalb weniger Tage eine Remission erzielt, die bei einem Patienten mindestens 6 Monate anhielt. Ergebnisse wurden im New England Journal of Medicine (2024; DOI: 10.1056/NEJMoa2314390 ) publiziert.
Das Glioblastom ist ein aggressiver Hirntumor, der sich durch die heutige Standardtherapie aus Resektion und anschließender Radiochemotherapie in der Regel nur über wenige Monate kontrollieren lässt.
Zu den neuen Therapieansätzen gehört eine CAR-T-Zelltherapie. Diese Variante der Immuntherapie, die den Tumor mit gentechnisch aufgerüsteten Leukozyten angreift, wird bei Leukämien und Lymphomen bereits erfolgreich eingesetzt. Bei soliden Tumoren waren die Therapieergebnisse bisher bescheiden.
Dies liegt zum einen daran, dass die T-Zellen aktiv in die Tumore eindringen müssen, um alle Krebszellen zu erreichen. Zum anderen gibt es anders als bei Lymphomen und Leukämien bei soliden Tumoren selten universelle Antigene, die von allen Krebszellen gebildet werden. Die Antigene sollten zudem nicht auf gesunden Zellen vorhanden sein, um schwere Autoimmunreaktionen zu vermeiden.
Auch am Massachusetts General Hospital in Boston verliefen die ersten Versuche einer CAR-T-Zelltherapie des Glioblastoms erfolglos. Das Team um Marcella Maus hatte die aus dem Blut per Leukapherese gewonnenen T-Zellen mit einem chimären Antigen-Rezeptor (CAR) ausgerüstet, der die Variante III des Rezeptors für den epidermalen Wachstumsfaktor (EGFR) ins Visier nahm. EGFRvIII ist eine häufige Mutation beim Glioblastom, die sich vom Wildtyp so weit unterscheidet, dass kein Angriff auf normale Zellen zu befürchten war.
Die Behandlungsversuche mit den „CAR-EGFRvIII“-T-Zellen blieben jedoch erfolglos, da einige Tumorzellen auch den nicht mutierten Wildtyp von EGFR bildeten. Diese Zellen wurden zum Ausgangspunkt für ein erneutes Tumorwachstum.
Zellen mit dem EGFR-Wildtyp lassen sich nicht gefahrlos mit CAR-T-Zellen angreifen, da der EGFR-Wildtyp auch auf gesunden Zellen vorhanden ist. Die US-Forscher wählten deshalb einen anderen Ansatz. Sie statteten ihre „CAR-EGFRvIII“-T-Zellen zusätzlich mit dem Gen für ein „T-cell engaging antibody molecule“ (TEAM) aus. Es handelt sich um einen bispezifischen Antikörper.
Er bindet auf der einen Seite an dem Wildtyp des EGFR (E) und auf der anderen Seite an den T-Lymphozyten. Die Hoffnung war, dass der Angriff der „CARv3-TEAM-E“-T-Zellen auf den Tumor beschränkt bleibt, in den die neuen CAR-T-Zellen durch die EGFRvIII-Antigene gelockt wurden.
Nach den jetzt vorgestellten Ergebnissen hat das Konzept gleich bei den ersten 3 Patienten funktioniert. Bei einem 74-jährigen Mann kam es nach einer einzigen Infusion der „CARv3-TEAM-E“-Zellen, die über einen Katheter intrathekal in einen Hirnventrikel erfolgte, zu einer raschen Remission. Bereits am ersten Tag nach der Behandlung war in der Magnetresonanztomografie (MRT) eine deutliche Verkleinerung des Tumors erkennbar.
Sie hielt allerdings nur wenige Wochen an, weshalb die Onkologen sich am Tag 37 für eine zweite intrathekale Infusion der „CARv3-TEAM-E“-Zellen entschieden. Es kam erneut zu einer Remission. Sie war allerdings ebenfalls nur von kurzer Dauer. Am Tage 72 wurde durch eine Hirnbiopsie ein erneutes Krebswachstum bestätigt.
Die beiden zwischenzeitlichen Remissionen hatten bei dem Patienten zu einem Rückgang von EGFRvIII- und EGFR-Genen in Blut und Liquor geführt. Diese „Liquid“-Biopsien bestätigten damit, dass die „CARv3-TEAM-E“-T-Zellen den Tumor zwischenzeitig weitgehend beseitigt hatten.
Bei dem zweiten Patienten, einem 72-jährigen Mann, wurde mit einer einzigen intrathekalen Infusion der „CARv3-TEAM-E“-T-Zellen eine Remission erzielt, die zum Zeitpunkt der Manuskripterstellung nach 150 Tagen noch anhielt. Auch hier wurde im MRT am zweiten Tag nach der Infusion ein Rückgang des Tumors um 18,5 % beobachtet, die sich am Tag 69 auf 60,7 % verstärkt hatte.
Bei der dritten Patientin, einer 57-jährigen Frau, war der Tumor bereits bei der ersten MRT-Kontrolle nach fünf Tagen fast vollständig verschwunden. Die Patientin erlitt allerdings bereits nach einem Monat ein Rezidiv.
Die Behandlung hat sich als einigermaßen verträglich erwiesen. Das erwartete Zytokinfreisetzungssyndrom ging mit Fieber einher, das laut Maus jedoch erfolgreich mit dem Interleukin-1-Antagonisten Anakinra behandelt werden konnte.
Die raschen Rezidive könnten auf die relativ kurze Überlebenszeit der „CARv3-TEAM-E“-T-Zellen im Körper der Patienten zurückzuführen sein. Die Konzentration hatte ihr Maximum im peripheren Blut bereits nach 21 Tagen erreicht.
Forscher der University of Pennsylvania School of Medicine in Philadelphia, wo die CAR-T-Zelltherapie erfunden wurde, waren in einer Phase-1-Studie weniger erfolgreich. Die Gruppe um Donald O’Rourke vom Abramson Cancer Center hatte ihre CAR-T-Zellen auf 2 Ziele ausgerichtet. Dies war neben dem EGFR der Interleukin-13-Rezeptor Alpha 2.
Die bivalente CAR-T-Zelltherapie erzielte zwar bei den ersten 6 Patienten einer Phase-1-Studie ebenfalls eine rasche Verkleinerung der Tumore, die allerdings bei keinem Patienten die Grenze von 50 % über mindestens 4 Wochen erreichte, die für eine objektive Tumorantwort gefordert wird.
Bei allen 6 Patienten kam es nach den in Nature Medicine (2024; DOI 10.1038/s41591-024-02893-z ) publizierten Ergebnissen zu einem Immuneffektorzell-assoziierten Neurotoxizitätssyndrom (ICANS), das hochdosiert mit Dexamethason und Anakinra behandelt werden musste. © rme/aerzteblatt.de
PSYCHOLOGIE
Mitgefühl entsteht im Laufe des zweiten Lebensjahres
Bereits mit 18 Monaten zeigen Kinder Mitgefühl für andere. In diesem Alter ließen sie in einer Studie der Ludwig-Maximilians-Universität München durch ihre Mimik oder durch Äußerungen erkennen, dass sie vom Leiden eines anderen Menschen berührt werden, wie aus einer Mitteilung der Hochschule hervorgeht. Wie empathisch Kinder reagieren, hängt demnach aber von der Feinfühligkeit ihrer Bezugspersonen ab.
Je feinfühliger die Mütter in der Studie auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingingen, desto besser waren die Kinder schon im zweiten Lebensjahr in der Lage, mit Fremden Mitgefühl zu zeigen. Mitgefühl wird also sozial erworben. Um Mitgefühl zu erfahren, muss ein Kind den Forschenden zufolge zwischen seinem Selbst und einem anderen Menschen unterscheiden können. Diese Fähigkeit entsteht erst im Laufe des zweiten Lebensjahres. Sie lässt sich zum Beispiel auch daran beobachten, dass Kinder sich im Spiegel erkennen.
Für die Studie beobachtete ein Team von Forschenden 127 Mutter-Kind-Paare über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren bei Verhaltensexperimenten. Zu vier unterschiedlichen Zeitpunkten wurden in spielerischen Situationen Zeichen des Mitgefühls der Kinder erfasst. Dabei beobachteten die Kinder, wie sich eine andere Person leicht anstieß und Schmerzen empfand. Verglichen wurde die Reaktion der Kleinen mit ihrem Verhalten, wenn sie sahen, wie eine andere Person lachte.
Entwicklungspsychologie: Mitgefühl entsteht im Laufe des zweiten Lebensjahrs
München (ots) – Bereits mit 18 Monaten zeigen Kinder Mitgefühl. In diesem Alter ließen Kinder im Rahmen einer LMU-Studie anhand ihrer Mimik oder Äußerungen erkennen, dass sie vom Leiden einer anderen Person berührt werden. Aus psychologischer Sicht ist das ein wichtiger Entwicklungsschritt. „Um Mitgefühl zu erfahren, muss das Kind zwischen dem Selbst und der anderen Person unterscheiden können“, sagt Markus Paulus, Inhaber des Lehrstuhls für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der LMU. Diese Selbstkonzeption entsteht im Laufe des zweiten Lebensjahres. Sie lässt sich zum Beispiel auch daran beobachten, dass Kinder sich im Spiegel erkennen.
- Bereits mit 18 Monaten zeigen Kinder Mitgefühl für andere.
- Wie empathisch Kinder reagieren, hängt von der Feinfühligkeit ihrer Bezugspersonen ab.
- Eine empirische Längsschnittstudie der LMU hat die Entstehung des Mitgefühls bei Kindern im Alter von 6, 10, 14 und 18 Monaten verfolgt.
Schon früh lassen sich Kleinkinder von den Gefühlen, etwa der Angst oder Trauer, anderer anstecken. Entwicklungspsychologisch ist diese emotionale Ansteckung ein erster Schritt hin zu Mitgefühl. „Bei Mitgefühl geht es darum, die Emotion auch regulieren zu können und nicht davon überwältigt zu werden“, erklärt Markus Paulus. Mitgefühl setzt neben der affektiven Resonanz also auch kognitives Erfassen und den Perspektivenwechsel zwischen dem Selbst und der anderen Person voraus.
Die Forschenden haben im Rahmen der Studie auch untersucht, welche Rolle das Verhalten der Bezugsperson für die Fähigkeit spielt, mit anderen mitzufühlen. Dabei zeigte sich, dass das Ausmaß der elterlichen Feinfühligkeit entscheidend ist: Je feinfühliger die Mütter auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingingen, desto besser waren die Kinder schon im zweiten Lebensjahr in der Lage, mit einer fremden Person Mitgefühl zu zeigen. Mitgefühl wird also sozial erworben. „Ein Kind könnte nicht überleben ohne feinfühlige Bezugspersonen, die mitfühlend handeln. Die Kinder lernen von ihnen, mit negativen Emotionen umzugehen. Dadurch sind sie in der Lage, das später selbst auch anzuwenden“, sagt Markus Paulus. Damit zeigt die Studie auch, dass Mitgefühl nicht angeboren ist, sondern sich im Kontext sozialer Interaktionen entwickelt.
Für die weitere Entwicklung des Kindes ist Mitgefühl entscheidend dafür, prosozial zu handeln. „Mitgefühl hilft uns, auf die Notlage anderer zu reagieren und adäquat damit umzugehen. Es ist eine Motivation, für andere zu handeln, sich für andere einzusetzen“, sagt Ko-Autorin Tamara Becher.
Für die Studie hat ein Team um Markus Paulus und Tamara Becher dieselben Kleinkinder im Alter von 6, 10, 14 und 18 Monaten mit ihren Müttern zu Verhaltensexperimenten an die LMU gebeten. Insgesamt wurden 127 Mutter-Kind-Paare über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren untersucht. Zu vier unterschiedlichen Zeitpunkten wurden in spielerischen Situationen Zeichen des Mitgefühls der Kinder erfasst. Dabei beobachteten die Kinder, wie sich eine andere Person leicht anstieß und den Schmerz zum Ausdruck brachte. Ihre Reaktion wurde zudem mit ihrem Verhalten verglichen, wenn sie sahen, wie eine andere Person lachte. Das erste Mal waren die Kinder sechs Monate alt, bei der letzten Messung 18 Monate.
Kontakt:
Professor Markus Paulus
Inhaber des Lehrstuhls für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie
LMU München
Tel: 089 / 2180 – 5150
E-Mail: Markus.paulus@psy.lmu.de
Publikation:
Markus Paulus et al.: When do children begin to care for others? In: Cognitive Development 2024
Rückfragen & Kontakt:
Claudia Russo
Leitung Kommunikation & Presse
Ludwig-Maximilians-Universität München
Leopoldstr. 3
80802 München
Phone: +49 (0) 89 2180-3423
E-Mail: presse@lmu.de
WISSENSCHAFT – TECHNIK
Wie ein Gen die Partnerwahl von Schmetterlingen steuert
Die direkte Verbindung zwischen einem Gen und der Präferenz bei der Partnerwahl von tropischen Schmetterlingen hat ein internationales Forscherteam erstmals nachgewiesen. Demnach ist ein Gen dafür verantwortlich, dass Männchen von zwei Arten der Gattung Heliconius Weibchen mit roten Mustern bevorzugen. Dieses Gen wurde bei der Kreuzung der beiden Arten weitergegeben, berichten die Biologen, darunter Markus Möst von der Universität Innsbruck, im Fachjournal „Science“.
Die Schmetterlinge der Heliconius-Gattung sind in tropischen und subtropischen Regionen der Neuen Welt verbreitet. Sie zeichnen sich durch leuchtende Farben und Muster auf den Flügeln aus. Damit signalisieren die Tagfalter Fressfeinden, dass sie ungenießbar sind, geben aber auch ein wichtiges Signal für die Partnerwahl.
Ein Team um Richard Merrill von der Universität München hat mit Kolleginnen und Kollegen aus Österreich, Kolumbien und Panama in Verhaltensexperimenten die Paarungspräferenzen von drei in Kolumbien vorkommenden Heliconius-Arten untersucht und die genetischen Grundlagen dafür analysiert: Zwei dieser Arten (H. melpomene und H. timareta) tragen ein leuchtend rotes Band auf dem Vorderflügel, während die dritte (H. cydno) ein weißes oder gelbes Band hat.
Genaustausch durch Kreuzung
Die Experimente zeigten, dass Männchen aller Arten jeweils gleich aussehende Partnerinnen bevorzugen. Männchen der beiden Arten mit rotem Band machten dabei keinen Unterschied zwischen roten Weibchen, paarten sich also auch über die Artgrenze hinweg. Den Wissenschafter zufolge können sich alle in der Studie untersuchten Arten kreuzen und fruchtbare Nachkommen hervorbringen.
Die Präferenz für rotbebänderte Weibchen ist bei H. melpomene und bei H. timareta mit einer Genregion verbunden, die beiden Arten gemeinsam ist. Konkret wird diese Präferenz durch das Gen „regucalcin 1“ gesteuert. Wird dieses ausgeschalten, beeinträchtigt dies das Balzverhaltenverhalten gegenüber Artgenossen. Es sei damit „zum ersten Mal gelungen, ein Gen zu identifizieren, das die visuelle Partnerwahl bei Tieren bestimmt und damit für die Bildung und Abgrenzung von Arten eine wichtige Rolle spielt“, erklärte Markus Möst vom in Mondsee (OÖ) angesiedelten Forschungsinstitut für Limnologie der Uni Innsbruck in einer Aussendung. Dem Fachjournal „Science“ war dies die Cover-Geschichte unter dem Titel „Looking for Love“ wert.
Irgendwann in der Vergangenheit wurde dieses Gen durch Kreuzung von H. melpomene an H. timareta weitergegeben, es hat also Artgrenzen überwunden. Damit haben die Forscher nachgewiesen, dass Hybridisierung, also die Fortpflanzung über Artgrenzen hinweg, bei der Evolution von Verhaltensweisen eine wichtige Rolle spielen kann. Durch das Gen wurde die Anziehungskraft von roten Weibchen und damit der Fortpflanzungserfolg von H. timareta erhöht.
Service: Internet: http://dx.doi.org/10.1126/science.adj9201
Roboter mit gesundem Menschenverstand – KI hilft ihm bei Aufgaben im Haushalt und dabei, Fehler selbstständig auszubügeln
Cambridge (pte015/26.03.2024/11:30) – Haushaltsroboter, die Getränke eingießen und Cornflakes oder Beeren fürs Frühstück in Schüsseln schütten, werden jetzt mit „gesundem Menschenverstand“ ausgestattet. Sie sollen kleine Fehler selbst bemerken und beheben, zum Beispiel Cornflakes einsammeln, die sie versehentlich verschüttet haben. Yanwei Wang, Doktorand am Institut für Elektrotechnik und Computerwissenschaften am Massachusetts Institute of Technology (MIT), ist es mit seinem Team gelungen, die Bewegungsdaten des Roboters mit generativer KI zu verbinden. Bekannt aus der Textgenerierungssoftware ChatGPT, wird generative KI nicht nur zum Texten und Recherchieren genutzt, sondern auch zur Bild- und Videoproduktion. Künftig soll sie also Robotern helfen, kleine Missgeschicke zu beheben.
Komplexe Aufgaben in Einzelschritte zerlegt
Der mit KI gekoppelte Roboter zerlegt seine Aufgaben im Haushalt in viele einzelne Schritte, die er nacheinander abarbeitet. Wenn bei einer Teilaufgabe etwas schief geht, muss er nicht von vorn anfangen. Er wiederholt stattdessen den letzten Schritt oder korrigiert das, was er in diesem Schritt falsch gemacht hat. „Lernen durch Nachahmen ist ein gängiger Ansatz, um Haushaltsroboter zu befähigen, ihre Aufgaben zu erfüllen“, sagt Wang. „Wenn ein Roboter jedoch blind die Bewegungsabläufe eines Menschen nachahmt, können sich winzige Fehler einschleichen und schließlich den Rest der Arbeit zum Scheitern bringen. Mit unserer Methode kann ein Roboter kleine Fehler selbst korrigieren und seine Aufgabe erfolgreich zu Ende bringen.“
Fließende Bewegungen sind eher menschlich
Die Forscher veranschaulichen ihren neuen Ansatz anhand einer einfachen Aufgabe: Murmeln aus einer Schüssel schöpfen und in eine andere schütten. Um diese Aufgabe zu bewältigen, würden Ingenieure normalerweise einen Roboter so programmieren, dass er beide Bewegungen fließend absolviert. Ein Mensch schafft das, ein Roboter eher selten. Im Grunde genommen ist es eine Reihe von Einzelbewegungen, die zum Ziel führen. Wenn ein Roboter bei einer dieser Teilaufgaben einen Fehler macht, kann er nur anhalten und von vorne beginnen, es sei denn, die Ingenieure würden jede Teilaufgabe explizit kennzeichnen und neue Demonstrationen für den Roboter programmieren oder sammeln, um ihn in die Lage zu versetzen, den Fehler selbst zu korrigieren.
„Das ist ein mühsamer Weg“, so Wang. Diese Aufgabe übernimmt jetzt generative KI. Sie sagt dem Roboter in natürlicher Sprache, was er als nächstes tun muss, etwa „zugreifen“, wenn er die Murmeln packen soll. Dieses Wort ist mit einer entsprechenden Bewegung der Roboterhand verbunden. Mutwillig störten die Forscher die Aktionen, so dass Murmeln danebenfielen. Die KI teilt ihm sodann mit, dass er die gerade absolvierte Teilaufgabe erneut angehen und die Murmel wieder einfangen sollte. (Ende)
UMWELT – TOURISMUS
Runde der Regionen: Experten diskutierten zum Thema „Ausverkauf der Heimat?“
Illegale Umwidmungen oder Grundstücksverkäufe an ausländische Investoren lassen die Wogen derzeit hochgehen. Doch wie können wir unseren Grund und Boden davor schützen? Eine hochkarätige Runde mit Expertinnen und Experten diskutierte am Donnerstag über dieses Thema, die auch live auf meinbezirk.at übertragen wurde.
ÖSTERREICH. Die RegionalMedien Austria veranstalteten eine Diskussionsrunde unter dem Titel „Ausverkauf der Heimat?“ mit Experten wie Martin Prunbauer (Präsident des Österreichischen Haus- und Grundbesitzerbunds), Cornelia Dlabaja (Soziologin und promovierte Kulturwissenschaftlerin, Stiftungsprofessorin für nachhaltige Stadt- und Tourismusentwicklung an der FH Wien der WKW) und Johannes Pressl (Gemeindebundpräsident).
Das umstrittene Six-Senses-Resort in Mittersill diente als Diskussionsanlass. Das Projekt, nahe eines Hochmoorgebiets gelegen, stieß auf Widerstand von Naturschützern, obwohl es als nachhaltig beworben wurde.
Die Teilnehmer betonten die Bedeutung einer ausgewogenen Raumordnung und Bürgerbeteiligung. Sie diskutierten auch den Umgang mit Massentourismus in Orten wie Hallstatt und die Herausforderungen für lokale Gemeinschaften.
Es wurde vorgeschlagen, die Gemeinden in Entscheidungsprozesse einzubeziehen und flexiblere Ansätze zur Bodennutzung zu fördern. Die Diskussion erstreckte sich auch auf mögliche Lösungen für Leerstände und die Kontrolle von Bodenumwidmungen.
Abschließend wurde die Bedeutung individueller Verantwortung und gemeinsamer Anstrengungen hervorgehoben, um einen nachhaltigen Umgang mit Boden und Ressourcen zu gewährleisten.
Vertragsraumordnung stärker anwenden
Für Prunbauer könne aus solchen Projekten, wie in Mittersill, ein finanzieller Gewinn und Arbeitplätze entstehen. Die Gemeinde könne einen Vorteil daraus ziehen. Bei jedem Großprojekt gebe es Sachverständige, die beigezogen werden, auch wenn der Bürgermeister letztendlich die Entscheidung trage, so Prunbauer.
Auch Pressl erinnerte daran, dass es bei solchen Projekten ziviltechnische Vorprüfungen über Fachleute gebe. Mit der Widmungsentscheidung werde grundgelegt, ob ein solches Projekt baubar sei, oder nicht. Der basisdemokratisch legitimierte Gemeinderat sollte künftig die Vertragsraumordnung künftig viel stärker anwenden. Den Gestaltungsspielraum müsse man aber in der Gemeinde belassen.
Dlabaja argumentierte, dass, wenn es zu Bürgerprotesten komme und die Frage des Naturschutzes im Raum stehe, man im Einzelfall genau abwiegen müsse. Weil viele Gemeinden neue Impulse brauchen, stelle sich aber die Frage, ob man Projekte dieser Art nicht prinzipiell anders konzipieren könne, indem man sie so aufsetze, dass nicht nur temporäre oder Ferienwohnungen bzw. touristische Wohnformen entstehen, sondern auch die Bewohnerinnen und Bewohner der Gemeinde daraus einen Vorteil ziehen können. Man müsse Nachhaltigkeit schaffen, indem man für die örtlichen Bewohnerinnen und Bewohner die lokale Ökonomie und Infrastruktur ankurbelt. Der Zusatznutzen: Man generiert durch Tourismusprojekte ein zusätzliches Publikum. Vor allem im urbanen Bereich sei diese Form als PPP-Projekte bekannt, also sogenannte Public-Private-Partnership-Modelle, mit Investitionen in größerer Größenordnung sowie Anreize für die lokale Bevölkerung.
Ganzheitlicher Ansatz gegen Massentourismus
Auf die Frage, wie man in Touristen-Hotspots, wo die Bevölkerung unter den Touristenströmen leiden, andererseits sie von ihnen leben und vom touristischen Infrastrukturangebot profitieren, diese Ströme besser lenken könnte – Beispiel Hallstadt – etwa durch Gebührenerhebung nach dem Vorbild Venedig, meinte Dlabaja, dass ein ganzheitlicher Ansatz wichtig sei. Dlabaja hat langjährige ethnologische Forschung in Venedig betrieben, um das Leben in der Stadt zu verstehen und mit lokalen Akteuren zusammengearbeitet, nun ist sie auch in Hallstatt aktiv. Dort sieht sie ähnliche Probleme, wie den Einfluss des Massentourismus auf die lokale Wirtschaft und die demografische Alterung. Sie betont, dass einfache Lösungen wie Gebühren oder Verkehrsregulierungen nicht ausreichen und ein ganzheitlicher Ansatz benötigt werde. Beide Städte haben sich von industriellen Standorten zu touristischen Zentren gewandelt, was zu Herausforderungen wie Wohnraummangel und dem Verlust lokaler Identität führt. Die Lösung erfordere eine Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteuren, einschließlich der Regierung, der Gemeinden und lokaler Unternehmen, um die ökonomische Diversifizierung und den Erhalt der Gemeinschaft zu fördern. Es sei wenig hilfreich, Schuld zuzuweisen, sondern ein kooperativer Ansatz sei notwendig, um nachhaltige Lösungen zu finden.
Mehr als nur Souvenirshops!
Pressl betonte ebenfalls die Notwendigkeit eines vielfältigen Maßnahmenmixes, um die Herausforderungen von Orten wie Hallstatt anzugehen. Er argumentierte, dass diese Orte grundlegende Entscheidungen über ihre Zukunft treffen müssen, insbesondere da die Überalterung dazu führe, dass junge Menschen sich nicht mehr für das Leben dort interessieren. Es gehe nicht nur um den Preis von Wohnungen, sondern auch um die Attraktivität des Lebens in einem stark frequentierten Tourismusgebiet. Pressl betonte die Spannung zwischen dem Wunsch nach wirtschaftlicher Entwicklung und dem Erhalt der lokalen Lebensqualität: „Die Frage ist, ob diese Orte zu lebendigen Gemeinden oder zu touristischen Attraktionen werden sollen.“ Der Gemeindebundpräsident hob die Bedeutung von lokalen Wirtschaftsstrukturen hervor, die mehr bieten als nur Souvenirshops, um die Bedürfnisse der Einheimischen zu erfüllen.
Kompentez der Gemeinden stärken
Jelenko nannte einen Fall in Salzburg, wo vor vor zwei Jahren der Bau zweier Chaletdörfer gestoppt wurde, weil die Gemeinden sich gegen die Tourismusprojekte entschieden haben – in St. Martin und in Mauterndorf. Sie stellte die Frage in den Raum, ob man lokale Gemeinschaften verpflichtend noch stärker in Entscheidungsprozesse über Grundstücksverkäufe oder große Bauprojekte einbinden sollte.
Prunbauer erklärte, dass Gemeinden begrenzte Einflussmöglichkeiten im Grundverkehr haben, da dieser frei sei. Er betonte jedoch die Bedeutung der Widmung als Instrument zur Steuerung der Entwicklung und forderte eine stärkere Beteiligung der Gemeinden in diesem Prozess. Er betonte die Rolle der demokratischen Wahl von Gemeinderäten und die Notwendigkeit, die Gestaltungskompetenz der Gemeinden zu stärken. Durch eine intensivere Diskussion und Beteiligung der Gemeinderäte könnten Gemeinden einen größeren Einfluss auf ihre Entwicklung haben. Er befürchtet, dass die Einbeziehung mehrerer Ebenen in Genehmigungsprozesse für Großprojekte zu langwierigen und komplizierten Verfahren führt. Dies könnte die Umsetzung von Großprojekten erschweren oder sogar verhindern. Prunbauer schlug vor, informelle Gespräche auf regionaler Ebene zu intensivieren, um gemeinsame Interessen zu identifizieren und sich auszutauschen. Die formelle Einführung einer weiteren Genehmigungsebene könnte jedoch die Prozesse weiter verkomplizieren.
Pressl betonte die Herausforderung, mit externen Interessen umzugehen, die oft in lokalen Projekten auftreten, und schlug vor, intensivere Diskussionen bereits in der Projektvorbereitung zu führen, um diesen Herausforderungen gerecht zu werden. „Trotzdem müssen die Grenzen akzeptiert werden, wenn die lokale Bevölkerung eine Entscheidung trifft und von außen Druck ausgeübt wird“. Er unterstrich auch die Bedeutung demokratischer Prozesse und Mehrheitsentscheidungen, während er die Verantwortung der Politik hervorhob und darauf bestand, dass politische Entscheidungen respektiert werden sollten.
Einbindung der Bevölkerung
Dlabaja glaubt, dass partizipative Planungsprozesse gut funktionieren können, aber nicht alle Gemeinden die Ressourcen dafür haben. „Es gibt Best-Practice-Beispiele wie den Verein „Landluft“, der Gemeinden professionell unterstützt.“ Die Einbindung der Bevölkerung von Anfang an reduziere späteren Widerstand gegen Projekte. In der Stadtplanung sei es oft wichtig, nicht ob, sondern wie etwas umgesetzt wird, um akzeptiert zu werden. „Gemeinsame Gestaltung hat eine lange Tradition, besonders in der Wiener Stadtplanung.“
Externe Interessen können lokale gefährden
Pressl betonte, dass die lokale Bevölkerung oft gut in partizipative Prozesse eingebunden sei. „Die eigentliche Herausforderung liegt jedoch oft bei externen Interessen, die demokratische Entscheidungsprozesse zu untergraben versuchen, obwohl diese auf Gemeindeebene gut funktionieren“, so Pressl. Es bestehe die Notwendigkeit, mit diesen externen Interessen umzugehen und angemessen darauf zu reagieren. Auf die Frage, um welche Prozesse es hier konkret gehe, sagte Pressl, dass man vor Jahren in Niederösterreich Bahnstrecken aufgelassen und daraus Radwege gemacht habe. Lokale Bevölkerungsgruppen, insbesondere in ländlichen Gebieten wie Ybbstal und teilweise im Waldviertel, seien bereit gewesen, lokale Entscheidungen zu treffen, wie beispielsweise die Wiedereröffnung von Zugverbindungen. Jedoch üben externe Initiativen, die von Städten wie Wien, Linz und Salzburg sowie aus dem Ausland kommen, einen enormen Druck auf lokale Entscheidungsträger aus, indem sie tausende Unterschriften sammeln. Dies verdeutliche eine Diskrepanz zwischen lokalen und externen Interessen, die sich auch in anderen lokalen Entscheidungsprozessen wie Widmungsverfahren zeige. Dieses Phänomen manifestiere sich zunehmend.
Raumordnungsgremien stärken
Thema Bodenversiegelung – derzeit werden elf Hektar am Tag versiegelt. Im Regierungsprogramm wurden 2,5 Hektar pro Tag festgelegt. Was bedeutet das für unseren Lebensraum? Nehmen wir uns damit unsere Lebensgrundlage weg?
Dlabaja stellte fest, dass Raumordnungsinstrumente wie die Österreichische Raumordnungskonferenz (ÖROK) aktuell nicht effektiv funktionieren, verglichen mit der Sozialpartnerschaft. Die Koordination zwischen Planern, Fachexperten, Interessensgruppen und politischen Akteuren scheine nicht zu gelingen. Angesichts des Klimawandels und des notwendigen Flächenverbrauchs sei eine gesetzliche Einigung erforderlich. Sie schlug vor, ein Leerstandsmanagement einzurichten, um ungenutzte Flächen besser zu nutzen und Arbeitsplätze zu schaffen. Die Zusammenarbeit zwischen Bund, Gemeinden und Raumordnungsinstitutionen müsse verbessert werden, da dies ökologisch problematisch sei.
Leerstand durch Zweitsohnsitze
Prunbauer kritisierte starre Grenzen in Bezug auf Flächenverbrauch und betonte, dass flexible Ansätze mit Anreizen und Know-how effektiver wären. Er stellte fest, dass die Definition von Leerstand schwierig sei und verschiedene Gründe haben kann, wie Umbauten, Verlassenschaftsverfahren oder geplante Nutzungsänderungen. Er argumentiert, dass die reine Meldung von Leerständen ungenau und dass die tatsächliche Definition von Leerstand schwer zu erfassen sei. Es gebe unterschiedliche Schätzungen von Leerstandsraten, jedoch keine klare Definition, was Leerstand ist und wie er bewertet werden soll.
Dlabaja stimmte zu, dass natürlicher Leerstand im Wohnbau normal sei, aber sprach über nicht natürlichen Leerstand in ländlichen und städtischen Gebieten. Sie erwähnte das Problem von Zweitwohnsitzen oder Investitionsobjekten, die selten genutzt werden und damit die lokale Gemeinschaft beeinträchtigen. Sie betonte auch die Möglichkeit, brachliegende urbane und rurale Flächen wiederzubeleben, wie alte Industriegebiete oder verlassene Arbeiterwohnungen, sowohl in Städten als auch in ländlichen Gebieten. Die Nutzung solcher Flächen könnte den Bedarf in der Gemeinschaft decken und die Infrastruktur wiederbeleben.
Jelenko wollte von Pressl auch noch wissen, warum man sich so dagegen wehre, die 2,5 Hektar-Grenze einzuhalten. Pressl: „Wir wehren uns nicht dagegen. Wir wollen nur praktikable Instrumente und eine absolute zweieinhalb Hektar Grenze ist kein praktikables Instrument.“ Der Bürgermeister argumentierte, dass starre Grenzen beim Flächenverbrauch nicht praktikabel und alternative Ansätze erforderlich seien, wie z.B. ein kommunaler Bodenschutzplan, der die Mobilisierung von Leerstand fördert und innere Verdichtungen unterstützt. Das Hauptziel sei es, lebendige Gemeinden zu schaffen, die aus Menschen bestehen, nicht nur aus Häusern. Die Diskussion sollte sich daher darauf konzentrieren, wie Boden effizient genutzt werden kann, und jeder Einzelne sollte dazu beitragen. Die Gemeinden fordern zur Beteiligung an der Diskussion über den Bodenschutzplan auf und haben eine E-Mail-Adresse für Vorschläge eingerichtet: boden@gemeinde.gv.at.
Prunbauer erwähnte, dass es verschiedene Gründe geben könne, warum Wohnungen oder Häuser zeitweise nicht vermietet werden, wie zum Beispiel Zweitwohnsitze oder persönliche Umstände. Vermieter tragen Kosten und Risiken, wenn sie ihre Immobilien nicht vermieten, und es sei daher zu einfach, dies pauschal zu kritisieren. Er betonte die Bedeutung individueller Entscheidungen und lehnte staatliche Vorgaben ab, wie und wo Menschen wohnen dürfen.
Leerstandsabgabe praktikabel?
Jelenko lenkte die Diskussion auf Mängel bei der Grundverkehrskommission, was mehrere Länder dazu veranlasste, strengere Regeln für Zweitwohnsitze einführen, weil da auch viel „Schindluder“ betrieben werde. Das gebe es ja schon länger, bemerkte Prunbauer. Die Diskussion über eine mögliche Leerstandsabgabe auf Bundesebene werde hingegen jetzt intensiv geführt. Bisher lag die Kompetenz dafür beim Bund, doch nun werde erwogen, sie den Ländern zu übertragen. Dies könnte zu höheren Abgaben führen, insbesondere für Zweitwohnungen. Es bestehen viele Gründe, warum Wohnungen leer stehen können, und eine solche Abgabe könnte zu zusätzlichen Belastungen für Immobilieneigentümer führen. Die Einführung einer solchen Steuer werde kontrovers diskutiert, da sie als Substanzsteuer betrachtet werde und die bereits bestehenden Belastungen im Immobilienbereich weiter erhöhen könnte.
Die Diskussion um Leerstandsabgaben werfe verschiedene Überlegungen auf, warf Pressl ein. Einerseits bestehe das Ziel darin, Immobilien zu mobilisieren und innerhalb bestehender Strukturen zu verdichten, um dem Flächenverbrauch entgegenzuwirken. Andererseits werde bezweifelt, ob eine Leerstandsabgabe tatsächlich wirksam wäre, insbesondere angesichts der anhaltenden Immobilienpreissteigerungen. Hinterfragt werde, ob die Abgabe hoch genug sein müsste, um Immobilieneigentümer dazu zu bewegen, ungenutzte Immobilien zu veräußern. Sonst könnte sie lediglich Unmut hervorrufen, ohne wirkliche Veränderungen herbeizuführen. Manche würden es sich zum Ziel setzen, Steuern zu sammeln, anstatt der Mobilisierung von Immobilien, machte Pressl auf die Gefahren aufmerksam.
Prunbauer verteidigte das Recht, die eigene Wohnung als Wochenendwohnung zu nutzen, wenn man sie rechtmäßig erworben hat. „Es sollte nicht Aufgabe des Staates sein, solche Details vorzuschreiben!“ Ein weiterer Aspekt, der oft übersehen wird, sei der Mieterleerstand, insbesondere in Städten wie Wien, wo Mieter günstige Wohnungen behalten, obwohl sie bereits anderswo leben. Die Kündigung solcher Wohnungen sei oft schwierig, da der Nachweis des tatsächlichen Wohnsitzes schwierig sei. Prunbauer: „Es gibt viele Grauzonen, wie zum Beispiel für Studenten im Ausland oder Personen, die temporär im Ausland arbeiten.“ Die Einführung einer Leerstandsabgabe berge viele ungelöste Fragen und könnte letztendlich nur dazu dienen, die Staatskassen zu füllen, ohne das eigentliche Problem anzugehen.
Für Pressl ist es wichtig, dass wir uns bewusst machen, wie unsere Entscheidungen das Bodenverhalten beeinflussen. Ein Beispiel aus der Praxis zeige, dass viele junge Menschen lieber unabhängig sein möchten, statt bei ihren Eltern zu leben. Pressl: „Wir müssen verstehen, dass viele Entscheidungen von emotionalen Motivationen geleitet sind, die nicht allein durch Geld oder Gesetze beeinflusst werden können.“ Entscheidend sei, eine Haltung zu entwickeln, die die Verantwortung für unsere Entscheidungen betont und Möglichkeiten schafft, die Eigenständigkeit junger Menschen zu fördern, ohne dabei das Bodenverbrauchsproblem zu verstärken. „Wir müssen Anreize schaffen, damit junge Menschen in bereits bestehenden Wohnungen einziehen und Verantwortung für das Eigentum übernehmen können, was letztlich eine Generationsverantwortung ist.“ Es sei wichtig, Mobilisierungsmaßnahmen zu ergreifen, um diese Ziele zu erreichen.
Dlabaja dazu: Es sei bekannt, dass Stadtteile und Einfamilienhäuser Lebenszyklen haben, die oft zu Überalterung führen. Wichtig sei, innovative Modelle zu entwickeln, wie die Nutzung von Einfamilienhäusern für mehrere Familien oder für touristische Zwecke. Die Zusammenarbeit zwischen lokalen Bewohnern und Zweitwohnsitzlern sei entscheidend für eine funktionierende Gemeinschaft. Strukturelle Fragen entstehen, wenn touristische Orte einen Großteil leerer Häuser haben, was eine Lösung erfordert, ohne in Eigentumsrechte einzugreifen. Regulative Maßnahmen und die Umsetzung seien entscheidend, um die Nutzung von Infrastruktur und die Einhaltung von Regeln zu gewährleisten, insbesondere im Zusammenhang mit Plattformen wie Airbnb.
Prunbauer teilte diese Meinung, wenn es auf freiwilliger Basis basiert, dass Menschen zusammenziehen, aber nicht, wenn das durch Zwangsmaßnahmen wie einer Abgabe passiere. Dlabaja warf ein, dass auch dann keine Verpflichtung entstehe, wenn es Förderungen gebe. Prunbauer will die Gemeinschaft stärker in den Fokus stellen, in der man lebe. Es sei unangemessen, ältere Menschen unter Druck zu setzen, aus ihren großen Häusern auszuziehen, nur weil ihre Kinder ausgezogen sind. Freiwilligkeit sei wichtig, Zwang aber nicht akzeptabel: „Solche Maßnahmen könnten die Scheidungsrate erhöhen und sind kein geeignetes Ziel.“ Es sollte stattdessen Anreize für freiwillige Umzüge geben.
In Österreich fehle es an flexiblen Mietanpassungen wie in Deutschland, ergänzte Prunbauer. Dadurch bleiben Mieter oft in zu großen Wohnungen, die finanziell attraktiv sind, selbst wenn sie nur einen kleinen Teil nutzen. Eine Lösung wäre, Mietpreise an die Wohnungsgröße anzupassen und Anreize für einen Umzug zu schaffen, aber das scheitert oft an bestehenden Altmietverträgen.
Umwidmungen stärker kontrollieren?
Jelenko brachte schließlich noch das Thema Umwidmungen durch Bürgermeisterinnen und Bürgermeister auf den Tisch und stellte die Frage in den Raum, wie man dem künftig Einhalt gebieten könne. Laut Pressl durchlaufen Umwidmungen eine Reihe von Entscheidungsschritten und werden transparent gemacht. Eine frühzeitige Offenlegung der Betroffenen sowie eine stärkere Berücksichtigung der Vertragsraumordnung seien wichtige Ansätze, um das Widmungssystem effizienter zu gestalten und Landnutzung zu optimieren. Die Diskussion über nicht konsumierte Widmungen und die Möglichkeit zur Rücknahme solcher Entscheidungen sei zwar komplex, erfordere aber dringend eine offene Debatte.
Prunbauer warf ein, dass die Offenlegung und mögliche Ausschlüsse von Personen bei Erwerben diskutiert werden können, jedoch sei der Sinn hinter solchen Maßnahmen entscheidend. „Bei Rückwidmungen von Grundstücken sehe ich nicht nur ein grundrechtliches Problem, sondern auch potenzielle Chancenausfallkosten für Gemeinden.“, so Prunbauer. Es entstehe auch ein Vertrauensschaden, wenn bereits getätigte Entscheidungen rückgängig gemacht werden, was auch zu rechtlichen Herausforderungen führen könne. Pressl wies darauf hin, dass man Umlegungen durchführen könne. „Es geht ja nicht darum, dass wir wem etwas wegnehmen“. Es gebe auch Widmungsbereiche, wo man in Wahrheit gar nicht glücklich ist, dort bauen zu sollen.
Auf die Schlussfrage, welche langfristigen politischen oder gesellschaftlichen Maßnahmen notwendig seien, um den Ausverkauf von Boden zu verhindern und die Kontrolle über unseren Grund und Boden längerfristig zu behalten, meinte Dlabaja, dass es eine Reihe von Maßnahmen brauche. Die Frage der Flächenwidmung liege auf Gemeindeebene, aber eine regionale Entwicklungsperspektive wäre wünschenswert, da Gemeindegrenzen oft die Widmungsgrenzen darstellen. Die Umsetzbarkeit und Praktikabilität dieser Idee müssten jedoch geprüft werden. Ein Regulativ sei notwendig, ebenso wie weitere Forschung und die Einbindung verschiedener Akteure auf regionaler Ebene. Bestehende Strukturen wie die Klarregionen könnten genutzt werden, jedoch bedarf es möglicherweise eines neuen Gremiums, um Maßnahmen festzulegen.
Prunbauer glaubt, dass, je mehr Anreize wir den Grundstücksbesitzern geben, an ihrem Eigentum festzuhalten, desto größer die Chance sei, dass sie es behalten wollen. Wenn wir die Möglichkeit zur Werterhaltung bieten, könnte dies den Verkauf reduzieren. „Unsere strengen Mietgesetze, von der OECD als europaweit führend eingestuft, unterstützen diese Tendenz zur Beibehaltung von Grundstücken“.
Pressl appellierte an alle, sich dessen bewusst zu sein, dass jede unserer Handlungen, sei es der Gang in den Kindergarten, die Wahl von Ökostrom oder andere Entscheidungen, den Bodenverbrauch beeinflussen: „Durch eine Stärkung der Verantwortung des Eigentums können wir den Generationsübergang erleichtern und unseren eigenen Beitrag zum Bodenerhalt oder -verbrauch besser verstehen. Ich lade zu weiteren Diskussionen ein und bin dankbar für diese Gelegenheit, unser Bewusstsein zu erweitern. Unsere Gemeinden handeln oft verantwortungsvoll, und ich bin überzeugt, dass wir gemeinsam bodensparende Maßnahmen umsetzen können.“
Buch- und Ausstellungstipp: Über Tourismus
von Ulrike Reisner
Das Architekturzentrum Wien widmet eine Ausstellung der Frage, welche Auswirkungen unsere Urlaubswünsche auf die gebaute Umwelt, das soziale Gefüge und den Klimawandel haben:
Wie können wir Tourismus in Zeiten von Klimakrise, Kriegen, drohenden weiteren Pandemien, Fachkräftemangel und einer anhaltenden Energiekrise neu denken und in nachhaltigere Bahnen lenken? Welche Rolle spielen dabei Raumplanung und Architektur? Die Ausstellung beleuchtet zentrale Aspekte des Tourismus wie Mobilität, Städtetourismus, Wechselwirkungen mit der Landwirtschaft, Klimawandel, die Privatisierung von Naturschönheit bis zum Wandel der Beherbergungstypologien und geht der Frage nach, ob und wie Tourismusentwicklung geplant wird. Vor allem aber sucht die Ausstellung nach Transformationspotential. Viele Reisende sehen sich selbst ungern als Teil des Phänomens Massentourismus, und Zweifel an der Klimaverträglichkeit unseres Reiseverhaltens werden immer lauter. (c) Architekturzentrum Wien
Die Ausstellung wird ab Herbst in der Kulturhauptstadt Salzkammergut zu sehen sein.
Zur Ausstellung ist das umfassende und reich bebilderte Buch „Über Tourismus“ mit Essays von Linda Boukhris, Ana Gago, Maria Kapeller, Helga Kromp-Kolb, Kurt Luger, Arno Ritter und Arthur Schindelegger im Verlag Park Books erschienen. Hier der Bestelllink
Das Architekturzentrum Wien veranstaltet im Rahmen diese Ausstellung „Über Tourismus“ die Talkshow-Reihe Club Architektur zum Thema Ferienimmobilien in Österreich, zu der wir Sie hiermit gerne einladen. Mit ihrer reichen Expertise in der Tourismusberatung, wären Sie eine ausgezeichnete Bereicherung für das Podium. Die Veranstaltung „Kalte Betten, heißes Geld –Tourismus vs. Wohnen auf dem Land“ findet am Mi 12.06. um 18:00 im Architekturzentrum Wien statt.
Inhalt der Veranstaltung
Chaletdörfer, Zweitwohnsitze, Ferienimmobilien als Investment. Der Verwertungsdruck auf ländliche Regionen steigt, die Aufmerksamkeit garantiert ebenso Rendite wie die Lage – Seegrundstück, unverbaubarer Fernblick. Auch die Hotellerie wendet sich Investorenprojekten zu, weil dort bessere Kredite geboten werden. Gleichzeitig ist in Orten wie Hallstatt leistbares Wohnen für die Einwohner*innen kaum noch verfügbar. Was bedeutet diese Touristifizierung der Bausubstanz für das Wohnen am Land und für die gewachsenen Dorfstrukturen, für die Landwirtschaft, für das soziale Gefüge? Wer profitiert und wer nicht, und wie werden diese Konflikte vor Ort ausgetragen? Welchen Einfluss hat die Vermarktung der geschönten Land-Idylle auf die Realität?
Als Gäste sind geladen:
Nora Zoglauer, ORF
Katrin Erben, Österreichwerbung Werbung
Martin Dämon, Bürger*innenliste Altaussee
Thomas Reisenzahn, Prodinger
Moderation: Maik Novotny, Architekturjournalist
INTERNET
US-Teens frönen unregulierter Web-Nutzung – Eltern fehlt es laut landesweiter Befragung an effektiven Strategien zur Eindämmung
Iowa City (pte023/26.03.2024/13:55) – Fast die Hälfte aller US-amerikanischen Eltern gibt an, die Internet- und Social-Media-Nutzung ihrer Teenager nicht zu überwachen oder einzuschränken, so eine nationale Umfrage unter Federführung von Rachel Young von der University of Iowa (UI). Die Professorin für Journalismus und Massenkommunikation hält es für sehr schwer, die Online-Nutzung von Jugendlichen zu regulieren. Die Forschungsergebnisse wurden jüngst in der Zeitschrift „Computers in Human Behavior“ veröffentlicht.
Eltern-Kind-Beziehung in Gefahr
„Als wir mit Eltern sprachen, lag es nicht daran, dass sie es nicht wollten oder oder nicht für wichtig hielten“, erklärt Young, „sondern weil es so unglaublich schwierig war, Strategien zu finden, die ihrer Meinung wirklich funktionieren und die sie durchhalten können.“ Erwachsene nutzen soziale Medien oft anders als Jugendliche. Laut Young kann es fatale Folgen haben, wenn ein Elternteil versucht, die Internetnutzung des Kindes einzuschränken. Eine solche Überwachung oder Einschränkung könnte die Beziehung zum Teenager bedrohen, so Young, denn die sozialen Medien seien extrem wichtig für die Jugendlichen – für Unterhaltung, Schule und auch andere Lebensbereiche.
Dabei würden die Mütter und Väter ihre Pflichten durchaus ernst nehmen. „Die Eltern, mit denen wir gesprochen haben, waren sehr engagiert im Gespräch mit ihren Kindern über das, was sie online erleben, und sorgten dafür, dass ihre Teenager sich wohl fühlten, wenn sie sich bei Problemen an sie wandten“, erklärt Young.
Tricksen beim Alter
Die Gesetzgeber des Bundesstaates Iowa erwägen aktuell aus Jugendschutzgünden einen Gesetzentwurf, wonach jeder unter 18 eine elterliche Erlaubnis benötigt, ehe ein Social-Media-Account genutzt werden darf. Young hält die Umsetzung des Vorhabens für problematisch: „Kinder sind oft sehr geschickt im Umgang mit der Technologie. Um ein Konto bei TikTok oder Instagram zu bekommen, wird bei der Anmeldung geprüft, wie alt man ist, aber wir haben festgestellt, dass Kinder oft sehr gut herausfinden, wie sie das umgehen“, sagt Young. „Das ist für sie keine große Herausforderung.“ Die Web-Abhängigkeit der Teens ist groß: Eine Umfrage des Pew Research Centers ergab kürzlich, dass 44 Prozent der US-Jugendlichen Angst bekommen, wenn sie ihr Handy nicht dabei haben, wie pressetext kürzlich berichtete. (Ende)
VERMÖGENSSTEUER – ERBSCHAFTSSTEUER – VERMÖGENSUMVERTEILUNG
KOMMENTAR: In Österreich wird es keine Vermögensteuer geben – Christoph Kerres, Die Presse, 26.3.2024
Weshalb sich zahlreiche Interessengruppen gegen die derzeit diskutierte Wiedereinführung der Vermögensteuer aussprechen.
Derzeit wird viel über die Wiedereinführung der Vermögensteuer diskutiert. Eine solche Vermögensabgabe benötigte vor deren Abschaffung 1993 einen hohen Verwaltungsaufwand und erzielte nur ein geringes Steueraufkommen. Eine ergiebige Vermögensteuer muss daher das gesamte Finanzvermögen und sämtliche Liegenschaften einbeziehen. Auch wenn politisch gewünscht, so sind Ausnahmen von der Besteuerung meist unzulässig, weshalb sich zahlreiche Interessengruppen gegen die Wiedereinführung der Vermögensteuer aussprechen.
Erträge aus Finanzvermögen werden in Österreich mit einer Kapitalertragssteuer in der Höhe von 27,5 Prozent besteuert, wovon Zinserträge, Dividenden und Wertsteigerungen umfasst sind. Mit der 1993 eingeführten Kapitalertragssteuer gelten sämtliche Steuern auf Finanzvermögen als abgegolten, also nicht nur die Einkommensteuer, sondern auch etwaige Vermögensteuern.
Die Kapitalertragsteuer wurde mit dem Endbesteuerungsgesetz eingeführt, das im Verfassungsrang steht. (BGBl 11/1993) Ein Abgehen von dieser Regelung bedarf daher im Nationalrat der Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten, was politisch schwer zu erreichen ist. Eine Vermögensteuer ohne Einbeziehung des Finanzvermögens lohnt sich aber kaum.
Großer Verwaltungsaufwand
Grund und Boden werden regelmäßig zum Einheitswert bewertet, der auch für die Bemessung einiger Steuern herangezogen wird. Der Einheitswert ist generell wesentlich niedriger als der tatsächliche Marktwert einer Liegenschaft und müsste daher aufwendig aktualisiert werden.
Der Verfassungsgerichtshof hob die früher gegoltene Erbschaftssteuer 2007 auch deshalb auf, da der Einheitswert als Steuerbasis zu unzulässigen Ungleichheiten führte. (VfGH 54/06) Bei der Neueinführung der Vermögensteuer müssten sämtliche Liegenschaften neu bewertet werden, was zu einem erheblichen Verwaltungsaufwand führt. Der Aufwand einer solchen Neubewertung steht volkswirtschaftlich in keiner Relation zu den zu erwartenden Einnahmen aus der Vermögensteuer.
Die Preise für landwirtschaftlich genutzte Flächen werden durch detaillierte Grundverkehrsgesetze künstlich niedrig gehalten und schützen unsere Bauern. Landwirte benötigen große Flächen, um ausreichend Ertrag erwirtschaften zu können. Eine Vermögensteuer unter Einbeziehung von Grund und Boden müsste aber jedenfalls auch die landwirtschaftlich genutzten Flächen mit einbeziehen, und zwar zu realen Marktwerten. Das würde die Landwirtschaft besonders hart treffen, die Bauern von der Vermögensteuer auszunehmen ist aber verfassungsrechtlich bedenklich.
Unternehmen halten oft erhebliche Sachwerte im Betriebsvermögen, das durch eine Vermögensteuer unabhängig vom Ertrag besteuert wird. Unternehmen mit großen Investitionswerten werden somit durch eine Vermögensteuer unverhältnismäßig belastet, was volkswirtschaftlich kontraproduktiv ist: Gerade hohe Investitionen in Industriebetriebe erhöhen das Bruttonationalprodukt überproportional gegenüber weniger kapitalintensiven Betrieben wie etwa dem Dienstleistungssektor. Eine statische Besteuerung von Anlagevermögen unabhängig vom daraus erwirtschafteten Ertrag ist volkswirtschaftlich nicht sinnvoll.
Bund, Länder und Gemeinden handeln teils in Erfüllung ihrer hoheitlichen Aufgaben, teils privatwirtschaftlich. Die Stadt Wien etwa betreibt unter der Wien Holding zahlreiche privatwirtschaftliche Unternehmen und stellt auch in großem Umfang Wohnraum zur Verfügung. Unternehmerische Tätigkeiten einer Gebietskörperschaft sind in steuerlicher Hinsicht mit der Privatwirtschaft gleichgestellt.
Keine Ausnahme für Wien
Die EU führt in einer Richtlinie (2006/112/EG) detailliert aus, welche Gebäude einer Gebietskörperschaft als hoheitlich genutzt gelten, also etwa amtliche Verwaltungsgebäude, Einrichtungen des Gesundheitswesens oder Bauten für den Bildungssektor.
Nach der EU-Richtlinie gelten Gebäude, die für soziale Zwecke verwendet werden, ausdrücklich nicht als hoheitlich genutzt, die Stadt Wien müsste daher für sämtliche Gemeindewohnungen auch Vermögensteuern abführen. Die Stadt Wien hält etwa 220.000 Gemeindewohnungen und besitzt weitläufige landwirtschaftlich genutzte Flächen in Niederösterreich und wäre daher von einer Vermögensteuer besonders betroffen. Eine Ausnahme der Stadt Wien von der Vermögensteuer ist aber nach den EU Vorgaben nicht zulässig.
Ähnlich den Gebietskörperschaften ist auch bei den Religionsgemeinschaften zwischen einer Vermögensnutzung zur Ausübung der Religion und einer privatwirtschaftlichen Nutzung zu unterscheiden. Die katholische Kirche ist nicht nur Eigentümer zahlreicher Kirchen und Klöster, sondern besitzt auch große forst- und landwirtschaftlich genutzte Liegenschaften, die auch einer Vermögensteuer unterliegen.
Der Fokus des Fiskus
Eine Vermögensteuer würde die katholische Kirche daher erheblich belasten und wohl auch gegen die Grundprinzipien des Konkordats verstoßen. Ausnahmen zur Vermögensteuer für Religionsgemeinschaften sind jedoch verfassungsrechtlich bedenklich.
Menschen in Österreich erwarten einen Anspruch aus der Pensionsversicherung oder sparen selbst für ihre Altersvorsorge. Steuerlich ist zwischen einem Pensionsvertrag und eigenständigem Sparen für die Altersvorsorge nicht zu unterscheiden. Wenn also Sparguthaben einer Vermögensteuer unterliegen, fallen auch Pensionsansprüche darunter. Nahezu jeder erwerbstätige Österreicher besitzt einen Pensionsanspruch, der entsprechend zu versteuern wäre. Und für einen künftigen Pensionsanspruch wäre bereits heute eine Vermögensteuer zu bezahlen.
Eine reine Substanzbesteuerung führt in wirtschaftlich unruhigen Zeiten zu Ungerechtigkeiten: Steigt die Inflation und erhöht die Zentralbank die Leitzinsen, so erhöht sich nominal auch der Ertrag des Finanzvermögens. Bei Zinserträgen von über vier Prozent wird ein Steuerschuldner wenig Probleme haben, eine Vermögensteuer von einem Prozent abzuführen. Bei niedrigen Zinsen aber kann auch eine geringe Vermögensteuer nicht aus dem Ertrag erwirtschaftet werden, und so muss jährlich ein Teil des Vermögens veräußert werden, was einer Enteignung gleichkommt. Deshalb konzentriert sich der Fiskus auf die Besteuerung der Kapitalerträge: Immerhin werden Erträge aus Finanzvermögen mit einer Kapitalertragsteuer mit fast einem Drittel besteuert.
Unzulässige Enteignung
Eine Vermögensteuer als direkter Eingriff in die Unverletzlichkeit des freien Eigentums birgt stets die Gefahr einer rechtlich unzulässigen Enteignung.
Die Einführung einer Vermögensteuer bleibt also komplex, und politisch gewollte Ausnahmen sind verfassungsrechtlich bedenklich.
In Deutschland wurden die Bestimmungen zu den Erbschafts– und Vermögensteuern in den letzten Jahren dreimal vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben.
In Österreich wird es keine Vermögensteuer geben.
DER AUTOR: Dr. Christoph Kerres (*1959) ist Rechtsanwalt in Wien und Attorney at Law in New York. Berater von Familien und Unternehmen insbesondere im Bereich Privatstiftungen, Unternehmensrecht und Erbrecht. Autor zahlreicher juristischer Artikel.
KOMMENTAR: Die unsäglichen Leiden der reichen Erben – Joseph Urschitz, Die Presse, 26.3.2024 (ZAHLPFLICHT)
Das Steuersystem gehört umgebaut. Sprechblasen-Aktivismus hilft dabei nicht.
Wie man vielleicht ahnt, bin ich kein ausgewiesener Freund der Einführung von Vermögen- und Erbschaftssteuern.
- Erstens, weil solche Substanzsteuern Betriebsübergaben zur finanziellen Herausforderung machen können und deshalb ziemliche Wirtschaftsbremsen sind, vor allem für den Mittelstand.
- Zweitens, weil sie schwerpunktmäßig eben den Mittelstand treffen, während wirklich Reiche durch zahlreiche Schlupflöcher – etwa geschickte Stiftungslösungen – entwischen können.
- Und drittens, weil Österreich schon jetzt zu den Höchststeuerländern gehört und niemand, wirklich niemand von den Substanzsteuerverfechtern die Entlastung der viel zu hohen Steuern auf Arbeit im Gegenzug im Plan hat. Auch wenn das manchmal in Sonntagsreden geheuchelt wird.
Es wird also in solchen Fällen entweder zu einer weiteren unverhältnismäßigen Belastung vor allem des Mittelstands kommen. Oder, wenn dieser durch Ausnahmen etwa für selbst bewohnte Immobilien, Betriebsübergaben etc. verschont wird, keinen nennenswerten Ertrag bringen. Wozu also der ganze Zinnober? …
KOMMENTAR: Frau Engelhorns Millionendilemma
Die Liste der Aufgaben, die mithilfe von privaten Vermögen wesentlich vorangebracht werden könnten, ist lang.
Marlene Engelhorn hat ein 25-Millionen-Euro-Problem. Wie alle Welt von Wien über Paris und Madrid bis New York inzwischen weiß, hat sie dieses Problem an einen Bürgerrat von 50 handverlesenen Österreicherinnen und Österreichern delegiert. Diese Menschen sollen ihr sagen, was Engelhorn selbst nicht sagen will: Welchem guten Zweck das Geld zugeführt werden könnte.
Selbstverständlich kann Frau Engelhorn über ihr Vermögen nach Gutdünken verfügen. Es ist respektabel, für eine Erbschaftssteuer einzutreten, wenn man selbst davon betroffen wäre. Jedoch bleiben selbst in den wenigen Ländern mit sehr hohen Erbschaftssteuern (der OECD-Schnitt ist 15 Prozent, Frankreich hat mit 45 Prozent den höchsten Satz in Europa) sehr hohe Vermögen bei Erben.
Keine Erbschaftssteuer, die nicht eine Beschlagnahmung des Vermögens wäre, würde darum Frau Engelhorns Dilemma lösen: Was ist ihre persönliche Verantwortung für den Reichtum? Diese – ethische, nicht gesetzliche – Entscheidung kann den Reichen niemand abnehmen, auch kein „guter Rat für Rückverteilung“.
Dabei ist dies ein Dilemma, das viele Menschen gern hätten. Denkt man den steuerlichen Ansatz zu Ende, läge alle Verantwortung für die Entwicklung unserer Gesellschaft beim Staat. Reiche Erben müssten sich nicht den Kopf über ihre soziale Verantwortung aufgrund des verbleibenden Vermögens zerbrechen.
Kriminalisierte Spender
Das Konzept der Zivilgesellschaft, das sich in den letzten Jahrzehnten etablierte, würde damit jedoch geschwächt, weil dieses private Vermögen für eine mögliche Finanzierung ausfällt. Die Zivilgesellschaft übernimmt es, für gesellschaftliche Aufgaben einzutreten, die von Staaten ignoriert und vernachlässigt, manchmal sogar bekämpft werden. Natürlich ist deren Basis das Engagement zahlreicher Menschen, auch vieler kleiner Spender. Aber Geld hilft allemal bei der Erreichung von Zielen.
Die Malariabekämpfung, von der Staatengemeinschaft grob vernachlässigt, erhielt erst durch die Milliardenunterstützung der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung den Antrieb, der jetzt zur ersten verfügbaren Malaria-Impfung und zu vielen anderen Maßnahmen führte. Das von George Soros finanzierte Open Society Institute war und ist in vielen Staaten eine der wenigen Stellen, die für die Stärkung schwächelnder Demokratien eintritt – Viktor Orbán hat sie darum in Ungarn kriminalisiert und vertrieben.
Kein Ersatz für Sozialstaat
Die Liste der Aufgaben, die mithilfe privaten Vermögens wesentlich vorankommen könnten, ist lang. Wichtig ist das Verständnis, dass privates Vermögen den Sozialstaat nicht ersetzt und den Bürgerinnen und Bürgern keine Verantwortung abnimmt. Aber viele Bereiche, wie die Durchsetzung von Grundrechten, Innovationen im Bildungsbereich oder der Kampf für Klimaschutz, brauchen private Finanzierung, um nachhaltig voranzukommen.
25 Millionen sind mit den Milliardenbeträgen superreicher Stifter nicht vergleichbar. Aber es ist im heimischen Maßstab ein Batzen Geld, mit dem auch Österreichs Superreichen ihre Verantwortung deutlich vor Augen geführt werden kann.
Das macht übrigens schon eine ganze Reihe gemeinnütziger privater Stifter und Stiftungen (allen voran die Initiative „Sinnstifter“), deren Tätigkeit bei Weitem nicht dieselbe öffentliche Aufmerksamkeit erreicht wie die Aktion von Frau Engelhorn. Darum ist es schade, dass sie ihre PR nicht dazu nutzt zu zeigen, wie reiche Erben die Zivilgesellschaft stärken können. Sondern, dass sie argumentiert, es wäre am besten, der Staat kassierte dieses Geld.
Helmut Spudich ist freier Journalist in Wien.
GESELLSCHAFT – DEMOGRAPHIE
Einkommen – Gehalt: Mit 3.500 Euro monatlich schon „reich“
Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, heißt es. Doch ab wann gilt man in Deutschland eigentlich als reich? … Mehr siehe unter MÄRKTE
Politologe Brand: Klima in der Krise, Kapitalismus am Limit
Dass die Klimakrise die zentrale Herausforderung unserer Zeit darstellt, leugnet mittlerweile kaum jemand mehr. Auf allen Ebenen hat ein Umdenken stattgefunden. Doch eine grüne Modernisierung der Wirtschaft, wie sie etwa EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit ihrem „European Green Deal“ vorantrieb, wird nicht genügen, sagt der in Wien tätige deutsche Politologe Ulrich Brand. In seinem neuen Buch sieht er den „Kapitalismus am Limit“ und urgiert einen Systemwandel.
Die strukturellen Gründe und Folgen der Krise seien deutlich weniger erforscht als ihre naturwissenschaftliche Seite, meint der 1967 am Bodensee geborene Wissenschafter, der seit 2007 an der Universität Wien arbeitet, im Gespräch mit der APA. 2017 hat er mit seinem Berliner Kollegen Markus Wissen in einem Buch die „imperiale Lebensweise“ analysiert, nun versuchen die beiden einen Schritt weiter zu gehen. Ein grüner Anstrich dessen, was die Welt in der Ausbeutung der Ressourcen an den Rand der Katastrophe geführt hat, werde zu wenig sein, argumentieren sie in ihrem soeben erschienenen neuen Werk. „Es braucht Brüche statt Kontinuitäten. Es braucht einen radikalen Reformismus, der auch Konflikten nicht aus dem Weg geht“, sagt Brand.
Je länger der Wandel dauert, desto dramatischer die Krise
Das Fatale daran: „Die Dekarbonisierung ist eine wirklich große Nummer. Bisher wurde aber trotz aller begrüßenswerten Initiativen nur an kleinen Schrauben gedreht. Strategien einer grünen Modernisierung sind wichtig, haben aber ihre strukturellen Grenzen. Je länger der Wandel hinausgezögert wird, desto dramatischer wird die Krise. Und umso größer wird der Aufwand, sie zu bekämpfen.“
Um das zu illustrieren erzählt Brand von einer kürzlichen Vortragsreise nach Mexiko City. „Die dortige Luftqualität können wir uns nicht vorstellen. Ich hatte die ganze Zeit Blut in den Atemwegen. So eine Zukunft kann wirklich niemand wollen.“ Nach Jahrzehnten des ungebremsten Neoliberalismus müsse nun reglementierend eingegriffen werden. „Es braucht einen Staat, der stark interveniert und investiert“ – und ein Narrativ, das nicht auf Verbote und Verzicht setze, sondern faire Regeln und die Bewahrung von Lebensqualität propagiere. „Wir müssen viel deutlicher sagen, was wir gewinnen, wenn wir endlich handeln.“
Der fossile Konsens gilt noch immer
Das fossile System sei noch immer überaus präsent, das habe man auch bei der Weltklimakonferenz COP28 Ende des Vorjahres in Dubai sehen können, sagt Brand. „Kapitalismus ist eine Machtfrage und dazu die ‚imperiale Lebensweise‘ für viele Menschen noch immer attraktiv. Der fossile Konsens gilt noch immer.“ Die gegenwärtige Situation biete widersprüchliche Gewinnchancen: Die klassische fossile Industrie könne weiterhin hohe Profite erzielen, während gleichzeitig auch die ökologische Transformation wirtschaftlich immer attraktiver werde.
Dabei würden die Dinge aber nicht zu Ende gedacht. So sei etwa die Produktion von E-Autos oder von Windrädern energie- und rohstoffintensiv, die Digitalisierung ein gigantischer Energiefresser. „So lange wir am Wachstum festhalten, werden wir das Problem nicht lösen. Die Wachstumsorientierung ist der Systemfehler.“ Es brauche neben der Zivilgesellschaft, andere Orientierungen in Parteien und Öffentlichkeit auch „progressive Eliten“, um die Erkenntnis durchzusetzen: „Es geht um die Nicht-Verfügbarkeit der Welt – sie kann nicht immer weiter ausgebeutet werden.“
Ökologischer Umbau durch politische Gestaltung
Für den 56-Jährigen, der das Wissenschaftsnetz „Diskurs“ mitbegründet und bei den „Scientists For Future“ aktiv ist, steht fest: „Der ökologische Umbau muss politisch gestaltet werden. Er muss gerecht und erfahrbar sein.“ Darin sieht Brand auch ein Problem bei der bisherigen Kommunikation der dramatischen Zukunftsaussichten: „Die Klimawissenschaft argumentiert mit Fakten, und die sind nicht erfahrbar. Erfahrbar ist die Katastrophe.“ Gleichzeitig gebe es Veränderungsängste. „Es gibt einen größeren Wunsch nach Stabilität als nach Veränderung der Welt. In dieser Situation wäre es die Aufgabe der Politik, klare Regeln aufzustellen. Nur so hat man die Sklaverei und die Kinderarbeit abschaffen – und die Mariahilfer Straße verkehrsberuhigt gestalten können.“
Wie das alles wirklich bewerkstelligt werden kann, da halten sich Ulrich Brand und Markus Wissen in ihrem Buch zurück, sondern geben bloß Anregungen. „Wir haben keine fixe Theory of Change“, gibt der Politologe zu. „Ein Teil der Veränderung ist schon, zu sagen, wie es ist.“ Das ist freilich zur Genüge geschehen. Das Austrian Panel on Climate Change (APCC) hat im Vorjahr den umfangreichen Report „Strukturen für ein klimafreundliches Leben“ zusammengefasst – ohne nennenswerten Folgen. Angst vor Radikalität dürfe aber nicht zur Lähmung führen, warnt Brand. „Politische und gesellschaftliche Konflikte auszutragen ist nicht Gewalt. Gewalt ist, sich die Freiheit zu nehmen, auf Kosten der anderen zu leben.“
(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)
Service: Ulrich Brand, Markus Wissen: „Kapitalismus am Limit. Öko-imperiale Spannungen, umkämpfte Krisenpolitik und solidarische Perspektiven“, oekom verlag, 304 Seiten, Broschur, 24 Euro, ISBN 978-3-98726-065-0
Verein in Klagenfurt: Geschichte im Zentrum
Der Kärntner Geschichtsverein bietet reichlich Veranstaltungen und die Möglichkeit zu publizieren.
KLAGENFURT. Das Besondere am Geschichtsverein ist zum Einen die Bestandsdauer, den Verein gibt es nämlich bereits seit 1844, damit wird heuer das 180-Jahr-Jubiläum gefeiert. „Es gibt kaum einen Verein, der auf 180 Jahre ununterbrochene Existenz verweisen kann“, meint Wilhelm Wadl, Direktor des Kärntner Geschichtsvereins.
Landesgeschichte Kärntens
Der Verein selbst repräsentiert sich als große Plattform für die Landesgeschichte., das Hauptaugenmerk liegt auf der historischen Forschung der Geschichte Kärntens. Darunter fällt die Auseinandersetzung mit der klassischen Geschichte, aber auch der Kunstgeschichte, der Literaturgeschichte, der Volkskunde und vielen weiteren geisteswissenschaftlichen Disziplinen, insofern sich diese mit Kärnten befassen.
Über den Geschichtsverein
Der Geschichtsverein ist ein aktiver und zugleich mitgliederstarker Verein. Nahezu 3.000 Mitglieder, darunter auch einige Institutionen, haben sich dem Verein angeschlossen. Ein Teil der Mitglieder stammt zwar ursprünglich aus Kärnten, lebt jedoch aktuell nicht mehr hier: Der Geschichtsverein ist in diesem Fall ein geistiges Bindeglied zur alten Heimat.
Der Verein publiziert
Beim Geschichtsverein steht das Publizieren im Vordergrund. Seit eh und je bringt der Verein die Carinthia Zeitschrift heraus, seit mehreren Jahrzehnten halbjährlich die populärwissenschaftliche Zeitschrift Bulletin. In der Bulletin-Zeitschrift findet sich neben den populärwissenschaftlichen Artikeln das Programm für das jeweilige Halbjahr im Geschichtsverein. „Unter den Autoren haben wir Universitätsprofessoren bis historisch interessierte Laien, die selbst forschen“, meint Wadl. Wenn gewisse formale Richtlinien eingehalten werden und Wissen vorhanden ist, hat jeder wissenschaftlich Interessierte die Möglichkeit, im Verein zu publizieren.
Angebote für Mitglieder
Der Verein veranstaltet verschiedenste Events für die Mitglieder, darunter kulturwissenschaftliche Exkursionen, Führungen oder historische Spaziergänge, Vorträge sowie auch größere Votragserien oder Symposien. Zusätzlich bekommen die Mitglieder mehrere hundert Seiten Lesestoff pro Jahr zur Verfügung gestellt.
Veranstaltungen des Vereins
Am 20. März hat die Jahreshauptversammlung des Geschichtsverein stattgefunden. Ansonsten finden in etwa alle 14 Tage Veranstaltungen statt, zu denen die Vereinsmitglieder eingeladen sind. Zusätzlich unternimmt der Verein Reisen quer durch Kärnten und in die Nachbarregionen. Hauptsächlich finden die Veranstaltungen aber in Klagenfurt statt, entweder im Landesarchiv oder im Landesmuseum für Kärnten. Angestrebt wird es dennoch über das Land hinauszugehen: „Als Nächstes, Anfang April, steht etwa eine Buchpräsentation in Paternion an“, bestätigt Wadl. Bei den Veranstaltungen selbst wird jedenfalls versucht stets einen interessanten Vortrag in das Programm mit einfließen zu lassen.
Vielfältiges Vereinsleben
„Es gibt einen erheblichen Stock an Mitgliedern, der hauptsächlich an Publikationen interessiert ist, ein anderer Teil besucht gerne die eine oder andere Veranstaltung“, erklärt Wadl. Bei einem so großen Verein ist das auch notwendig, da die Veranstaltungen ansonsten im Chaos enden würde, wenn alle 3.000 Mitglieder immer Interesse zeigen würden. Natürlich sind neue Mitglieder mit verschiedenen Interessen jederzeit willkommen dem Verein beizutreten: „Wir halten jedes Jahr nach neuen Mitgliedern Ausschau und werden dafür auch aktiv“, erzählt Wadl. Bei der Brauchtumsmesse, der langen Nacht der Forschung, der langen Nacht der Museen und Ähnlichem ist der Verein beispielsweise vor Ort.
Geburtenrate in vergangenen zwei Jahren rückläufig
Wiesbaden – Die Geburtenrate in Deutschland ist innerhalb der vergangenen beiden Jahre deutlich zurückgegangen. Nach Einschätzung von Wissenschaftlern könnte dies mit den verschiedenen weltweiten Krisen zusammenhängen, teilte das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung heute in Wiesbaden mit.
Die Geburtenrate sei von 1,57 Kindern pro Frau im Jahr 2021 auf rund 1,36 im Herbst 2023 gefallen. Damit sei das so bezeichnete Fertilitätsniveau so niedrig wie seit 2009 nicht mehr.
Die Zahlen basieren auf einer gemeinsamen Veröffentlichung des Bundesinstituts und der Universität Stockholm in der Fachzeitschrift European Journal of Population. Grundlage sind Berechnungen der monatlichen Geburtenzahlen.
Nachdem in Deutschland die Geburtenrate in der Coronapandemie nach Angaben des Bundesinstituts zunächst stabil geblieben war, sank sie im weiteren Krisenverlauf ab Januar 2022 auf 1,4 und erholte sich im Sommer 2022 wieder auf 1,5 Kinder pro Frau. 2023 sei die Geburtenrate dann wieder gesunken und habe nach vorläufigen Berechnungen im Durchschnitt der Monate Januar bis November 1,36 betragen.
„Der beobachtete starke Rückgang der Fertilität innerhalb von zwei Jahren ist deshalb ungewöhnlich, da sich Phasen sinkender Geburtenraten in der Vergangenheit eher langsamer vollzogen haben“, erläuterten die Experten. Dies könne verschiedene Ursachen haben.
Demnach hat der abrupte Einbruch der Zahlen im Januar 2022 womöglich mit der beginnenden Impfkampagne gegen das Coronavirus neun Monate zuvor zu tun. Es könnte nach Meinung der Bevölkerungsforscher sein, dass viele Frauen angesichts der damals für Schwangere nicht zugelassenen Impfstoffe den Kinderwunsch aufgeschoben haben, um sich erst impfen zu lassen.
Aber warum gingen ab Herbst 2022 die Geburtenzahlen zurück? „Der Krieg in der Ukraine, die gestiegene Inflation oder auch der fortschreitende Klimawandel haben die Menschen zusätzlich zur Pandemie verunsichert“, erläuterte Martin Bujard vom Bundesinstitut, Co-Autor der Studie. „In einer solchen Zeit multipler Krisen setzen viele ihren Kinderwunsch nicht um.“
Inwiefern die aktuellen Zahlen einen generellen Trend zu sinkenden Geburtenzahlen in Deutschland einleiten oder nur einen temporären Effekt abbilden, sei bislang nicht absehbar.
Die Geburtenrate in der Bundesrepublik pendelte nach 1975 vier Jahrzehnte lang zwischen 1,2 bis 1,4 Kindern pro Frau und gehörte lange Zeit zu den niedrigsten in Europa, wie das Institut mitteilte. Von 2015 bis 2021 lag sie dann deutlich höher mit Werten von 1,5 bis 1,6. © dpa/aerzteblatt.de
GENDER
Ungleich verteilte Hausarbeit macht nicht per se unglücklich
Wäschewaschen, Bügeln, Kochen – das ist in Österreich vielfach immer noch „Frauensache“. Dennoch zeigten sich die Frauen in einer neuen Befragung der Universität Wien relativ zufrieden. „Wenn ich nicht erwarte, dass ich eine gerechte Arbeitsteilung habe, dann kann ich auch nicht enttäuscht werden“, erklärte die Soziologin Christine Geserick die Ergebnisse gegenüber der APA.
Man weiß aus Studien wie der jüngsten Zeitverwendungserhebung der Statistik Austria, dass es in Partnerschaften immer noch vorwiegend Frauen sind, die sich in Österreich um den privaten Haushalt kümmern. Das bestätigt auch eine neue Online-Studie der Universität Wien, an der im Mai 2022 insgesamt 1.577 hierzulande wohnende Personen zwischen 16 und 88 Jahren teilgenommen haben. Die gleiche Studie hat ebenso ergeben, dass, auch wenn die Arbeit im Haushalt ungleich verteilt ist, ein Großteil der Männer sowie auch der Frauen mit der Aufteilung zufrieden ist, sofern kein besonderer Wert auf eine gerechte Aufteilung gelegt wird.
„Es geht hier um Wünsche“, meinte Geserick, die das Projekt leitete und am Österreichischen Institut für Familienforschung (ÖIF) tätig ist. Es gehe um den empfundenen und den realisierten Gerechtigkeitsanspruch. „Wenn ich keine gerechte Arbeitsteilung im Haushalt brauche, um glücklich zu sein, dann ist eine ungerechte Aufteilung in der Praxis nicht so enttäuschend wie wenn mir eine gerechte Aufteilung wichtig ist, ich diese aber nicht bekomme“, so die Soziologin.
Die von ihr geleitete Untersuchung hat ergeben, dass es mehr Menschen gibt, die eine gerechte Aufteilung als wichtig erachten (91,5 Prozent) als solche, die ihre Arbeitsaufteilung tatsächlich als gerecht bewerten (80,2 Prozent). Trotzdem ist ein Großteil der Befragten, nämlich 89,6 Prozent, sehr oder eher zufrieden mit der von ihnen praktizierten Arbeitsteilung.
Denn für eine hohe Zufriedenheit spielt auch der Austausch auf Gefühlsebene eine Rolle, ob beispielsweise Zärtlichkeiten im Alltag ausgetauscht oder ob kleine Aufmerksamkeiten von unterwegs mit nach Hause gebracht werden. „Je mehr Zuneigung ich bekomme, desto eher bin ich auch mit einer ungleichen Aufteilung im Haushalt einverstanden“, so Geserick. Das gelte allerdings mehr für Frauen als für Männer. „Die Vermutung liegt nahe, dass Frauen, weil sie ja diejenigen sind, die mehr unbezahlte Arbeit im Haushalt und in der Familie leisten, auch mehr entlohnt werden müssen, und zwar auf einer emotionalen Ebene.“
Was die 17 Tätigkeiten betrifft, die hier untersucht wurden, zum Beispiel „Lebensmittel einkaufen“ oder „Hausmüll rausbringen“, so gaben mehr als die Hälfte der Befragten zwar an, dass sie von beiden „ungefähr gleich“ erledigt werden. Aber in heterosexuellen Partnerschaften entfällt der größere Teil trotzdem auf die Frau, weil sie öfter allein zuständig ist als der Mann: In 72,5 Prozent der Partnerschaften übernimmt sie allein das Wäschebügeln, in 66,7 Prozent das Wäschewaschen und in 51,6 Prozent das Kochen. Eine Tätigkeit gab es, die eher Männern zugeschrieben wird: sich um TV und Internet kümmern. „Da sagen 62 Prozent der Befragten, das macht der Mann allein“, so die Forscherin.
Die Arbeitsteilung sei oft klassischer als man vielleicht denkt. „Aber es wird immer besser“, sagte die Soziologin. Denn junge Menschen erwarten sich eine „gerechtere Aufteilung als bei ihren Eltern“, ein Trend, der zu mehr Partnerschaftlichkeit führen könnte. „Wir sehen einen Unterschied zwischen den 28-Jährigen bis 55-Jährigen im Vergleich zu den Über-65-Jährigen“, betonte Geserick, „und den Unterschied sehen wir nicht nur im Anspruch, sondern auch in der Praxis.“ (APA)
APA-Service: „Zeitverwendungserhebung“ der Statistik Austria
ANTISEMITISMUS
Wiener Festwochen: Omri Boehm muss keinen neuen Namen annehmen – Raimund Fastenbauer, MENA-Watch, 27.3.2024
Nach der Einladung von Annie Ernaux in den von »Rat der Republik« bei den Wiener Festwochen stellt die Würdigung Omri Boehms als Europa-Redner die nächste Provokation dar.
Der Umstand, dass Angehörige von Minderheiten lieber der Mehrheitsgesellschaft angehören wollen, insbesondere dann, wenn sie Verfolgungen ausgesetzt sind, ist menschlich verständlich. Gerne adaptieren sie dabei ihre Namen, um sich auch äußerlich der Mehrheitsgesellschaft anzugleichen.
Wenn sie sich dann jedoch dafür hergeben, als »Kronzeugen« für die Schlechtigkeit ihrer ehemaligen religiösen oder geistigen Heimat zur Verfügung zu stellen, erwecken sie oft Abscheu bei ihren früheren Glaubens- und Geistesgenossen – und trotz allem wenig Achtung bei ihren neuen Freunden. Lediglich als »Kronzeugen« und »nützliche Idioten« erlangen sie eine Bedeutung, die ihnen ansonsten nicht zukommen würde.
Als im Mittelalter Juden bei Pogromen ermordet wurden, entschloss sich etwa der Jude Saul, Christ zu werden und in den Dominikanerorden einzutreten. 1263 nahm er als Pablo Christiani (auch: Paulus Christianus) an der viertägigen Disputation von Barcelona über den Talmud teil, bei der er über angeblich blasphemische Talmudstellen Zeugnis ablegte. In der Folge verlangte er vom französischen König Ludwig IX. eine schärfere Haltung gegen Juden und forderte ihn auf, sie zum Tragen eines Judenzeichens zu verpflichten.
Auch noch ausgerechnet am Judenplatz?
Heutzutage geht es einfacher, und so darf Omri Boehm in seiner »Rede an Europa« am 7. Mai 2024 zwar nicht in einer Kirche, sondern gleich provokativ am Judenplatz sprechen, wenn es nach dem Intendanten der Festwochen geht. Ein neuer Name ist dafür nicht notwendig, die Funktion von Boehm ist aber dieselbe wie weiland die von Christiani: »Na, wenn’s der Jud’ selber sagt.« Das Jüdische Museum Wien ist Kooperationspartner der antiisraelischen Veranstaltung.
Worum geht es Boehm in seiner Rede? Er macht sich Sorgen darüber, »warum der israelisch-palästinensische Konflikt eine Gefahr für die europäische Identität darstellt«, da Deutschland – und auch Österreich – mit ihrer aus der NS-Vergangenheit erwachsenden, speziellen Verantwortung für die Juden und Israel die Einheit Europas stören würden.
Für sein 2021 auf Englisch erschienenes – in der deutschen Version von 2020 noch den unverfänglich klingenden Namen Israel – eine Utopie. Eine hoffnungsvolle Vision für den Nahen Osten tragendes – BuchHaifa Republic. A Democratic Future for Israel Beyond the Two-State Solution, in der er genau jene Zwei-Staaten-Lösung ablehnt und für einen binationalen Staat und die Überwindung der zionistischen Idee eintritt, erhielt Boehm 2024 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Mit seinen auch sein Buch charakterisierenden Auslassungen und Verdrehungen bei der Darstellung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern setzte sich Mena-Watch damals in einer Reihe von Stefan Frank unter dem Titel »Die Methode Omri Boehm« auseinander.
Nach der Einladung von Annie Ernaux und Yanis Varoufakis in den von Intendant Milo Rau ins Leben gerufenen »Rat« der für die heurige Festwochen-Saison postulierten »Freien Republik Wien« stellt die Würdigung Omri Boehms als Europa-Redner die nächste Provokation bei den Wiener Festwochen dar.
In der Mena-Watch-Reihe zu Omri Boehm erschienen:
Die Methode Omri Boehm (Teil 1): Juden als Täter
Die Methode Omri Boehm (Teil 2): Geschichtsklitterung
Die Methode Omri Boehm (Teil 3): Unsichtbarmachen arabischer Akteure
Die Methode Omri Boehm (Teil 4): Haifa 1948 und die Vertreibung der Araber, die es nicht gab
Die Methode Omri Boehm (Teil 5): Auslassen von Zusammenhängen, am Beispiel der Schlacht von Lydda 1948
Die Methode Omri Boehm (Teil 6): Die Erfindung eines Vertreibungsplans
Die Methode Omri Boehm (Teil 7): Feldzug gegen das Holocaust-Gedenken
Die Methode Omri Boehm (Teil 8): Yad Vashem als Schaltzentrale des Bösen
Die Methode Omri Boehm (Teil 9): Das Holocaust-Gedenken »mit der Wurzel ausreißen«
Die Methode Omri Boehm (Teil 10): Boehms »Weimar-Moment«
Die Methode Omri Boehm (Teil 11): Pappkameraden aufbauen
Die Methode Omri Boehm (Teil 12): Gegen das »sakralisierte Holocaust-Gedenken«
Die Methode Omri Boehm (Teil 13): Des Großmuftis neue Kleider
Die Methode Ullstein: Nachtrag zu unserer Reihe »Die Methode Omri Boehm«
Wiener Festwochen als Bühne für Antisemiten? – Raimund Fastenbauer, MENA-Watch, 22.3.2024
Der Wiener Festwochen-Intendant Milo Rau verweist gegen den Vorwurf, sein Stargast Annie Ernaux sei Antisemitin, ausgerechnet auf die geplante Rede eine weiteren Israelkritikers.
Der Wiener Gemeinderat beschloss am 20. März einstimmig einen Allparteienantrag, mit dem er sich von dem geplanten Auftritt von Annie Ernaux bei den Wiener Festwochen distanzierte und die Verantwortlichen in der Veranstaltungsprogrammierung aufforderte, diese Entscheidung zu überdenken.
Im Detail verweist der Gemeinderat auf die bereits am 27. Juni 2018 beschlossene Resolution gegen die antisemitische BDS-Bewegung und bezeichnete es als unverständlich, warum gerade bei der größten Kulturveranstaltung Wiens einer Unterstützerin dieser Israelboykott-Initiative eine Plattform geboten werde. Am 27. Februar 2020 war BDS auch vom österreichischen Nationalrat einstimmig als antisemitisch klassifiziert und verurteilt worden.
Im Rahmen der Festwochen kündigte Intendant Milo Rau einen neu eingerichteten »Rat der Republik« an, bei dem Persönlichkeiten wie die französische Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux und Griechenlands ehemaliger Finanzminister Yanis Varoufakis, der sich geweigert hatte, den Hamas-Terrorangriff auf Israel vom 7. Oktober 2023 zu verurteilen, eine Bühne bekommen sollen.
Lange Liste
Ernaux wiederum hat eine lange Geschichte der Beteiligung an antisemitischen Aktionen hinter sich. Erst im Januar unterstützte sie den gegen Deutschland wegen dessen angeblich allzu »proisraelischer« Politik gerichteten Boykott-Aufruf Strike Germany. Wegen des aggressiven Tons wurde diese Proklamation von den Medien ursprünglich für ein Satireprojekt gehalten, da solch plumpe Propaganda eigentlich nicht ernst gemeint sein könnte.
Bereits anlässlich der Nobelpreisverleihung an Ernaux im Jahr 2022 hatte der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, die Vergabe als »Rückschlag für den weltweiten Kampf gegen Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit« bezeichnet. Ein Jahr zuvor unterzeichnete Ernaux einen »Brief gegen Apartheid«, nachdem über viertausend Raketen von Gaza nach Israel abgefeuert wurden und Israel militärisch gegen den Raketenterror vorging. Während die Angriffe von palästinensischer Seite nicht einmal erwähnt wurden, warf der Brief Israel vor, als »kolonisierende Macht« aufzutreten und Palästina zu kolonialisieren.
Im Mai 2019 wiederum setzte Ernaux ihre Unterschrift unter einen Aufruf zum Boykott des Eurovision Song Contests in Tel Aviv. Bereits 2018 hatte sie die Einrichtung einer gemeinsamen Kultursaison zwischen Frankreich und Israel verurteilt.
Ebenso befürwortete Ernaux einen Aufruf zur Freilassung des Terroristen Georges Abdallah, der 1987 in Frankreich zu lebenslanger Haft wegen der Ermordung des stellvertretenden amerikanischen Militärattachés Charles Ray und des israelischen Diplomaten Yaakov Bar-Simantov verurteilt worden war. In dem Aufruf wurden die Ermordeten als Mossad- bzw. CIA-Agenten bezeichnet.
Uneinsichtiger Intendant
In einer ersten Reaktion auf den Gemeinderat bezeichnete Festwochen-Intendant Milo Rau die Charakterisierung von Ernaux als »Antisemitin« als absurd und wies auf die für den 7. Mai geplante Rede des israelischen, regierungskritischen Intellektuellen Omri Boehm hin. Boehm soll unter anderem darüber sprechen, »warum der israelisch-palästinensische Konflikt eine Gefahr für die europäische Identität darstellt«, da es zwischen dem deutschen Verfassungsverständnis hinsichtlich einer Verantwortung für den Holocaust und einer Prägung Frankreichs hinsichtlich seines kolonialen Erbes Gegensätze gebe.
Hierbei tut sich allerdings nicht nur die Frage auf, wie der Verweis auf einen anderen israelkritischen Redner die Antisemitismusvorwürfe gegen Annie Ernaux entkräften soll, sondern auch jene nach der Verantwortung: Wie lange ist Intendant Milo Raus Einladungspolitik für die Wiener Festwochen tragbar?
UNTERNEHMEN
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