Tagesblick – 13.10.2023 Freitag

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HELLMEYER

  • Märkte korrigieren
  • Deutschland: Subventionshilfen mehr als verdoppelt
  • EZB: Milde Töne und konziliantes EZB-Protokoll
  • Deutschland: Keine Abkoppelung von China

MÄRKTE

Märkte: Korrekturen – China mit starken Daten – US-Kreditkartendaten sehr schwach

An den Finanzmärkten kam gestern Katerstimmung auf. US-Verbraucherpreise sanken nicht

erwartungsgemäß um 0,1% auf 3,6% im Jahresvergleich, sondern verharrten bei 3,7%. Gut, die

Kernrate sank um 0,2% auf 4,1% im Jahresvergleich, dem niedrigsten Stand seit September 2021,

aber das reichte dem Markt nicht. Zinsängste forcierten Risikoaversion.

Auch heute früh konnten unterstützende sehr geringe und geringer als erwartete Inflationsdaten

aus China, der größten Ökonomie der Welt auf Basis Kaufkraftparität (circa 20% des Welt-BIP, USA

circa 15% des Welt-BIP), die Märkte nicht beflügeln. Zusätzlich gab es aus Peking eine starke

Handelsbilanz und einen Konsum-Einkaufsmanagerindex auf extravagant hohem Niveau

(fünfthöchster Wert seit 2010), der zulegte und die Divergenz zu dem maladen Deutschland

extrem offensichtlich macht.

In das Bild der Katerstimmung passten Entwicklungen im Kreditkartengeschäft der USA. Diese

von der Citibank veröffentlichten Daten stehen nicht im Fokus der Analysten bezüglich des

Datenkalenders, sie sind aber aussagefähig und interessant. Konsum ist in den USA eng mit der

Wirtschaftsleistung korreliert, mehr als in Europa. Kreditkartennutzung spielt in den USA bezüglich

des Konsums eine gewichtige Rolle. Seit Januar 2023 kommt es bei der Kreditkartennutzung zu in

der Tendenz steigendem rückläufigen Geschäft (9 Monate durchgehend). Im Januar lag das

minus bei -5,7%, per September bei -10,8%. In der Phase 2019 – 2022 (vier Jahre) gab es nur vier

Monate mit Rückgängen. Auch dieser Aspekt spricht dafür, dass bei der US-Notenbank das

Thema fortgesetzter Zinserhöhungen weniger Anziehungskraft haben wird.

Aktienmärkte standen unter Druck. Das gilt für Europa, es gilt für die USA und es gilt heute früh für

Fernost.Rentenmärkte standen unter Druck. Die 10-jährige Bundesanleihe rentiert heute früh mit 2,78% (Vortag 2,72%), die 10 jährige US-Staatsanleihe bei 4,66% (Vortag 4,57%).

Der USD gewann gegenüber dem EUR an Boden (+0,8%). Auch gegenüber Gold (+0,2%) und Silber

(+0,7%) konnte der USD Zugewinne verbuchen.

Berichte & Analysen – Auswahl

• Berlin: Nach deutlichen Preisrückgängen für Wohnimmobilien stabilisiert sich der

Markt laut einer Studie von ImmoScout 24 zufolge. Die Angebotspreise für

Eigentumswohnungen und Einfamilienhäuser bewegten sich im 3.Quartal zwischen

0,2% und 0,3% zum vorangegangenen Vierteljahr leicht nach oben.

• Berlin: Der Deutsche Reiseverband berichtete, dass die Sommerbuchungen 11%

über dem Vor-Corona-Niveau lägen und 2023 für einen Rekordumsatz (nominal

+7% gegenüber 2019) sorgen würde.

• Berlin: Wirtschaftsminister Habeck erteilte Abkoppelung von China klare Absage.

• Washington: Steve Scalise konnte keine Mehrheit für die Position als

Mehrheitsführer im Kongress organisieren und zog sich zurück.

Deutschland: Subventionshilfen mehr als verdoppelt

Die Finanzhilfen des Bundes haben sich laut einer Studie des IfW in Kiel in diesem Jahr

wegen der Energiekrise mehr als doppelt. Sie dürften sich auf rund 208 Mrd. EUR

stellen. Per 2022 waren es „nur“ 98 Mrd. EUR, 2021 circa 77 Mrd. EUR. Die

Finanzhilfen des Bundes seien zum gewichtigsten Posten geworden. Von einem Euro,

den der Bund ausgebe, würden mehr als 30 Cent dafür verwendet. Die Sozialausgaben

lägen mit knapp 30 Cent darunter. Nur knapp 20 Cent würden in gegenwärtige oder

zukunftsgerichtete staatliche Leistungen wie Infrastruktur oder Forschung und Bildung

fließen.

Kommentar: Diese Haushaltkonstellation ist nicht dauerhaft zukunftsfähig. Der investive

Haushalt müsste dominant sein, denn der ist korreliert mit dem Begriff Zukunftsfähigkeit des

Standorts. Das gilt umso mehr, als dass sich die aufgebauten Defizite in den Sektoren Bildung,

Infrastruktur und IT-Struktur mittlerweile zu einer Hypothek für den Investitionsstandort

entwickelt haben. Ein großer Teil des Subventionshaushalts basiert auf diskretionärer

Außenpolitik der Regierung. Kann man sich die dauerhaft leisten? Leisten sich Japan und die

USA diese Extravaganz oder betreiben diese Länder eine interessenorientierte Politik für ihr

Land, ihre Unternehmen und Bürger in Energiefragen? Wo stehen Japan und die USA

ökonomisch, vor oder hinter Deutschland? Der IWF beantwortete diese Fragen in dem aktuellen

World Economic Outlook. Deutschland fiel und fällt dramatisch zurück. Wenige warnten zur

rechten Zeit (auch schon unter Merkel).

EZB: Milde aktuelle Töne und konziliantes EZB-Protokoll

Frankreichs Notenbankchef Villeroy sagte, die Dauer der Straffung sei wichtiger als das

Zinsniveau. Geldpolitische Geduld sei wichtiger als Aktivismus. Die EZB solle eine sanfte

Landung der Wirtschaft der Eurozone anstreben. Österreichs Notenbankchef Holzmann

konstatierte, dass Unternehmensgewinne zurückgingen und der Arbeitsmarkt angespannt sei.

Kommentar: Das Lager der „Tauben“ beginnt sich vor dem Hintergrund zunehmender

Konjunkturschwäche im EZB-Rat zu füllen. Auch der IWF wies bei der Veröffentlichung des

World Economic Outlook auf die zeitversetzte Wirkung der vollzogenen Zinserhöhungen hin.

Die Argumentationsketten haben sachliches Fundament.

Das EZB-Protokoll der letzten Notenbanksitzung fiel konziliant aus. Man stellte fest, dass die

Inflation noch zu lange zu hoch bleiben dürfte. Es gab eine solide Mehrheit für die

Zinsanhebung um 0,25%. Einige Mitglieder wollten die Zinsen nicht weiter erhöhen, weil die

Zinswirkungen erst mit Zeitverzug voll wirkten. Simulationen deuteten an, dass ein

Einlagensatz von 3,75% – 4,00% mit einer Rückkehr auf das Zielniveau von 2,00% Inflation

innerhalb des Projektionszeitraums bis Ende 2025 vereinbar sei.

Kommentar: Die „solide Mehrheit“ im EZB-Rat wackelt. Das Thema Ende des

Zinserhöhungszyklus wird prominenter.

Habeck erteilt wirtschaftliche Abkoppelung von China klare Absage

Bundeswirtschaftsminister Habeck hat einer Abkopplung von China eine klare Absage erteilt.

Er sagte, man müsse gleichzeitig diversifizieren. Zu starke Abhängigkeiten wie etwa von China

müssten abgebaut werden. Wichtig seien daher intensivere Handelspartnerschaften

beispielsweise mit Kanada, Kenia, Australien, oder Chile und anderen südamerikanischen

Staaten. Auch bei strategisch wichtigen Rohstoffen sei die Abhängigkeit von China viel zu

groß. Deutschland werde zusammen mit Frankreich und Italien sein Vorgehen in diesem

Bereich abstimmen und neue Partnerschaften fördern.

Kommentar: Das klingt nach Pragmatismus, der in diesem Format eingefordert wurde.

Datenpotpourri

China: Deflationsrisiken – Starker Konsum PMI

Die Verbraucherpreise waren per September im Jahresvergleich unverändert (Prognose 0,2%)

nach zuvor 0,1%. Die Erzeugerpreise sanken per September im Jahresvergleich um 2,5%

(Prognose -2,4%) nach zuvor -3,0%.

Die Handelsbilanz wies per September einen Überschuss in Höhe von 77,71 Mrd. USD aus

(Prognose 70,0 Mrd. USD, Vormonat 68,36 Mrd. USD). Exporte sanken im Jahresvergleich um

6,2% (Prognose -7,6%), während Importe um 6,2% fielen (Prognose -6,0%).

Der von LSEG IPSOS ermittelte Einkaufsmanagerindex des Konsumsektors stellte sich per

Oktober auf 78,01 nach zuvor 72,38 Zählern (Unterschied zu Deutschland, siehe unten).

Eurozone: Deutscher Konsum-PMI etwas schwächer

Der von Refinitiv IPSOS ermittelte Einkaufsmanagerindex des Konsumsektors sank per

Oktober von zuvor 44,98 auf 44,86 Punkte.

UK: BIP wie erwartet, Industrieproduktion schwächer

Das BIP verzeichnete per August einen Anstieg im Monatsvergleich um 0,2% (Prognose 0,2%)

nach zuvor -0,6% (revidiert von -0,5%). Im Jahresvergleich ergab sich eine Zunahme um 0,5%

(Prognose 0,5%) nach zuvor 0,3% (revidiert von 0,0%).

Die Industrieproduktion sank per August im Monatsvergleich um 0,7% (Prognose -0,2%) nach

zuvor -1,1% (revidiert von -0,7%). Im Jahresvergleich stellte sich ein Anstieg um 1,3%

(Prognose 1,7%) nach zuvor 1,0% (revidiert von 0,4%) ein.

Die Handelsbilanz wies per August ein Defizit in Höhe von 15,95 Mrd. GBP (Prognose -14,7

Mrd. GBP) nach zuvor -13,9 Mrd. GBP (revidiert von 14,06 Mrd. GBP) aus.

USA: Verbraucherpreise marginal höher

Die Verbraucherpreise nahmen per September im Monatsvergleich um 0,4% (Prognose 0,3%)

nach zuvor 0,6% zu. Im Jahresvergleich ergab sich ein Anstieg um 3,7% (Prognose 3,6%) nach

zuvor 3,7%. Die Kernrate legte im Monatsvergleich um 0,3% (Prognose 0,3%, Vormonat 0,3%)

und im Jahresvergleich um 4,1% (Prognose 4,1%, Vormonat 4,3%) zu.

Die Arbeitslosenerstanträge verzeichneten per 7. Oktober 2023 mit 209.000 keine Veränderung

zur Vorwoche (Prognose 210.000, Vorwoche revidiert von 207.000 auf 209.000).

Indien: Inflation fällt stärker, Industrieproduktion steigt stärker

Die Verbraucherpreise stiegen per September im Jahresvergleich mit 5,02% (Prognose 5,50%)

nach zuvor 6,83% weniger stark als erwartet.

Die Industrieproduktion nahm per August im Jahresvergleich um 10,3% (Prognose 9,0%) nach

zuvor 5,7% zu.

Russland: Handelsbilanz stark, Reserven sinken

Die Handelsbilanz wies per August einen Überschuss in Höhe von 10,997 Mrd. USD aus. Der

Vormonatswert wurde von 5,489 Mrd. USD auf 6,096 Mrd. USD revidiert.

Die Devisenreserven stellten sich per 6. Oktober 2023 auf 562,8 nach zuvor 568.4 Mrd. USD.

Hier den Hellmeyer Report herunterladen!

ÜBERSICHT

Einfluss: negativ (oder bedeutungsvoll), positiv, sowohl negativ als auch positiv, neutral, Kriegseinfluss, neutral oder nicht bewertet

Einflussstärke: fett => stark   oder   neutral, aber bedeutsam ohne klaren Einfluss

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Termine

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Marktumfeld

AKTUELL: Ölpreise steigen, UK Gas seit Tiefkurse im Sommer auf 140 USD je Einheit verdoppelt

Was Pessimisten an der Börse von den Optimisten lernen können – 4.8.2023

Das sprichwörtlich halbvolle oder halbleere Glas trennt die Optimisten von den Pessimisten. Nun hat eine Umfrage nach einer Antwort darauf gesucht, inwieweit die Lebenseinstellung darüber entscheidet, wie erfolgreich Menschen in finanziellen Belangen sind.

Wirkt sich eine positive Lebenseinstellung auf die Finanzen aus? Das war die Grundfrage einer Umfrage, die in Deutschland im Auftrag eines Unternehmens durchgeführt wurde, das kostenpflichtige Steuerberatung per App anbietet.

Befragt wurden dabei 2’000 Personen ab 18 Jahren, die mindestens schon einmal eine Steuererklärung abgegeben haben. Die Ergebnisse scheinen klar. So waren die Optimisten unter den Teilnehmenden deutlich in der Überzahl. 46 Prozent der Befragten gaben demnach an, dass sie dem Leben gegenüber positiv eingestellt sind.

Mehr Sorgen

Als neutral eingestellt bezeichneten sich 44 Prozent und nur 10 Prozent sahen sich als Pessimistin beziehungsweise Pessimist, wie die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» schreibt. Unter den Menschen mir negativer Einstellung finden sich mit 60 Prozent deutlich mehr Frauen als Männer.

Zudem würden sich die Pessimisten deutlich mehr Sorgen über Themen mit Finanzbezug machen, wären zugleich aber weniger aktiv. Als Probleme wurden dabei Themen wie Altersarmut, finanzielle Abhängigkeit oder Wohnungsverlust oft genannt. Zudem würden sich diese Menschen stärker Sorgen um soziale Ungerechtigkeit machen.

Finanzielle Gesundheit

Laut dem Auftraggeber der Studie könnten die Pessimisten einiges von den Optimisten lernen. Letztere seien aktiver, wenn es um Geldanlage oder private Vorsorge gehe, und sie würden öfter sparen. Mehr Wissen und Kontrolle über die eigenen Finanzangelegenheiten stärke das Vertrauen in die Zukunft und könne Ängste nehmen. «Finanzielle Gesundheit» sei wesentlich für das Wohlbefinden.

Die Befragung wurde vom Marktforschungsunternehmen Qualtrics im Auftrag der europäischen Steuerplattform Taxfix durchgeführt. Diese lebt sozusagen davon, dass mehr Menschen ihre Finanzangelegenheiten aktiv in die Hand nehmen.

Kausalität oder Korrelation?

Zudem stellt sich die Frage, ob die Ergebnisse eher nach Kausalitäts- oder Korrelations-Gesichtspunkten bewertet werden müssten. Sind Pessimisten finanziell weniger erfolgreich wegen ihrer Einstellung, oder prägen ihre Lebensumstände ihre Haltung? Das ist ein klassisches Henne-und-Ei-Problem.

Haben einkommensschwache und ältere Menschen mehr Angst vor Altersarmut, weil sie Pessimisten sind, oder weil sie einfach nicht über die Mittel verfügen privat vorzusorgen. Vieleicht sind solche Menschen ja eher Realisten, die ihre eigene Situation klar bewerten können.

Die Frauen-Finanzfrage

Selbst die Ergebnisse nach Geschlechtern liessen sich unter diesem Gesichtspunkt zumindest teilweise erklären. Die Durchschnittseinkommen von Frauen sind statistisch gesehen klar tiefer, ebenso wie ihre Pensionen.

So belief sich der Gender Pay Gap in Deutschland 2022 auf 18 Prozent. Das Durchschnittsgehalt für Frauen lag bei monatlich 3‘609 Euro brutto verglichen mit 4‘385 Euro für Männer.

In der Schweiz lagen diese Werte laut BFS 2020 für Frauen bei 6‘817 Franken im Vergleich zu rund 8‘317 Franken bei den Männern, was einem Lohnunterschied von 18 Prozent entspricht.

Zentralbanken

Fed’s Collins: Restoring price stability to take time

Federal Reserve Bank of Boston President Susan M. Collins said on Thursday that the consumer price data released earlier in the day showed that „restoring price stability will take time.“

Delivering a speech at the 22nd Annual Regional and Community Banker’s Conference at the Boston Fed, she warned that declaring that inflation is firmly on a path to gaining stability would be premature, pointing out that „variability of core inflation has increased since the pandemic.“

„Importantly, the rise in long-term yields implies some tightening of financial conditions. If it persists, it likely reduces the need for further monetary policy tightening in the near term,“ Collins also noted.

Protokoll: EZB-Zinsanhebung im September auch aus taktischen Gründen

Von Hans Bentzien

FRANKFURT (Dow Jones)–Der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) hat seine Leitzinsen am 14. September auch aus „taktischen Gründen“ angehoben. Wie aus dem jetzt veröffentlichten Protokoll der Beratungen hervorgeht, war der Rat zwar der Meinung, „dass die Leitzinsen ein Niveau erreicht haben, das, wenn es für einen ausreichend langen Zeitraum beibehalten wird, einen wesentlichen Beitrag zur rechtzeitigen Rückkehr der Inflation zum Zielwert leisten wird.“

Diese Einschätzung galt auf Basis von modellgestützten Simulationen, Expertenbefragungen und Marktpreise sowohl für einen unveränderten Einlagensatz von 3,75 Prozent als auch für einen um 25 Basispunkte auf 4,00 erhöhten Einlagensatz. Im Protokoll heißt es weiter: „Angesichts der beträchtlichen Unsicherheit betonten die Mitglieder, dass die Entscheidung zwischen einer Zinserhöhung und einer Zinspause eine knappe Entscheidung sei und dass auch taktische Überlegungen eine Rolle spielten.“

Eine solche taktische Überlegung könnte die Erwartung gewesen sein, dass für September mit einem deutlichen Rückgang der Inflation aufgrund von Basiseffekten kommen würde und ein Zinsschritt im Oktober nicht mehr als opportun erschienen wäre.

Analysten und Marktteilnehmer hatten im Vorfeld der Ratssitzung überwiegend mit einem unveränderten Zins gerechnet. Diese Auffassung war jedoch durch eine (möglicherweise gezielte) Indiskretion kurz vor Sitzungsbeginn ins Wanken geraten, so dass es bei den Prognosen pro oder contra Zinserhöhung 50:50 stand. Die nach der Zinserhöhung veröffentlichten Daten zeigten, dass die Inflation im September unerwartet deutlich zurückgegangen ist.

Die „Falken“ im Rat betonten laut dem Protokoll das nach wie vor hohe Inflationsniveau und die Tatsache, dass eine Zinserhöhung die feste Entschlossenheit des EZB-Rats signalisieren würde, die Inflation rechtzeitig auf das Zielniveau zurückzuführen. Außerdem hieß es von dieser Seite: „Wenn die EZB bei der ersten knappen Entscheidung eine Pause einlegt, könnte dies als Schwächung der Entschlossenheit der EZB ausgelegt werden, insbesondere zu einem Zeitpunkt, zu dem die Gesamt- und Kerninflation über 5 Prozent liegt.“

Hervorgehoben wurden auch die Aufwärtskorrekturen der Projektionen für die Gesamtinflation in den ersten beiden Jahren des Projektionszeitraums und die Tatsache, dass die Projektionen auf Marktzinsen basierten, die eine weitere Zinserhöhung bis zum Jahresende implizierten.

EZB-Offizielle haben seit dem 14. September wiederholt betont, dass weitere Zinsentscheidungen von drei Kriterien abhängen würden: Dem Inflationsausblick, der Dynamik der unterliegenden Inflation und der Transmission des geldpolitischen Signals in Finanz- und Realwirtschaft. „Es gibt nun zahlreiche Anzeichen dafür, dass diese Entwicklung stärker als erwartet voranschreitet“, hieß es dazu im Protokoll.

INTERNATIONAL

IEA: Middle East turmoil has oil market ‚on edge‘

The International Energy Agency (IEA) cautioned on Thursday that the „sharp“ escalation of tensions in the Middle East has put global oil markets „on edge,“ as the region accounts for more than one-third of the world’s seaborne oil trade.

In its latest monthly oil market report, the agency underlined that although the geopolitical turmoil in the region did not yet have „direct impact on physical supply,“ markets are expected to remain on „tenterhooks as the crisis unfolds.“

The global oil demand growth is anticipated grow by 2.3 million barrels per day (bpd) this year, the agency revealed, adding that global demand is projected to average 900,000 bpd in 2024 due to slower economic recovery. The global supply is projected to reach 1.5 million bpd in 2023 and 1.7 million bpd in 2024. The agency cautioned that voluntary output cuts could keep oil market in deficit.

OPEC revises 2023 global growth forecast up to 2.8%

The Organization of Petroleum Exporting Countries (OPEC) said in its monthly report released on Thursday that it sees the global economy growing by 2.8% in 2023, 0.1 percentage points above the previous forecast.

The United States GDP growth was revised up to 2.0% for this year, while the Eurozone economy outlook was cut but the GDP is still seen growing 0.5% in 2023. China’s economic growth outlook was unchanged at 5.2% in 2023, while the Russian economy is expected to grow 1.5%.

The report highlighted that the obstacles to these predictions include persistent high inflation rates, continued tight monetary policies, limitations in the labor market of developed countries, and geopolitical events.

AMERIKA: USA, VENEZUELA

US-Rohöllagerbestände stärker als erwartet gestiegen

WASHINGTON (Dow Jones)–Die Rohöllagerbestände in den USA haben sich in der Woche zum 6. Oktober ausgeweitet. Sie stiegen nach Angaben der staatlichen Energy Information Administration (EIA) um 10,176 Millionen Barrel gegenüber der Vorwoche. Von Dow Jones Newswires befragte Analysten hatten einen Anstieg um 0,9 Millionen Barrel vorhergesagt. In der Vorwoche hatten sich die Lagerbestände um 2,224 Millionen Barrel reduziert. Bei den bereits am Vortag veröffentlichten Daten des privaten American Petroleum Institute (API) war eine Zunahme von 12,9 Millionen Barrel registriert worden.

Die Benzinbestände nahmen nach EIA-Angaben um 1,313 Millionen Barrel ab. Analysten hatten ein Plus von 0,4 Millionen Barrel erwartet, nachdem die Vorräte in der vorangegangenen Woche um 6,481 Millionen gestiegen waren. Die API-Daten hatten einen Anstieg von 3,6 Millionen Barrel angezeigt.

Die Ölproduktion in den USA war in der Woche mit 13,2 Millionen Barrel pro Tag um 0,3 Millionen höher als in der Vorwoche. Gegenüber dem Vorjahreszeitraum ergab sich ein Zuwachs von 1,3 Millionen Barrel.

Webseite: http://www.eia.gov/petroleum/supply/weekly/

US-Inflationsrate bleibt im September bei 3,7 Prozent

Von Gabriel T. Rubin

WASHINGTON (Dow Jones)–Der Inflationsdruck in den USA ist im September weitgehend konstant geblieben. Wie das US-Arbeitsministerium mitteilte, stiegen die Verbraucherpreise gegenüber dem Vormonat um 0,4 Prozent und lagen um 3,7 (Vormonat: 3,7) Prozent über dem Niveau des Vorjahresmonats. Von Dow Jones Newswires befragte Ökonomen hatten mit einem monatlichen Preisanstieg von 0,3 Prozent und einer Jahresteuerung von 3,6 Prozent gerechnet.

Die Kernverbraucherpreise (ohne Energie und Lebensmittel) stiegen um 0,3 Prozent auf Monats- und um 4,1 (Vormonat: 4,3) Prozent auf Jahressicht. Die befragten Ökonomen hatten eine monatliche Rate von 0,3 Prozent und eine Jahresrate von 4,1 Prozent erwartet.

Die US-Währungshüter beobachten die Verbraucherpreise und andere Daten, während sie darüber nachdenken, ob eine weitere Zinserhöhung in diesem Jahr notwendig sein wird, um die Inflation einzudämmen. Die Notenbanker wollen eine anhaltende Abkühlung der Kerninflation sehen, insbesondere bei den Dienstleistungen, die in der Regel enger mit den Arbeitskosten verbunden sind als die Warenpreise.

Der insgesamt moderate Inflationsbericht könnte die Aussicht auf eine Zinserhöhung durch die US-Notenbank bei ihrer nächsten Sitzung zunichte machen, obwohl es Anzeichen für eine anhaltende Stärke des Arbeitsmarktes gibt.

(Mitarbeit: Andreas Plecko)

US-Realeinkommen sinken im September

WASHINGTON (Dow Jones)–Die Realeinkommen in den USA sind im September gegenüber dem Vormonat um 0,2 Prozent gesunken. Wie das US-Arbeitsministerium mitteilte, war im August ein Rückgang um 0,1 Prozent zu verzeichnen. Das durchschnittliche Wocheneinkommen betrug den Angaben der Behörde zufolge im September saison- und inflationsbereinigt 379,04 US-Dollar nach 379,75 Dollar im Vormonat.

Webseite: http://www.bls.gov/news.release/realer.t01.htm

Erstanträge auf US-Arbeitslosenhilfe unverändert

WASHINGTON (Dow Jones)–Die Zahl der Erstanträge auf Leistungen aus der US-Arbeitslosenversicherung hat in der Woche zum 7. Oktober keine Veränderung gezeigt. Im Vergleich zur Vorwoche blieb die Zahl der Anträge auf saisonbereinigter Basis konstant bei 209.000, wie das US-Arbeitsministerium in Washington mitteilte. Von Dow Jones Newswires befragte Volkswirte hatten einen Anstieg auf 210.000 vorhergesagt.

Für die Vorwoche wurde der Wert nach oben revidiert, auf 209.000 von ursprünglich 207.000. Der gleitende Vierwochendurchschnitt verringerte sich gegenüber der Vorwoche um 3.000 auf 206.250.

In der Woche zum 30. September erhielten 1,702 Millionen Personen Arbeitslosenunterstützung. Dies war eine Zunahme gegenüber der Vorwoche um 30.000.

Tabelle: http://www.dol.gov/ui/data.pdf

ASIEN: CHINA, JAPAN u.a.

AUSTRALIEN

AFRIKA

NAH-/MITTELOST: ISRAEL u.a.

EUROPA

CORONA-FONDS – Interne Papiere zeigen, dass der 750-Milliarden-Euro schwere Wiederaufbaufonds der EU bis 2058 Zinskosten von 225 bis 230 Milliarden Euro verursacht. 

Wie die FAZ unter Berufung auf eine interne Kalkulation der EU-Kommission und eine Analyse des Brüsseler Thinktanks Bruegel berichtet, müsste die EU für Rückzahlung und Zinsen im Jahr 2028 insgesamt knapp 30 Milliarden Euro zahlen. Die Zinskosten allein kalkulieren die Ökonomen bis zum Ende der Rückzahlungsperiode im Jahr 2058 auf zwischen 225 und 230 Milliarden Euro. Die beiden Papiere liegen der FAZ vor. (FAZ)

COMMENT: die Gesamtschuld „Next Generation“ bis 2058 wurde 2020/2021 mit rund 5 Billionen Euro veranschlagt. Die nächste Generation wird sich freuen. Da braut sich ein Sprengsatz für die EU und ihr Bürger zusammen. Das war absehbar. Österreich unter Kurz hat teilerfolgreich gebremst. 

Europa – Österreich, Polen und Tschechien verlängern Kontrollen an Grenze zur Slowakei

Österreich, Polen und Tschechien verlängern ihre Kontrollen an der Grenze zur Slowakei. „Die vorübergehenden Kontrollen werden bis zum 2. November verlängert“, sagte der polnische Innenminister Mariusz Kaminski am Donnerstag im Sender Polskie Radio. Tschechiens Innenminister Vit Rakusan sagte, die tschechische Polizei habe an der Grenze vom 4. bis 9. Oktober 43.749 Menschen kontrolliert, 283 Migranten aufgegriffen und zwölf Schlepper festgenommen.

Frankreich: Inflation etwas höher als gedacht 

PARIS (dpa-AFX) – In Frankreich sind die Verbraucherpreise im September etwas stärker gestiegen als gedacht. Gegenüber dem Vorjahr erhöhten sich die nach europäischer Methode erfassten Lebenshaltungskosten (HVPI) um 5,7 Prozent, wie das Statistikamt Insee am Freitag in Paris mitteilte. Vorläufige Zahlen wurden damit leicht um 0,1 Prozentpunkte nach oben revidiert. Im Monatsvergleich wurde die Erstschätzung hingegen bestätigt. Demnach sank das Preisniveau von August auf September um 0,6 Prozent./bgf/stk

Zahl der Regelinsolvenzen steigt im September um 19,5 ProzentPARIS (dpa-AFX) – In Frankreich sind die Verbraucherpreise im September etwas stärker gestiegen als gedacht. Gegenüber dem Vorjahr erhöhten sich die nach europäischer Methode erfassten Lebenshaltungskosten (HVPI) um 5,7 Prozent, wie das Statistikamt Insee am Freitag in Paris mitteilte. Vorläufige Zahlen wurden damit leicht um 0,1 Prozentpunkte nach oben revidiert. Im Monatsvergleich wurde die Erstschätzung hingegen bestätigt. Demnach sank das Preisniveau von August auf September um 0,6 Prozent./bgf/stk

DEUTSCHLAND

WAHLUMFRAGEN

WEITERE MELDUNGEN

Regelinsolvenzen in Deutschland im September gestiegen

WIESBADEN (Dow Jones)–Die Zahl der beantragten Regelinsolvenzen in Deutschland ist nach vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) im September um 19,5 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat gestiegen. Im August hatte sie bereits um 13,8 Prozent zugenommen. Bei den Ergebnissen ist zu berücksichtigen, dass die Verfahren erst nach der ersten Entscheidung des Insolvenzgerichts in die Statistik einfließen. Der tatsächliche Zeitpunkt des Insolvenzantrags liegt in vielen Fällen annähernd drei Monate davor.

Im Juli haben die Amtsgerichte nach endgültigen Ergebnissen 1.586 beantragte Unternehmensinsolvenzen gemeldet. Das waren 37,4 Prozent mehr als im Vorjahresmonat. Die Forderungen der Gläubiger aus den im Juli gemeldeten Unternehmensinsolvenzen bezifferten die Amtsgerichte auf rund 3,1 Milliarden Euro. Im Juli des Vorjahres hatten die Forderungen bei rund 0,8 Milliarden Euro gelegen.

ZWEI ÄUSSERUNGEN DER DEUTSCHEN BUNDESREGIERUNG 

Lindner: Russische Aggression Grund für viele wirtschaftliche Probleme

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hat Russlands Krieg gegen die Ukraine als einen bedeutenden Faktor für die derzeitige Schwäche der Weltwirtschaft benannt. „Viele der Probleme, denen wir uns gegenübersehen, werden von der russischen Aggression gegen die Ukraine verursacht“, sagte Lindner bei einer auf Englisch geführten Diskussion bei der Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Marrakesch. „Würde Russland seine Aggression beenden, würden sich viele unserer fiskalischen Probleme verbessern. Das ist eine Tatsache, die wir nicht vergessen dürfen.“

COMMENT: Falsch, und zwar aus derzeitiger Sicht: Lindner kehrt den Spieß um. Vor dem Hintergrund des russisch-ukrainischen Krieges beschloss der politische Westen in aller Wahlfreiheit auf gesinnungsethischer Grundlage sanktionspolitische Massnahmen gegen Russland. Infolgedessen darbt der politische Westen  wirtschaftlich, der politische Süden einschließlich Russlands reüssiert wirtschaftlich. 

Habeck: Müssen mehr Geld für Wirtschaft in die Hand nehmen

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat mehr Mittel gefordert, um die Transformation und Diversifizierung der deutschen Wirtschaft zu finanzieren. „Den Aufschwung, den wir jetzt schaffen müssen, den müssen wir ganz stark aus eigener Kraft schaffen“, sagte Habeck bei den Außenwirtschaftstagen in seinem Ministerium. „Die Konsequenz aus den Turbulenzen der globalen Ökonomie ist, dass wir bereit sein müssen, mehr zu investieren, mehr Geld in die Hand zu nehmen.“ Im Kern gehe es um Kriterien, die sich nicht aus dem Markt heraus ergäben. „Man kriegt Wirtschaftssicherheit und neue Märkte und eine diversifizierte Handels- oder Rohstoffkette nicht ohne einen Preis – und die Frage ist, sind wir bereit, diesen Preis zu zahlen“, sagte Habeck.

COMMENT: den Staat als Finanzier auf den Plan zu rufen entspricht einer interventionistischen Wirtschaftspolitik. Subventionen des Staates herbeizurufen wirkt inflationstreibend und staatsschuldenerhöhend. Paradigma stellen die 1970er Jahre während der Ölkrise dar, in denen man mit Verweis auf Keynes deficit spending betrieb und die Staatsschulden in diesem Jahrzehnt im Schnitt um jährlich 17% erhöhte. Wirtschaftspolitisch resultierte daraus eine anhaltende Stagflation infolge hoher, wirtschaftshemmender Zinsen. 

Die interventionistische Haltung Habecks gipfelt in der Aussage, man müsse mehr investieren unter Beachtung von Kriterien, die sich nicht aus dem Markt ergäben. 

Falsch: es geht um die Anpassung des ordnungspolitischen Rahmens, der „dem Markt“, sprich: den Marktteilnehmern als handelnden Menschen Luft zum Atmen freigibt. Dazu gehört vorrangig der Abbau einer überbordenden Bürokratie, wie vom deutschen Justizminister Buschmann zu Recht angemahnt. Problem dabei ist für Deutschland, das ein bedeutender Anteil wirtschaftshemmender Bürokratie von EU Regelungen erzeugt wird, somit dem Souverän des deutschen Staates, vertreten durch den Bundestag, der Wind aus den Segeln genommen wird. Dies stellt eine nicht unbeträchtliche Entrechtung des Souveräns Deutschlands dar und beschränkt keinesfalls unerheblich seine Entscheidungsfreiheit in politischer Selbstbestimmung. Resultat ist eine defekte Demokratie auf der Ebene des EU Mitgliedslandes Deutschland, die hervorgerufen wird durch Entscheidungen der defektdemokratischen Ebene der EU. Das Selbe gilt für das bisher Gesagte für Österreich. Vom vor dem Beitritt Österreichs versprochenen Prinzip der Subsidiarität ist nicht viel übriggeblieben, und dieser Bruch des Versprechens reiht sich ein in eine Phalanx gebrochener Versprechen der EU. 

ÖSTERREICH

STATISTIK AUSTRIA

WAHLUMFRAGEN

WEITERE MELDUNGEN

MEDIZIN – PSYCHOLOGIE – FORSCHUNG

COVID-19: Systemische Nebenwirkungen der Impfung zeigen gute Schutzwirkung an

San Francisco – Die systemischen Reaktionen, zu denen es nach einer Impfung kommen kann, waren in einer Beobachtungsstudie zu den beiden mRNA-Impfstoffen in medRxiv (2023; DOI: 10.1101/2023.09.26.23296186 ) mit dem Anstieg der neutralisierenden Antikörper und damit mit einer besseren Schutzwirkung assoziiert. Der Zu­sammenhang war nach der 2. Dosis stärker als nach der 1. Dosis.

Bei den meisten Menschen kommt es nach Impfungen zu systemischen Reaktionen wie Schüttelfrost, Müdigkeit, Unwohlsein und Kopfschmerzen oder auch einem leichten Fieber. Die Impfstoffreaktionen halten in der Regel nur wenige Tage an.

Sie sind ein Zeichen dafür, dass das Immunsystem die (meist) in den Muskel injizierten (oder von der mRNA-Vak­zine produzierten) Antigene bemerkt hat. Obwohl die Antikörperbildung erst später einsetzt, erscheint es biolo­gisch plausibel, dass Menschen, bei denen es nach der Impfung zu Symptomen kommt, einen besseren Impfschutz erzielen. Frühere Studien sind hier jedoch zu keinen eindeutigen Ergebnissen gekommen.

Die „Building Optimal AntibOdies Study“ (BOOST) hat die Auswirkungen der Grundimmunisierung mit den mRNA-Impfstoffen BNT162b2 und mRNA-1273 näher untersucht. 363 Erwachsene erhielten in den ersten 6 Tagen nach den beiden Impfdosen jeden Abend einen Link zu einem Fragebogen, in dem sie die am Tag aufgetretenen Symp­to­me angeben sollten. Einige trugen nachts einen Fingerring, der Hauttemperatur und Herzfrequenz aufzeichnete.

Wie das Team um Aric Prather von der Universität von Kalifornien in San Francisco berichtet, fielen die systemi­schen Reaktionen nach der 2. Dosis insgesamt stärker aus: 75,5 % klagten über Müdigkeit (gegenüber 54,2 % nach der 1. Dosis), 54,8 % (versus 31,6 %) über Muskelschmerzen, 53,0 % (versus 27,1 %) über Kopfschmerzen und 40,3 % (versus 18,4 %) über Unwohlsein. Auch Herzrate, Herzratenvariabilität und Hauttemperatur reagierten auf die 2. Dosis stärker.

Die Forscher haben die Symptome mit der Konzentration der neutralisierenden Antikörper nach einem und 6 Mo­naten verglichen. Sie fanden eine Assoziation, die allerdings nur nach der 2. Dosis und dann nur für 4 Symptome statistisch signifikant war: Personen, die nach der Impfung Schüttelfrost angegeben hatten, zielten 1,6-fach höhere Antikörpertiter. Müdigkeit erhöhte den Titer um das 1,5-Fache, Unwohlsein ebenfalls um das 1,5-Fache und Kopfschmerzen um das 1,4-Fache.

Bei den anderen 11 abgefragten Symptomen waren die Assoziationen nicht signifikant. Insgesamt stiegen die Antikörpertiter mit jedem Symptom um 10 % und Personen mit 7 Symptomen erzielten zu 200 % höhere Antikör­pertiter, was nach den Ergebnissen anderer Studien auf einen besseren Infektionsschutz hinweist.

Auch ein Anstieg der nächtlichen Hauttemperatur und der Herzfrequenz gingen nach der 2. Dosis mit einem signifikant höheren Anstieg der neutralisierenden Antikörper einher. Die lokalen Symptome am Injektionsort hatten dagegen keinen Einfluss auf die Antikörperreaktion. © rme/aerzteblatt.de

CKM-Syndrom: Was Adipositas, Typ-2-Diabetes und Nierenkrankheiten verbindet

Dallas – Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes schädigen nicht nur Herz und Blutgefäße, sondern häufig auch die Nieren. Die American Heart Association (AHA) schlägt in Circulation (2023; DOI: 10.1161/CIR.0000000000001184 ) als neues Krankheitskonzept ein „Cardiovascular-Kidney-Metabolic“ oder CKM-Syndrom vor. Ein Scientific State­ment fasst den derzeitigen Wissenstand zusammen (Circulation, 2023; DOI: 10.1161/CIR.0000000000001186 ).

Ausgangspunkt für das neue Krankheitskonzept ist die starke Verbreitung von Risikofaktoren in der Bevölkerung, die gleichzeitig die Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Stoffwechselstörungen und/oder Nierener­krankungen fördern. In den USA hat laut AHA jeder 3. Erwachsene mindestens 3 Risikofaktoren.

Dazu gehören Adipositas, Bluthochdruck, Dyslipidämie (Hypertriglyzeridämie und niedriges HDL-Cholesterin) sowie eine Insulinresistenz, deren Kombination seit längerem als metabolisches Syndrom bezeichnet wird. Zu den Folgen gehören neben einem Typ-2-Diabetes in erster Linie Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Experten sprechen auch von einem kardiometabolischen Syndrom. Das CKM-Syndrom ergänzt das Konzept um die renalen Folgen, die in einer Schädigung der Nierenkörperchen (Glomerulosklerose) und der Nierenkanäle (tuberointerstitielle Fibrose) bestehen und zu einem zunehmenden Verlust der Nierenfunktion führen, der sich wiederum ungünstig auf die Herzfunktion auswirkt.

Die Ursache des CKM-Syndroms sehen die US-Kardiologen in der übermäßigen Ablagerung von Fettgewebe im Bauchraum mit der Produktion von Adipokinen und Zytokinen, die eine Entzündungsreaktion im Körper auslösen mit einem vermehrten oxidativen Stress, einer Insulinresistenz und einer Störung der Gefäßfunktion. Sie fördern die Entwicklung eines Typ-2-Diabetes, aber auch von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Nierenerkrankungen. Zwischen Nieren und Herz besteht zudem eine Interaktion über ein kardiorenales Syndrom.

Die AHA unterscheidet 4 Stadien eines CKM-Syndroms. Im Stadium 0 liegen noch keine CKM-Risikofaktoren vor. Um einem CKM-Syndrom vorzubeugen, wird jedoch dringend zur Einhaltung der „life’s essential 8“ geraten, die die US-Kardiologen vor einiger Zeit aufgestellt haben.

Die Empfehlungen umfassen eine gesunde Ernährung, körperliche Aktivität und einen geregelten Schlaf, den Verzicht auf das Rauchen und die Vermeidung von Übergewicht. Blutdruck, Blutzucker und Cholesterin sollten normal sein. Die AHA empfiehlt den Erwachsenen im Stadium 0 des CKM-Syndroms, alle 3 bis 5 Jahre eine ärztliche Kontrolle von Blutdruck, Triglyzeriden, HDL-Cholesterin und Blutzucker. Außerdem sollten 1 Mal jährlich der Taillenumfang und der Body-Mass-Index gemessen werden.

Im Stadium 1 des CKM-Syndroms ist es bereits zu einer Zunahme und/oder einer ungesunden Verteilung des Körperfetts (viszerale Adipositas) gekommen und/oder zu einer Störung der Glukosetoleranz, eventuell mit einem Prädiabetes. In diesem Stadium rät die AHA zu einer Änderung des Lebensstils, um durch gesunde Ernährung und regelmäßige körperliche Aktivität das Körpergewicht um mindestens 5 % zu senken. Bei Bedarf sollte auch eine Behandlung der Glukoseintoleranz erfolgen. Die Betroffenen sollten jetzt alle 2 bis 3 Jahre Blutdruck, Triglyzeride, Cholesterin und Blutzucker kontrollieren lassen.

Im Stadium 2 des CKM-Syndroms befinden sich Menschen mit metabolischen Risikofaktoren (Typ-2-Diabetes, hohem Blutdruck, hohen Triglyzeriden) sowie solche mit einer beginnenden Nierenerkrankung. Diese Patienten haben nach Einschätzung der AHA ein höheres Risiko auf eine Verschlechterung ihrer Nierenfunktion oder auf Herzerkrankungen. Um dies zu verhindern, sollten Medikamente zur Normalisierung von Blutdruck, Blutzucker und Cholesterin eingesetzt werden.

Bei Patienten mit Typ-2-Diabetes raten die AHA-Experten zum Einsatz von SGLT2-Hemmern, da diese die Nieren schützen und das Risiko einer Herzinsuffizienz verringern. Eine weitere Option seien GLP-1-Agonisten, die nicht nur den Blutzucker senken, sondern auch die notwendige Gewichtsreduktion erleichtern und damit einen Beitrag zur Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen leisten.

Bei Patienten mit ersten Nierenschäden sollten auch Medikamente eingesetzt werden, die eine weitere Verschlechterung der Nierenfunktion verhindern können, etwa ACE-Hemmer/Sartane zur Blutdruckkontrolle. Bei den Patienten sollten im Stadium 2 entsprechend der Leitlinie jährlich Blutdruck, Triglyzeride, Cholesterin, Blutzucker und Nierenfunktion kontrolliert werden.

Im Stadium 3 des CKM-Syndroms bestehen bereits subklinische Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie eine Koronarsklerose (nur im Herzkatheter sichtbar) oder vermehrte Kalkablagerungen (in der CT-Angiografie erkennbar). Ein Anstieg von NT-proBNP oder des hochsensitiven Troponins oder auch Veränderungen im Herzecho können auf eine subklinische Herzinsuffizienz hinweisen.

Das Ziel der Behandlung bestehe in diesem Stadium in der Vermeidung von Herz-Kreislauf-Ereignissen und in der Vermeidung einer weiteren Verschlechterung der Nierenfunktion. Dies kann laut AHA durch eine Erhöhung oder Umstellung der Medikamenteneinnahme sowie eine zusätzliche Fokussierung auf Änderungen des Lebensstils erreicht werden.

Bei einigen Erwachsenen könne die Bestimmung des Kalziumscores genutzt werden, um die Statintherapie zu optimieren. Bei Hinweisen auf eine asymptomatische Herzinsuffizienz sollte eine präventive Therapie begonnen werden. Auch eine Änderung des Lebensstils kann nach Einschätzung der AHA-Experten in diesem Stadium helfen, das CKM-Syndrom zu mildern.

Im Stadium 4 ist es bei den Menschen mit überschüssigem Körperfett, metabolischen Risikofaktoren oder Nierenerkrankungen zu symptomatischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen gekommen. Die AHA unterscheidet ein Stadium 4a für Patienten ohne Nierenversagen und ein Stadium 4b mit Nierenversagen.

Einige Patienten würden in diesem Stadium bereits einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten haben oder bereits an einer Herzinsuffizienz leiden, schreiben die AHA-Experten. Hinzu kämen eventuell eine periphere arterielle Verschlusskrankheit oder Vorhofflimmern. Das Ziel ist dann die individuelle Behandlung der Herz-Kreislauf-Erkrankungen unter Berücksichtigung des CKM-Syndroms.

Die AHA fordert eine Weiterentwicklung der Risikokalkulatoren. Derzeit wird die „pooled cohort equation“ benutzt. Sie wurde 2013 zur Abschätzung des 10-Jahres-Risikos auf atherosklerotische Herz-Kreislauf-Erkrankungen entwickelt. Zur Risikoberechnung werden demografische Daten (Alter, Geschlecht und Herkunft) und die Werte von Cholesterin und systolischem Blutdruck benutzt sowie Ja/Nein-Antworten zu Bluthochdruck, Typ-2-Diabetes und Rauchen.

Die AHA-Experten schlagen vor, die Risikokalkulatoren um Messwerte zur Nierenfunktion und zur Blutzuckerkontrolle (statt der derzeitigen Ja/Nein-Antwort zum Diabetes) zu erweitern. Außerdem sollten soziale Determinanten der Gesundheit (SDOH) einbezogen werden, da wirtschaftliche, soziale, umweltbedingte und psychosoziale Faktoren einen deutlichen Einfluss auf die Entwicklung eines CKM-Syndroms hätten. Der Kalkulator sollte bereits im Alter von 30 Jahren angewendet werden und nach Möglichkeit neben dem 10-Jahres- auch das 30-Jahre-Risiko umfassen. © rme/aerzteblatt.de

Krisen belasten Psyche von fast zwei Dritteln der EU-Bürger

Brüssel – Fast zwei von drei Menschen in der Europäischen Union (EU) fühlen sich durch die Ereignisse der Welt einer Umfrage zufolge psychisch belastet.

Ereignisse wie die Coronapandemie, Russlands Krieg gegen die Ukraine oder die Klimakrise hätten die ohnehin schon instabile psychische Verfassung in Europa weiter erschüttert, teilte die EU-Kommission gestern mit.

Sie hatte eine Umfrage in Auftrag gegeben, wonach 62 Prozent der Befragten antworteten, solche Ereignisse be­einflussten „etwas“ bis „sehr“ ihre psychische Gesundheit.

Innerhalb eines Jahres hatte den Angaben zufolge fast die Hälfte aller Teilnehmer mit emotionalen und psycho­sozialen Problemen zu kämpfen. Mehr als die Hälfte dieser Betroffenen hätte jedoch keine professionelle Hilfe erhalten.

Zudem glaubt nur etwa ein Drittel der vom Institut Ipsos Befragten, dass psychisch Erkrankte genau so viel Für­sorge bekommen wie Menschen mit körperlichen Symptomen.

Neun von zehn Befragten sind aber der Auffassung, dass psychische und körperliche Gesundheit gleich wichtig seien und im gleichen Maße gefördert werden sollten. Für die Umfrage wurden im Juni 2023 rund 26.500 Men­schen ab 15 Jahren aus 27 EU-Mitgliedstaaten gefragt. © dpa/aerzteblatt.de

Zahl der Teenagergeburten stark rückläufig

Wiesbaden – Die Zahl der geborenen Kinder von Teenagermüttern ist in den vergangenen Jahrzehnten sowohl in Deutschland als auch weltweit deutlich zurückgegangen. Dies teilte heute das Statistische Bundesamt (Destatis) anlässlich des Weltmädchentags am 11. Oktober mit.

Demnach wurden im Jahr 2022 in Deutschland durchschnittlich sechs Kinder je 1.000 weibliche Teenager zwi­schen 15 und 19 Jahren geboren. Im Jahr 2000 waren es noch dreizehn.

Die Zahl der geborenen Kinder von 15- bis 19-Jährigen Müttern sank im selben Zeitraum von 29.140 auf 10.999. Im Jahr 2000 lebten hierzulande 2,25 Millionen weibliche Jugendliche im entsprechenden Alter, 2022 waren es 1,87 Millionen.

Auch weltweit gingen die Geburten von Teenagermüttern zurück. Wurden im Jahr 2000 im globalen Durchschnitt nach Angaben der Vereinten Nationen 64 Kinder je 1.000 junge Frauen im Alter von 15 bis 19 Jahren gezählt, waren es 2021 mit 42 Neugeborenen rund ein Drittel weniger.

Regional waren bei der Anzahl von Teenagergeburten große Unterschiede zu verzeichnen. Die international meis­ten frühen Teenagergeburten gab es 2021 in Zentralafrika mit 119 Neugeborenen je 1.000 junge Frauen zwischen 15 und 19 Jahren sowie in Westafrika mit 104 Neugeborenen. In Westeuropa kamen auf 1.000 junge Frauen noch sieben Neugeborene.

Die Zahl der frühen Schwangerschaften ist Bestandteil eines Indikatorensets, mit dem die globalen Nachhaltig­keitsziele der Vereinten Nationen überwacht werden.

Die Weltgemeinschaft will bis 2030 den allgemeinen Zugang zu sexual- und reproduktionsmedizinischer Versor­gung gewährleisten. Dazu zählen auch die Familienplanung, Information und Aufklärung sowie die Einbeziehung der reproduktiven Gesundheit in nationale Strategien und Programme. © mil/aerzteblatt.de

UMWELT

BILDUNG

MEDIEN – IT

Sicherheitsalarm: Cyberkriminalität in der Schweiz steigt

Die Anzahl der wöchentlich beim Nationalen Zentrum für Cybersicherheit (NCSC) gemeldeten Vorfälle steigt deutlich an. In der ersten Oktoberwoche 2023 verzeichnete die zentrale Meldestelle etwa 1.516 Instanzen, in denen die Cybersicherheit gefährdet wurde. Damit erreicht die Internetkriminalität in der Schweiz einen beispiellosen Höchstwert. Es handelt sich allerdings nicht nur um Schadensmeldungen, sondern vor allem auch um Meldungen zu Cybervorfällen, welche durch den Meldenden frühzeitig erkannt wurden und somit keinen Schaden anrichteten.

Wie die Statista-Grafik verdeutlicht, ist die Anzahl der Meldungen ab September (KW 37) steil angestiegen, war aber schon zu diesem Zeitpunkt auf einem deutlich höheren Niveau als etwa zu Jahresbeginn. Besonders häufig wurden dem NCSC Betrugsfälle gemeldet – rund 66 Prozent aller in der 40. Kalenderwoche gemeldeten Delikte. Phishing ist mit 16 Prozent der Meldungen die zweithäufigste Gefahr im Schweizer Internet.

Die Betrüger:innen gehen dabei geschickt vor. Den Behörden sind zuletzt vermehrt Fälle in der Videospiel-Community aufgefallen. Hier wurden Unbedarfte etwa mittels Social Engineering dazu verleitet als Spiele getarnte Malware herunterzuladen. Die Täter:innen attackieren ihre Opfer zunehmend über soziale Netzwerke aber nutzen auch den auf In-Game-Kommunikation spezialisierten Online-Dienst Discord um Schadsoftware zu verbreiten.

Deutsche fürchten sich am meisten vor Datenmissbrauch

Malware, Phishing, Social Engineering: Kriminelle Akteur:innen haben heutzutage zahlreiche Möglichkeiten, sich Zugriff zu sensiblen Nutzer:innendaten zu verschaffen. Trotz zusätzlicher Absicherung durch Zwei-Faktor-Authentifizierung (2FA) und der seit 2019 EU-weit verordneten Pflicht für Banken, beim Online-Banking 2FA zu implementieren, sehen viele Menschen im DACH-Raum ihre Daten online nicht als ausreichend geschützt an.

Wie die Grafik auf Basis unserer Statista Consumer Insights zeigt, sind vor allem deutsche Umfrageteilnehmer:innen diesbezüglich skeptisch. So geben 38 Prozent der Befragten hierzulande an, sich Sorgen um die Sicherheit ihrer Daten zu machen, während in der Schweiz und Österreich nur 31 respektive 30 Prozent dieser Auffassung sind. Entsprechend fühlen sich die befragten Österreicher:innen auch hinsichtlich ihres Schutzes vor Viren und Datenmissbrauch sicherer. 44 Prozent sind der Meinung, gut geschützt zu sein, in der Schweiz sind es hingegen nur ein Drittel der Teilnehmer:innen an der Umfrage.

Cybersicherheit wird nicht nur für Endnutzer:innen relevanter, auch aus wirtschaftlicher Sicht befindet sich der Sektor seit Jahren in stetigem Wachstum. 2022 betrug das globale Marktvolumen für Cyberlösungen wie Anwendungssicherheit, Cloudsicherheit, Datensicherheit und Netzwerksicherheit laut des Statista Technology Market Outlook geschätzte 68 Milliarden Euro und soll sich bis 2027 auf über 130 Milliarden Euro verdoppeln. In Deutschland wurden im vergangenen Jahr mit entsprechenden Lösungen 2,6 Milliarden Euro umgesetzt, der Großteil davon in Bereichen wie Endpoint-Security, Identity-&-Access-Management und Risikomanagement.

Gen Z weniger besorgt um Datenschutz

Im Internet ist beim Umgang mit sensiblen Daten besondere Vorsicht geboten. Cybercrime und Fälle von Datenmissbrauch haben in den letzten Jahren stetig zugenommen. Deshalb ist es wichtig schon Kinder und Jugendliche in Sachen Datenschutz zu schulen. Die junge Generation Z ist dahingehend eher sorglos, wie die Statista Consumer Insights suggerieren.

Nur etwa 28 Prozent der von 1995 bis 2012 geborenen Befragten haben angegeben ihre Daten aktiv zu schützen. Im Rahmen der Umfrage wurden auch die Altersgruppen den Baby Boomer (1946-64), Generation X (1965-79) und Millennials (1980-94) befragt – hier waren es jeweils mehr als ein Drittel der Befragten.

Der Überzeugung gegen Datenmissbrauch und Viren ausreichend geschützt zu sein, waren unter den “Zoomern” mit 31 Prozent ebenfalls die wenigsten. Bei den “Boomern” hingegen haben etwa die Hälfte der Umfrageteilnehmer:innen den Eindruck guten Schutz zu besitzen.

In dieser Hinsicht handelt es sich allerdings vermutlich eher um einen Trugschluss der älteren und eine realistische Einschätzung der jüngeren Generation. Denn die Methoden der Betrüger werden immer ausgereifter und der Leihe kann nur wenig gegen Hacker-Attacken unternehmen, außer sensible Daten von seinem PC fernzuhalten. Dass es keine gute Idee ist sensible Daten online zu speichern wissen unter allen Generationen jedoch nur eine Minderheit von 28 bis 35 Prozent – auch hier schneidet die Gen Z wieder am schlechtesten ab.

Das fehlende Engagement der Post-Millennials beim Datenschutz ist den Umfrageergebnissen zufolge nicht auf eine Fehleinschätzung der Gefahr zurückzuführen. Die Besorgnis, dass die persönlichen Daten im Internet missbraucht werden könnten, war bei der Gen Z ähnlich hoch wie bei allen anderen Generationen.

Regelmäßige Passwortänderung für Deutsche kaum Thema

Etwa ein Viertel der Deutschen tauschen wichtige Passwörter häufiger als einmal im Jahr aus. Das geht aus einer gemeinsamen Befragung von Statista und YouGov zum Thema Datensicherheit im Netz hervor. Auf der anderen Seite des Spektrums setzen zahlreiche Umfrageteilnehmer:innen ihre Passwörter nie neu, wie unsere Grafik zeigt.

Rund 12 Prozent der Befragten geben an, ihre Passwörter überhaupt nicht zu ändern, weitere 27 Prozent führen eine entsprechende Änderung nur unregelmäßig durch. Ein regelmäßige Passworttausch sei heutzutage allerdings laut des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) nicht mehr zeitgemäß. Nicht die Wechselhäufigkeit, sondern die Qualität der Passwörter sei wichtig, weswegen das BSI entsprechende Änderungsempfehlungen 2020 aus seinem IT-Grundschutz-Kompendium gestrichen hatte. Bei berechtigtem Verdacht auf Identitätsdiebstahl sei eine Passwortänderung natürlich weiterhin angebracht.

Laut aktuellem Bundeslagebild Cybercrime des Bundeskriminalamts (BKA) haben die Anzahl der der Cyberkriminalität zuzurechnenden Straftaten 2021 mit knapp 146.000 Fällen ein Rekordhoch erreicht. Der meistverbreitetste Eintrittsvektor für Kriminelle sei weiterhin das Phishing per Mail oder Webseite, wodurch verschiedenste Arten von Schadsoftware auf betroffenen Rechnern eingeschleust werden können. Durch derartiges Vorgehen können beispielsweise Datenbanken von Unternehmen gehackt, Nutzer:innenkonten kompromittiert und die darin enthaltenen Daten weiterverkauft oder im Netz veröffentlicht werden. Das Hasso-Plattner-Institut listete allein für 2021 rund 185 Millionen geleakte Konten auf.

E-Mails bleiben größtes Sicherheitsrisiko

Fast jede:r dritte Deutsche hat 2021 einen Phishing-Versuch erlebt und knapp 21 Prozent haben im vergangenen Jahr E-Mails mit Schadinhalt empfangen. Das geht aus der jährlichen Umfrage des Vereins Deutschland sicher im Netz hervor, in der über 2.000 Deutsche zum Thema IT-Sicherheit und Digitalkompetenz befragt wurden. Auch abseits von gängigen E-Mail-Praktiken sind klassische Cyberkriminalitätsvorfälle weiterhin am weitesten verbreitet, wie unsere Grafik zeigt.

So gaben beispielsweise rund elf Prozent der Befragten an, einer Betrugsmasche bei Online-Käufen oder -Buchungen begegnet zu sein, Belästigung und Mobbing erlebten etwa neun Prozent der Umfrageteilnehmer:innen. Vergleichsweise neue Technologien scheinen hingegen auf dem Papier weniger anfällig für IT-Sicherheitsvorfälle zu sein. Lediglich knapp vier Prozent berichteten von Manipulationen ihrer Smart-Home-Geräte, etwa sechs Prozent von Betrug in Zusammenhang mit digitalen Währungen. Diese niedrigen Werte lassen sich potenziell durch die vergleichsweise geringe Penetration der entsprechenden Technologien erklären. Laut unserer Statista Global Consumer Survey besitzen beispielsweise nur sieben Prozent der Deutschen Kryptowährungen. Die Anzahl an mit Smart-Home-Technologie wie Haushaltsgeräten, Sicherheitskameras und Rauchmeldern ausgestatteten Häusern lag entsprechend der Schätzungen unseres Statista Technology Market Outlook 2021 zwischen einer und zwei Millionen, während geschätzt rund fünf Millionen Haushalte mit einem Smart Speaker ausgestattet waren.

Um auf Cyberkriminalität aufmerksam zu machen und Digitalkompetenz zu schulen, findet jährlich an jedem zweiten Tag der zweiten Woche des zweiten Monats der Safer Internet Day statt. In Deutschland wird die Aktion durch das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und den Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien getragen. Der diesjährige Safer Internet Day am 8. Februar steht unter dem Motto „Fit für die Demokratie, stark für die Gesellschaft“.

Vereinigte Staaten der Datenpannen

Nutzerdaten von über 212 Millionen Accounts in den USA wurden 2021 durch Hacking, Phishing oder Selbstverschulden von Unternehmen kompromittiert. Das ist das Ergebnis einer Analyse des Cybersicherheitsunternehmens Surfshark, das öffentlich zugängliche Datensätze zu Datenschutzverletzungen untersucht hat.

Den zweiten Platz belegt der Iran mit 156,1 Millionen Betroffenen, gefolgt von Indien (86,6 Mio.), Russland (27 Mio.) und Frankreich (24,6 Mio.). In Deutschland befanden sich in den letzten 12 Monaten etwa 10,3 Millionen Nutzerkonten unter den Geschädigten. Insgesamt war im Jahr 2021 schätzungsweise jede:r fünfte Internetnutzer:in weltweit betroffen.

Des Weiteren haben die Sicherheitsexpert:innen 2021 weltweit rund 73 Datenlecks mit über einer Million kompromittierten Accounts identifiziert – 26 davon in den USA. Darunter waren unter anderem die Vorfälle bei Facebook, Clubhouse und die “Compilation of multiple Breaches” (COMB), von der beispielsweise auch Netflix und LinkedIn betroffen waren.

Der Iran stach unter den Ländern, in denen die Zahl der Sicherheitsverletzungen am stärksten zunahm, besonders hervor. Mit 10.842 % (von 1,4 Mio. auf 156,1 Mio.) verzeichnete das Land den höchsten Zuwachs im Jahresvergleich, was in erster Linie auf den Hacker-Angriff bei Raychat.io zurückzuführen ist. Raychat ist eine der beliebtesten Messaging-Apps des Landes.

RECHT

GESELLSCHAFT – RELIGION – POLITIK

Zahl der Teenagergeburten stark rückläufig

Wiesbaden – Die Zahl der geborenen Kinder von Teenagermüttern ist in den vergangenen Jahrzehnten sowohl in Deutschland als auch weltweit deutlich zurückgegangen. Dies teilte heute das Statistische Bundesamt (Destatis) anlässlich des Weltmädchentags am 11. Oktober mit. => MEDIZIN

Wien: Antisemitische Kirchenfenster in der Pauluskirche feierlich mit Stoffbahnen verhüllt

Hennefeld: „Modellhaftes Kunstprojekt“

Wien (epdÖ) – Vierzehn Fenster mit antisemitischen Bildmotiven sind am Sonntag, 8. Oktober, in der evangelischen Pauluskirche im 3. Wiener Bezirk mit eigens angefertigten, farbigen Stoffbahnen verhüllt worden. „Die Kirchenfenster stellen Juden verletzend dar“, sagte Pfarrerin Elke Petri zu Beginn des Gottesdienstes. „Die Fenster zeigen Jesus als arischen, blonden Jüngling und die Mädchen sehen aus, als seien sie der Hitlerjugend entsprungen.“ Gestaltet wurden sie in den 1960er Jahren vom NS-Künstler Rudolf Böttger (der epdÖ berichtete).

„Verhüllung als Fokussierung ist ein Stilmittel in der religiösen Kunst“, erklärte die Künstlerin Gabriele Petri, die das Projekt künstlerisch begleitete. „Durch das Verhüllen soll nicht das Vergessen oder Verdrängen ermöglicht, sondern vielmehr eine Erinnerung wachgehalten werden.“ Zusätzlich zum Erinnern, so Pfarrerin Elke Petri, würden durch das Kunstprojekt jetzt auch die Werte der Pfarrgemeinde mitkommuniziert. So ist auf jeder Stoffbahn entweder das Wort „Glaube“, „Liebe“ oder „Hoffnung“ zu lesen. Lisa Pacchiani, die das Projekt pädagogisch begleitete, meinte: „Was ich gelernt habe und den Jugendlichen sowie Ihnen allen mitgeben möchte, ist, dass wir Menschen Entscheidungen treffen, dass Dinge passieren – wir aber immer etwas dagegen tun können.“

Aktives Mitgestalten durch Jugendliche

Jugendliche der Pauluskirche waren in das Projekt der Verhüllung von der Idee bis zur Umsetzung eingebunden. So war der Höhepunkt des Gottesdienstes auch die aktive Verhüllung dreier Fenster durch Jugendliche. Anna Eschenbach, Lukas Ofenböck, Felicitas Werb und Felix Werb aus der „Pauli-Jugend“ erklärten dabei, warum sie welches Wort für welches Fenster ausgewählt hatten. So hängten sie zum Beispiel vor dem Buntglasfenster des schreibenden Paulus den Schriftzug „Glaube“ und begründeten dies mit: „Der Glaube motivierte Paulus, seine Erfahrungen aufzuschreiben. Die Paulusbriefe motivieren und begeistern auch heute noch zum Glauben. Und Glaube kann bewahrt werden in den Briefen von Paulus, aber auch in Kunst wie den Fenstern oder den Stoffen.“

Mit der Verhüllung der Kirchenfenster geht für die Jugendlichen ein einjähriges Projekt zu Ende, bei dem sie gern eine tragende Rolle für die Gemeinde übernommen haben. „Es ist eine Ehre, dass wir im Kirchenraum so etwas Wichtiges gestalten durften“, bedankte sich Felix Werb.

Diskurs über Antijudaismus

Namens des Evangelischen Oberkirchenrates A.u.H.B. würdigte der reformierte Landessuperintendent Thomas Hennefeld das Kunstprojekt. „Für mich ist es schwer zu verstehen, warum ein NS-Künstler diese Fenster trotz Berufsverbotes gestalten konnte. Wie die Gemeinde der Pauluskirche damit umgeht und sich auseinandersetzt, ist für mich modellhaft, denn es gibt für solche Fälle kein Patentrezept“, sagte Hennefeld in seinem Grußwort. „Es ist großartig zu sehen, wie das Kunstprojekt den Diskurs über die Kirchenfenster, über Antijudaismus auslöst”, so der Landessuperintendent, der auch Beauftragter der Evangelischen Kirche A.u.H.B. in Österreich für den christlich-jüdischen Dialog ist.

Die nun erfolgte Verhüllung ist nur eine Übergangslösung in der Auseinandersetzung der Pfarrgemeinde mit den antijüdischen Fenstern. In den kommenden Jahren sollen die Fenster im Zuge einer thermischen Sanierung ausgetauscht werden. Aus den Scherben der Böttger-Fenster soll dann eine Gedenkstelle errichtet werden.

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Körtner warnt vor „Platonisierung“ des Christentums durch KI

Theologe betont in „Furche“-Gastbeitrag fehlende Glaubensbezeugung durch Künstliche Intelligenz

Wien (epdÖ) – Die Diskussionen um die Chancen und Gefahren von Künstlicher Intelligenz (KI) kreisen dem evangelischen Theologen Ulrich Körtner zufolge meist um ethische und politische Fragen zur Kontrolle und Regulierung digitaler Technik. In einem Gastbeitrag für die Wochenzeitung „Furche“ vom 5. Oktober schreibt Körtner über die Gefahr einer „neuen Platonisierung des Christentums“ infolge der Ausbreitung von KI, welcher es gegenzusteuern gelte.

Der „vernehmende Glaube“ selbst lasse sich nicht simulieren, zeigt sich der Ordinarius für Systematische Theologie evangelisch-theologischen Fakultät der Uni Wien überzeugt. Auch könne „niemand im Glauben – nämlich darin, Gott über alle Dinge zu fürchten, zu lieben und zu vertrauen, durch einen anderen ersetzt werden“.

Das Hören und Verstehen selbst, als Akt der Rezeption, stelle in der reformatorischen Tradition einen Teil des Glaubens dar. Dieser könne laut Körtner mittels unterschiedlicher Medien geweckt werden. „Es ist letztlich ein geistliches Geschehen, das auf das Wirken des Heiligen Geistes zurückgeführt wird“, so der Theologe. Personen könnten „als Zeugen persönlichen Glaubens und des göttlichen Wortes, die Rede und Antwort stehen“, durch keine KI und keinen Avatar ersetzt werden. Schließlich sei Glaube „ein ganzheitlicher Lebensakt, der sich wie unser endliches, leibliches Leben nicht simulieren lässt“.

In seinem Beitrag nahm Körtner zunächst Bezug auf den evangelischen Kirchentag im bayerischen Nürnberg im Mai diesen Jahres, auf dem zum ersten Mal ein vom KI-Programm ChatGPT verfasster Gottesdienst gefeiert wurde, sowie die folgenden geteilten Reaktionen. Dazu schreibt Körtner: „Neben praktischen und ethischen Fragen stellt sich die Grundsatzfrage, was überhaupt unter Glauben und Glaubenskommunikation im digitalen Zeitalter zu verstehen ist. Anders gefragt: Was hat das alles mit Gott zu tun?“

Aus der Feier ließen sich viele Fragen ableiten, so Körtner: Genügt am Ende die perfekte Simulation, um einen Gottesdienst zu feiern, und ein Prediger, „der nicht als Person aus Fleisch und Blut für das einsteht, was er sagt?“ Auch die Frage nach der Unterscheidung zwischen einem möglicherweise zeitversetzten Fernsehgottesdienst und einem Internet-Gottesdienst, der von einem Avatar geleitet wird, werde virulent.

Im digitalen Zeitalter scheine Gott aus der Welt der Algorithmen ins Nichts verschwunden zu sein. Die Macht, die einst Gott und seit der Aufklärung dem Menschen zugesprochen wurde, werde auf die allgegenwärtigen und scheinbar allmächtigen Algorithmen übertragen, kritisiert Körtner. „Entscheidend ist letztlich die Frage, ob Glauben und das Evangelium als Grund des Glaubens authentisch bezeugt oder nur simuliert werden“, unterstreicht der Theologe.

Im Hinblick auf die Körperlichkeit sei die aktuelle Zeit von einer eigentümlichen Paradoxie gekennzeichnet: „Einerseits erleben wir in allen Lebensbereichen einen ungeahnten Körperkult, bei dem die eigene Identität ganz auf die Körperlichkeit, das äußere Erscheinungsbild wie das körperliche Wohlbefinden, reduziert wird. Andererseits aber sind wir, wenn es um Künstliche Intelligenz und virtuelle Welten geht, Zeugen einer erstaunlichen Entmaterialisierung“, so Körtner weiter.

Allerdings sei der Mensch weder auf körperlose Intelligenz noch auf Körperlichkeit beschränkt, betont der Ethiker. Hier gelte es anzusetzen, wenn es darum gehe, sich den Herausforderungen der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz für Theologie und Kirche theologisch zu stellen. Auch für die Kommunikation des Evangeliums ließen sich digitale Formen einsetzen. „Weshalb sollte man nicht auf ein Medium wir ChatGPT bei der Predigtvorbereitung zurückgreifen, solange der Prediger oder die Predigerin noch die Verantwortung für den Inhalt trägt, der auf der Kanzel vorgetragen wird?“ fragt Körtner.

Entscheidend sei die Frage, ob Glauben und das Evangelium als Grund des Glaubens authentisch bezeugt oder nur simuliert werden. Glaube, als die „Erfahrung mit der Erfahrung“, könne eben nur der Mensch erleben. „Rechenprogramme machen keine Erfahrungen und schon gar nicht Erfahrungen mit Erfahrungen. Sie können sie bestenfalls simulieren“, schreibt der Theologe.

„Links ist nicht woke“ von Susan Neiman – Mit Kant und Diderot gegen die „woke“ Party

Susan Neiman, Philosophin und Leiterin des Potsdamer Einstein-Forums, versucht sich mit dem Essay „Links ist nicht woke“ an einer Ehrenrettung der Aufklärung.

Als ein Gedicht von einer Hauswand entfernt, ein zeithistorischer Roman wegen Verwendung des N-Worts als Schulstoff delegitimiert und modisches Tragen von Rastalocken zum Anlass für einen Konzertabbruch genommen wurden, geschah dies jeweils im Namen einer höheren Gerechtigkeit. Vorausgegangen waren politische Interventionen gegen die arglose Fortführung des Gewohnten. Die aktivistische Energie, die die überaus erfolgreichen kulturpolitischen Eingriffe befeuerte, ging einher mit weitgehend ungeprüften Annahmen und Unterstellungen zur ästhetischen Produktion. Ein einziges Wort in Eugen Gomringers „Avenidas“ evozierte das Unbehagen gegen sexuelle Gewalt und lastete es dem Gedicht an. Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ wurde einer rassistischen Sprache bezichtigt, und von Nicht-Jamaikanern gespielter Reggae samt Präsentation zugehöriger Frisuren wurde als kulturelle Aneignung gewertet und es wurde zur Absage gedrängt.

In der öffentlichen Wahrnehmung werden Geschehnisse wie diese mal amüsiert oder empört zur Kenntnis genommen. Je nach Gemütslage können sie achselzuckend als Randnotiz gesellschaftlicher Selbstverständigung oder als weiteres Indiz für einen eskalierenden Kulturkampf aufgefasst werden. Dass der Karneval der Infragestellungen irgendwann auch über Immanuel Kant und die Aufklärung hinwegziehen würde, kam kaum überraschend. Gegen die Angriffslust einer auf Empfindsamkeit und partikulare Interessen ausgerichteten Weltsicht haben Hermeneutik, Philologie und das Wissen über geschichtliche Entwicklung einen schweren Stand.

In ihrem Essay „Links ist nicht woke“ ist die US-amerikanische Philosophin Susan Neiman, Leiterin des Einstein-Forums in Potsdam, darum bemüht, die elementaren Grundlagen der Epoche der Aufklärung gegen frei flottierende Bestrebungen in Stellung zu bringen, diese im Furor einer Art ethischen Säuberung über Bord zu werfen. Eine radikal verstandene Dekolonisierung scheint gerade vor Kant nicht Halt machen zu wollen, den man einiger rassistischer Bemerkungen überführt zu haben meint.

Susan Neiman hält beherzt dagegen. Es sei inzwischen zum Credo geworden, den Universalismus ebenso wie andere Ideen der Aufklärung als Taschenspielertricks zu betrachten, mit dem die eurozentrischen und kolonialistischen Ansichten verschleiert werden sollten. Dabei seien es die Aufklärer gewesen, die die Kritik am Eurozentrismus als Erste formuliert und den Kolonialismus verurteilt haben. „Um das zu erkennen, muss man keine der schwierigeren Schriften der Aufklärung lesen: Eine Taschenbuchausgabe des ‚Candide‘ genügt da vollkommen. Wer eine prägnante Schmährede gegen Fanatismus, Sklaverei, koloniale Ausplünderung und andere europäische Übel sucht, wird keine bessere finden.“

Voltaire, Kant, Diderot, Rousseau – als leidenschaftliche linke Philosophin möchte Susan Neiman mit Argumenten überzeugen, und so kann man ihre engagierte Schrift mit Gewinn als Apologie der Aufklärung gegen ihre jungen Verächterinnen und Verächter lesen, wobei Neiman selbst mitunter zu schwanken scheint, ob sie die ungezogenen Kinder der Wokeness für deren Arglosigkeit zurechtweisen oder sie für die Werte und Werke sowie den Erkenntnisreichtum der Aufklärung zurückgewinnen will.

Für Letzteres sprechen Passagen wie diese: „Wenn postkoloniale Theoretiker von heute mit Recht darauf bestehen, dass wir die Welt auch aus dem Blickwinkel von Nichteuropäern sehen, sind sie Teil einer Tradition, die bis auf Montesquieu zurückgeht. Er machte fiktive Perser zum Sprachrohr seiner Kritik an den Sitten in Europa, die er in dieser Deutlichkeit und Härte mit seiner eigenen Stimme als Franzose nicht unbeschadet hätte äußern können.“ [in: Persische Briefe hier] Und zur Kritik an Kant gesteht sie zu, dass dieser leider nie angesprochen habe, dass seine rassistischen Bemerkungen der eigenen späteren systematischen Theorie widersprachen. Doch es sei fatal zu vergessen, so Neiman, dass Denker wie Rousseau, Diderot und Kant die ersten waren, die den Eurozentrismus und den Kolonialismus verurteilten.

Drei aufklärerische Errungenschaften sind es, an denen Susan Neiman unbedingt festhalten möchte: das Bekenntnis zum Universalismus, die prinzipielle Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Macht und die Möglichkeit von Fortschritt. Aus diesem Grund betreibt sie einigen argumentativen Aufwand, um sich mit den in woken Gefilden überaus einflussreichen Schriften Michel Foucaults auseinanderzusetzen, der mit seinen geschichtsarchäologischen Studien früh die Axt angelegt hat an emphatische Begriffe wie Freiheit und Gerechtigkeit.

Obwohl Foucault sehr viel zum Verständnis der in modernen Gesellschaften herrschenden Machtmechanismen beigetragen habe, hält Neiman ihn für einen Reaktionär, dessen Lust an der Demaskierung womöglich einzig darin bestand, die Subversion zur Kunstform zu erheben. Wie ein nachhaltig wirksames Gift, so legt Neiman nahe, sei Foucaults Ablehnung des Universalismus und jeglicher Fortschrittsidee in die aktivistischen Kreise eingedrungen.

Ohne Universalismus aber gebe es kein Argument gegen Rassismus, „sondern bloß einen Haufen einzelner Stämme, die um die Macht rangeln. Und sollte die politische Geschichte darauf hinauslaufen, dann haben wir keine Möglichkeit mehr, an einer stabilen Idee von Gerechtigkeit festzuhalten“. Was man „woke“ nennt, so schließt Neiman, sei selbst von einer Reihe von Ideologien kolonisiert worden, die eigentlich ins rechte Lager gehören.

Während Neiman reichlich Energie aufwendet, um den von vielen als linke Galionsfigur angesehenen Foucault zu exorzieren, kommen andere theoretische Referenzen der woken Bewegung wie Judith Butler oder Edward Said allenfalls am Rande vor. Wenn dies der Option geschuldet ist, eine linke Aufgeschlossenheit zur Wokeness offenzuhalten, dann dürfte es mit Thomas Piketty, den Neiman zustimmend zitiert, eine skeptische sein.

Wenn man die Menschen glauben mache, dass es zu den bestehenden sozio-ökonomischen Verhältnissen und Klassenungleichheiten keine glaubwürdige Alternative gebe, so resümiert Piketty, dann sei es kein Wunder, dass alle Hoffnung auf Veränderung sich auf die Feier der Grenze und der Identität verlagere.

Links gegen woke: Eine Breitseite aus dem Glashaus

Wenn Woke nicht das neue Links ist, was ist denn der Kern des Linksseins? Ein Zwischenruf zu Susan Neimans Buch „Links ist nicht woke“. Von Geert Keil.

Frankfurt – Nein, Woke ist nicht das neue Links, findet die Philosophin Susan Neiman. In ihrer um Zuspitzung nicht verlegenen Streitschrift hält sie der woken Bewegung vor, die universalistischen Ideale der Aufklärung preisgegeben zu haben und statt dessen aus trüben Quellen zu schöpfen: aus dem Freund-Feind-Denken Carl Schmitts und Foucaults diffuser Machtkritik, die Neiman für reaktionär hält.

Vom rechten Pfad der linken Tugenden seien die Woken an drei Stellen abgekommen: Den moralischen Universalismus hätten sie zugunsten von „Stammesdenken“ aufgegeben, nämlich der Parteinahme für einzelne Opfergruppen. Sie reduzierten zweitens Gerechtigkeitsfragen auf Machtfragen und hätten sich drittens vom Glauben an die Möglichkeit des Fortschritts verabschiedet.

Neimans Buch ist in allen großen Feuilletons besprochen worden. Dabei zeichnet sich ein Muster der Kritik ab: Es wird nicht bestritten, dass es die genannten Tendenzen gibt. Bestritten wird, dass diese gemeinsam eine ominöse „woke Bewegung“ ausmachen. Insbesondere wird Neiman ein Mangel an Belegen vorgehalten. Sie lasse die Kritisierten nicht zu Wort kommen, bleibe den Textnachweis der Verirrungen schuldig und werfe zu viel Unterschiedliches in einen Topf. Hilal Szegin und Novina Göhlsdorf sprechen von einem „Schattenboxen“. Wokeness werde nirgends zufriedenstellend definiert, die Kontaktschuld mit Carl Schmitt sei bloß herbeigeredet.

In diese Kerben möchte ich nicht mehr schlagen, sie sind nun tief genug. Susan Neiman war tatsächlich nicht gut beraten, die mit guten Gründen kritisierten Auffassungen – das Freund-Feind-Denken, den Tribalismus, die Fixierung auf Machtfragen – zu bündeln, als definierende Merkmale einer „woken Bewegung“ auszugeben und dieser dann noch Einflüsterer anzudichten.

Mein Zwischenruf betrifft nicht Neimans Kritikziel, sondern ihr Gegenbild der wahren Linken. Wenn Woke nicht das neue Links ist, was ist denn der Kern des Linksseins, den Neiman so vehement gegen diejenigen verteidigt, die falsch abgebogen seien? Für Neiman ist die Sache klar: Dieser Kern sind eben die aufklärerischen Ideale, die ihr am Herzen liegen – Universalismus, Gerechtigkeit, Fortschritt. Ich wäre mir da nicht so sicher. Gehört insbesondere der moralische Universalismus wirklich zur DNA der politischen Linken?

Gibt es noch einen linken Markenkern?

Durch philosophische Begriffsanalyse wird man das nicht herausbekommen. „Links“ ist eine historisch kontingente Bezeichnung, die auf die Sitzordnung im französischen Parlament ab 1830 zurückgeht. Halten wir uns zunächst an die politische Linke in Deutschland, wie sie in der gleich-namigen Partei, dem linken Flügel der Sozialdemokratie, der Gewerkschaften und der Sozialverbände institutionalisiert ist. Hier dürfte sich auch heute noch ein Markenkern ausmachen lassen. Er besteht in einer bestimmten Einstellung zu sozialer Ungleichheit. Links ist, mehr Umverteilung und gesellschaftliche Teilhabe zu fordern statt bloß formaler Chancengleichheit. Was auch immer sonst noch zum Linkssein gehört, zentral ist das, was man in der politischen Philosophie eine egalitäre Orientierung nennt. Links ist etwa, eine kräftige Anhebung des Min-destlohns, eine Vermögenssteuer oder höhere Sozialleistungen zu befürworten.

Zum Linkssein gehört aber auch eine bestimmte Rangordnung politischer Ziele. Links ist es, den Abbau von Ungleichheit oder zumindest mehr soziale Sicherheit weit oben auf die Liste der politischen Prioritäten zu setzen. Deshalb gehört es zur politischen DNA der Linken – nun spreche ich von der gleichnamigen Partei –, politische Streitthemen wie das Heizungsmodernisierungsgesetz oder Boykottmaßnahmen gegen Russland zunächst einmal darauf zu prüfen, ob ökonomische Belastungen für „die kleinen Leute“ zu erwarten sind, die heute „die Menschen im Lande“ heißen.

„Aber die Linke hat sich doch modernisiert!“

Nun hat sich die Linke kulturell modernisiert und scheint nicht mehr allein auf Verteilungsfragen fixiert zu sein. Führt sie nicht heute viel häufiger Anerkennung und Gerechtigkeit im Munde statt ökonomischer Gleichheit? Und hierhin gehört die Wokeness im Sinne einer gesteigerten Sensibilität für Ungerechtigkeit gegenüber Angehörigen marginalisierter Gruppen.

Susan Neiman ist nicht die erste, die hier einen Konflikt sieht. Nancy Fraser, Bernd Stegemann und andere haben den progressiven Mainstream der „kulturalistischen Linken“ dafür kritisiert, dass er sich von ökonomischen Kämpfen auf kulturelle verlegt habe: Die Klassenfrage veraltet, LGBTQ+ kommt, der Kapitalismus bleibt.

Es ist allerdings nicht zu sehen, warum Sensibilität für gruppenbezogene Benachteiligung der egalitären Agenda der klassischen Linken widersprechen sollte. Es geht der kulturalistischen Linken nicht allein um symbolische Anerkennung, sondern um Rechte. Sie könnte der Kritik entgegenhalten, dass es einen beträchtlichen Überschneidungsbereich zwischen einer verteilungspolitischen Agenda und dem Einsatz für die Rechte marginalisierter Gruppen gebe. Wo soll hier der Konflikt sein? Woke sei vielleicht nicht das neue Links, aber doch ein wichtiger Teil davon.

Langsam. Eine Überschneidung in dem Sinne, dass viele sich als links identifizierende Personen und Milieus einen großen Teil der genannten Auffassungen teilen, gibt es sicherlich: für Minderheiten-rechte, Anerkennung, Diversität, aber auch für soziale Sicherheit und egalitärere Verteilung. Nun steht aber gerade in Frage, was ein solches Bündel von Auffassungen „links“ macht. Wodurch wird es zusammengehalten? Die Frage nach dem linken Markenkern ist keine soziologische, Neiman hält das linke Selbstverständnis der woken Bewegung für ein Selbstmissverständnis. Diese Kritik entkräftet man nicht durch Bekräftigung einer Selbstzuordnung.

Seine kritischen Maßstäbe ausweisen

Im Mai 1802 äußerte sich Napoleon im Staatsrat zum Sklavenaufstand auf Saint-Domingue: „Ich bin für die Weißen, weil ich weiß bin. Ich habe keinen anderen Grund, und der ist der beste.“ Was für Napoleon der beste Grund war, war ein erbärmlich schlechter. Aber warum war er schlecht? Weil die Weißen in diesem Fall die französischen Kolonisatoren waren? Oder nicht doch eher, weil koloniale Versklavung menschenrechtswidrig und moralisch nicht zu verteidigen ist? Wäre Versklavung moralisch besser, wenn Toussaint Louverture sie als Schwarzer unterstützt hätte? Wenn er moralisch so korrupt gewesen wäre wie Napoleon?

Aus Sicht des politischen Aktivismus mag das eine akademische oder sogar frivole Frage sein. Politische Bewegungen beruhen auf einem Zusammenschluss mit Gleichgesinnten, die durch Überzeugungen oder Interessen zusammengehalten werden. Die jeweiligen politischen Ziele erscheinen dann als normative Selbstläufer: Selbstredend muss Raubkunst zurückgegeben, Geschlechtsangleichung erleichtert, der Kapitalismus überwunden werden. Außerhalb von Blasen Gleichgesinnter ist es nicht so einfach. Spätestens beim Versuch, demokratische Mehrheiten zu gewinnen, muss man Gründe dafür liefern, dass etwas moralisch richtig oder falsch, geboten oder unakzeptabel ist. Von dieser Zumutung bleibt auch nicht verschont, wer das Herz auf dem linken Fleck hat oder zu haben glaubt. Habermas hat das in einer auf Adorno gemünzten Bemerkung so ausgedrückt, dass eine kritische Gesellschaftstheorie in der Lage sein müsse, die Maßstäbe ihrer Kritik auszuweisen.

Die Kritische Theorie ist ein gutes Beispiel für diese Herausforderung, verknüpft sie doch ihre Theo-riearbeit mit einer emanzipatorischen, also politischen Agenda. Es gehört bis heute nicht zu ihren Stärken, normativ zu begründen, warum bestimmte Ziele geboten sind. Die Kritische Theorie ist nicht sonderlich gut in normativer Ethik und findet das auch gut so. Wenn man sich akademisch und politisch vornehmlich mit Gleichgesinnten umgibt, fällt dieses Defizit auch nicht so auf.

Erst kommt das Interesse, dann die Moral

Neiman betrachtet die Linke durch die rosarote Brille ihres aufklärerischen moralischen Universalismus kantischer Prägung. Tatsächlich spielt für die klassische Linke das Interesse eine ungleich größere Rolle als die Moral. Interessen sind aber ihrer Natur nach partikular. Sie gründen nicht darauf, dass etwas moralisch richtig wäre, sondern darauf, dass jemand oder eine Gruppe etwas will. In Reinform sieht man das in Tarifkonflikten: Die Arbeitnehmerseite hat ein Interesse daran, einen größeren Teil vom Unternehmensgewinn abzubekommen. Die Arbeitgeber wollen den Gewinn für sich selbst, für die Aktionäre oder für künftige Investitionen. Beide Seiten verstehen sich darauf, ihr Interesse als Gemeinwohl auszugeben, aber im Kern bleibt es ein Interessenkonflikt – ein Verteilungskampf, der durch die Verhandlungsposition oder die besseren Nerven entschieden wird.

Ein deprimierendes Beispiel für die moralisch vergiftende Kraft interessebasierten Denkens bietet die Debatte über „weiße Privilegien“ und „weiße Ignoranz“. Der Philosoph Charles W. Mills geht von der bedenkenswerten Einsicht aus, dass marginalisierte Gruppen in der Regel ein Interesse daran haben, die soziale Welt zu verstehen, etwa um gefährliche Situationen zu meiden. Privilegierte, die weniger Gefahren ausgesetzt sind, hätten dieses Interesse nicht. So weit, so gut. Mills behauptet dann aber weiter, Weiße besäßen ein aktives „weißes Gruppeninteresse“ daran, die soziale Welt verzerrt wahrzunehmen, weil sie schließlich von bestehender rassistischer Diskriminierung profitierten.

Das ist eine komplett deprimierende Sichtweise – moralisch, politisch und philosophisch. Warum um alles in der Welt sollten nicht von rassistischer Diskriminierung Betroffene ein aktives Interesse daran haben, dass der Rassismus fortbesteht? In der Rahmung von Privilegien und Interessen erscheint tatsächlich jeder Fortschritt als Nullsummenspiel: Was die einen gewinnen, müssen die anderen abgeben. Emanzipatorisches Handeln erscheint dann als parteiischer Machtkampf. Auch der Ausgang ist dann schlicht eine Machtfrage, die Stärkeren gewinnen. Nun ist aber die Anerkennung und Durchsetzung von Rechten als Interessenkonflikt fehlbeschrieben. Die Gewährung gleicher Rechte ist gerade kein Nullsummenspiel, sondern eine Win-Win-Situation. Warum sollte es im Gruppeninteresse der Weißen liegen, dass Schwarze häufig von Polizeigewalt betroffen sind? Es ist auch kein „Privileg“, nicht von der Polizei verprügelt oder erschossen zu wer-den, sondern schlicht ein Recht.

Man sieht an diesem Beispiel, wie vergiftend es sein kann, die Verweigerung moralischer und politischer Rechte in Form von gruppenspezifischen Privilegien zu beschreiben. Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung wusste es besser. Wie es in einem Song über die Ermordung des schwarzen Bürgerrechtlers Medgar Evers heißt, den Neiman zitiert: „All men are slaves till their brothers are free“.

Moralischer Universalismus ist unersetzlich

Der moralische Universalismus, der allen Menschen ungeachtet ihrer Gruppenzugehörigkeit dieselben Grundrechte zubilligt, hat sich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nieder-geschlagen. Auch diese Erklärung weist ihren kritischen Maßstab nicht aus, sondern setzt ihn voraus; der Text ist keine philosophische Abhandlung. Die Begründung des moralischen Universalismus ist eine Aufgabe für die normative Ethik. Kant hat mit seiner Herleitung des kategorischen Imperativs einen ziemlich guten Vorschlag gemacht, aber auch die meisten anderen Ethiken der philosophischen Tradition sind universalistisch – auch außerhalb von Europa: Neiman beklagt mit Recht, dass Philosophen aus dem globalen Süden selektiv zugehört wird. Schwarze Denker wie Ato Sekyi-Otu, die einen „linken Universalismus“ verteidigen, passen nicht in den Mainstream dekolonialistischer Theoriebildung.

Der moralische Universalismus ist auch strategisch überlegen, wenn Ansprüche aufeinandertreffen. Neiman illustriert diese Überlegenheit mit einer einfachen Frage: „Betrachtet man die Forderungen von Minderheiten nicht als Menschenrechte, sondern als Rechte einer bestimmten Gruppe, was hindert dann die Mehrheit daran, auf ihren eigenen zu bestehen?“ (35). Im Interessenkonfliktsmodell hindert sie nichts daran. Und die klassische politische Linke argumentiert nun einmal – wie Mills – interessenbasiert statt moralisch: Es ist doch nur erwartbar, dass die Überprivilegierten von sich aus nichts abgeben wollen, das wäre gegen ihr Interesse. Deshalb müssen die Unterprivilegierten sich organisieren, stärker werden, ihre eigenen Interessen im Kampf durchsetzen. Marx, Engels und Lenin setzten auf den revolutionären Klassenkampf, Dutschke und die Sozialdemokratie auf den Marsch durch die Institutionen, Gewerkschaften auf den Arbeitskampf. Kulturalistisch-identitäre Linke setzen auf das Erlangen kultureller Hegemonie, zumindest in den maßgeblichen Milieus.

„Aber gleiche Rechte mussten doch erkämpft werden!“

Bürgerliche Linksliberale wie Rawls und Habermas, die auf den Diskurs, die Vernunft und das Recht setzen, müssen sich von kämpferischen Linken oft daran erinnern lassen, dass gleiche Menschen- und Bürgerrechte historisch erstritten werden mussten und dass dieser Kampf ein linker gewesen sei. Richtig, es bedurfte und bedarf manchmal des Drucks der Straße oder des zivilen Widerstands, um gesellschaftliche Veränderungen in Gang zu setzen. In autoritären Staaten, die politische Betätigung verfolgen, kann dazu auch Waffengewalt gehören.

Hier stand indes zur Debatte, worin die DNA des Linksseins besteht. Dazu können der Druck der Straße oder der bewaffnete Kampf schon deshalb nicht gehören, weil nichtfriedliche Mittel als Ultima ratio auf beiden Seiten des politischen Spektrums vorkommen. Spezifisch links wären erst Merkmale, die linke Militanz von rechter unterscheiden.

Wer in einem demokratischen Staat Gruppenrechte einfordert, braucht etwas, an das er appellieren kann. Der moralische Universalismus der Aufklärung ist ein solcher Standard, den man beim Wort nehmen kann. Dasselbe gilt für den Grundrechtskatalog unserer Verfassung. Hingegen liefert der Verweis auf ein Interesse keinen solchen Maßstab. Übrigens auch nicht die Existenz von Leid: Manches Leid ist unvermeidlich, manchmal ist die Vermeidung nur auf Kosten größerer anderer Übel möglich, es gibt deshalb keinen kategorischen Imperativ der Leidvermeidung.

Universalismus als Deckmantel?

Das stärkste Kapitel von Neimans Buch ist das zweite, in dem sie die europäische Aufklärung gegen den um sich greifenden Vorwurf verteidigt, der Universalismus habe bloß die partikularen Interessen Europas verschleiert, mit Kolonialismus und Rassismus aber keine Probleme gehabt. Dieses postkolonialistische Narrativ sei nur schwach von Textkenntnis getrübt. Rousseau, Diderot, Lahontan und Kant gehörten zu den ersten, die den Eurozentrismus und den Kolonialismus verurteilten. Die koloniale Gewaltherrschaft hatte keinerlei Recht, sich auf aufklärerische Ideen zu berufen. An diesem Befund würde sich übrigens auch nichts ändern, wenn es dem Hobbyanthropologen Kant in seinem Alterswerk nicht mehr gelungen wäre, seine krude Rassenlehre als moralisch irrelevant zu erkennen.

Der moralische Universalismus meint mit „alle Menschen“ tatsächlich alle, ungeachtet ihrer Herkunft, sozialen Stellung, Religion, sexuellen Orientierung. Daran gibt es in normativer Hinsicht nichts zurückzunehmen. Spätere Errungenschaften wie die Abschaffung der Sklaverei, die Einführung des Frauenwahlrechts oder die Entkriminalisierung der Homosexualität versteht man am besten als Konkretisierungen des Gleichberechtigungspostulats der Aufklärung. Vielleicht auch als Erinnerung für die Begriffsstutzigen: Ja, „alle“ bedeutet „alle“.Gleichwohl wird ernsthaft vertreten, dass der aufklärerische Universalismus bloß partikulare Interessen weißer europäischer Männer verschleiere. Wer tatsächlich der Auffassung ist, dass den Universalismus beim Wort zu nehmen den partikularen Charakter des politischen Kampfes verkenne, möge sich diese bittere Wahrheit vor Augen führen: Sobald die Adressaten einer partikularen Forderung die Behauptung, dass die Durchsetzung eine Machtfrage sei, ihrerseits beim Wort nehmen, steht der Fordernde mit leeren Händen da. Eine um Gruppeninteressen gescharte kulturalistische Linke, die auf Tribalismus setzen wollte – Neimans Ausdruck, nicht meiner –, ist für politisch rauere Zeiten denkbar schlecht gerüstet. Sie hat beispielsweise gegen die unheimliche Erfolgssträhne des neuen Rechtspopulismus, wie Michael Hampe einmal gesagt hat, „außer ihrer partikularen politischen Meinung nichts, aber auch gar nichts in der Hand“.Nun verteidigt Neiman gerade die Autonomie von Gerechtigkeitsfragen gegenüber Machtfragen. Sie wirft denjenigen, die sich von Carl Schmitt und Foucault den Kopf haben verdrehen lassen, vor, diese Unterscheidung aufgegeben zu haben. Mein Dissens mit Neiman betrifft ihre Annahme, dass die wahre Linke in dieser Hinsicht besser abschneide. Neiman identifiziert das Linkssein mit dem moralischen Universalismus der Aufklärungsphilosophie. Diese Darstellung ist eher von Wunschdenken getrieben als durch Belege gestützt. Tatsächlich sitzt die Linke im Glashaus, wenn sie den als woke Apostrophierten die Preisgabe aufklärerischer Ideale vorhält.Die als woke Apostrophierten führen immerhin die Gerechtigkeit im Munde und sind damit zumindest verbal moralaffiner als die klassische, interessenorientierte Linke. Beide stehen gleichermaßen vor der Herausforderung, mit eigenen Mitteln ihre normativen Maßstäbe zu begründen, nachdem sie den Universalismus diskreditiert haben. Ob es einmal gelingen wird, die Forderung „Gerechtigkeit für X“ überzeugend auf eine Weise auszubuchstabieren, die sich nicht auf den moralischen Universalismus stützt, bleibt abzuwarten. Bislang hat es niemand hinbekommen.

Warum überhaupt Bündel schnüren?

Für Neiman war die Versuchung, die Frage nach dem Kern des Linksseins mit dem Markieren der eigenen politischen Überzeugungen zu verknüpfen, offenbar zu groß. Politiker:innen dürfen dieser Versuchung erliegen, Intellektuelle sollten es besser nicht tun. Neiman wirft nicht nur bei ihrem Kritikziel, sondern auch bei der Charakterisierung des Linksseins zu viel in einen Topf. Diejenige Art von aufklärerischer Vernunftmoral, die ihr vorschwebt – kosmopolitisch, universalistisch, kantianisch, rechte- und pflichten- statt interessenbasiert, der Res Publica verpflichtet – lässt sich nur mit großen Verrenkungen mit der wahren Linken identifizieren. Politisch heimatlos ist dieses Bündel nicht, es gibt ja noch Robert Habeck.

Hätte Neiman sich mehr Mühe mit dem Nachweis geben sollen, dass eben dieses Bündel die wahre Linke ausmache? Ich denke nicht und möchte ein anderes Fazit ziehen: Wer nicht gerade Parteiprogramme schreiben muss, könnte einfach damit aufhören, politische Auffassungen zu Bündeln zu schnüren und diese mit „links“, „rechts“, „liberal“, „woke“ oder „konservativ“ zu beschriften. Die zeitdiagnostische Kraft dieser Etiketten nimmt mit der Größe der Bündel ab. Das Schnüren großer Bündel ist kein Aufklärungsfortschritt und behindert konstruktive politische Debatten. Auch Neimans Verteidigung der aufklärerischen Ideale wäre nicht schwächer ausgefallen, wenn sie auf den – aus Marketinggründen ersonnenen? – Titel des Buches verzichtet hätte.

Geert Keil ist Professor für Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität.

RUSSLAND – UKRAINE

Newsticker

DIE NACHT IM ÜBERBLICK

ROUNDUP: Schwere Kämpfe um Stadt im Gebiet Donezk – Die Nacht im Überblick

AWDIJIWKA (dpa-AFX) – Die schweren Kämpfe um die Stadt Awdijiwka im Osten der Ukraine halten nach Angaben aus Kiew weiter an. „Unsere Verteidiger halten tapfer die Stellung“, teilte der ukrainische Generalstab am Donnerstagabend in seinem Lagebericht mit. Sieben russische Attacken auf die Kleinstadt und sieben weitere auf Ortschaften in der Nähe seien abgewehrt worden, schrieb die Militärführung in Kiew. Russische Militärblogger hingegen schrieben von weiteren Geländegewinnen des Moskauer Militärs. Unabhängig lassen sich die Angaben beider Seiten nicht überprüfen.

Der Kommandeur des südlichen Frontabschnitts „Taurien“, Brigadegeneral Olexander Tarnawskyj, schrieb auf Telegram, den russischen Angreifern würden schwere Verluste zugefügt. Die angespannte Lage der ukrainischen Verteidiger macht allerdings der Bericht des Generalstabs über russische Luftangriffe auf die Gegend deutlich. In den vergangenen Monaten hatte Moskau seine Flugzeuge nur vereinzelt eingesetzt, auch weil die ukrainische Flugabwehr der russischen Luftwaffe empfindliche Verluste zugefügt hat. Nun aber wurden neben Awdijiwka auch die Ortschaften Nowokalinowe, Keramik und Stepowe nordwestlich davon bombardiert.

Awdijiwka liegt in unmittelbarer Nähe der bereits seit 2014 von prorussischen Kräften kontrollierten Großstadt Donezk. Die stark ausgebaute Festung ist seit Monaten umkämpft. Ziel der seit zwei Tagen aber noch einmal verstärkten russischen Offensive ist es offenbar, Awdijiwka von der Versorgung abzuschneiden und die dort stationierte Garnison einzukesseln.

Selenskyj will Waffenlieferungen an das Militär digitalisieren

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ging am Rande ebenfalls auf die Kämpfe um Awdijiwka ein, als er den Soldaten für ihr Durchhaltevermögen dankte. Er forderte zugleich eine Digitalisierung der Waffenlieferungen. Durch ein digitales Verzeichnis entstehe ein besseres Verständnis über die Versorgung der Soldaten und mögliche Defizite, sagte er am Donnerstagabend in seiner täglichen Videoansprache. Zudem sei es so möglich, die Lageberichte in Kiew mit der tatsächlichen Situation an der Front besser zu vergleichen und westlichen Partnern schnell Informationen über die Verwendung der von ihnen gelieferten Waffen zu geben, zeigte sich Selenskyj überzeugt.

Der Ukrainer dankte dem Westen noch einmal für Waffen- und Munitionslieferungen, machte aber auch deutlich, dass es Ziel der Ukraine sein müsse, sich im militärischen Bereich weitgehend selbst zu versorgen. Nach dem Angriff der islamistischen Hamas auf Israel wurden Befürchtungen in Kiew laut, dass die Hilfe aus den USA und Europa für das eigene Land angesichts des neuen Krisenherds erlahmen könnte.

Selenskyj hingegen betonte vor allem seine Solidarität mit Israel und dankte allen, die eine Ausweitung des Konflikts auf den ganzen Nahen Osten verhinderten. „Der einzige, der am schlimmsten Szenario interessiert ist, ist unser Feind“, sagte er. Mit seiner Forderung, dass Terroristen stets zur Verantwortung gezogen werden müssten, stellte der 45-Jährige dabei wie schon in den vergangenen Tagen Russland und die Hamas auf eine Stufe.

Selenskyj dankt Europarat für Anerkennung des Holodomor

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) für die Anerkennung des Holodomor als Völkermord bedankt. „Die Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit und die Anerkennung der Holodomor-Opfer senden ein Signal, dass alle früheren und jetzigen Verbrechen Moskaus unausweichlich geahndet werden“, schrieb Selenskyj am Donnerstag auf der Plattform X, ehemals Twitter. Holodomor wird die Hungerkatastrophe 1932/33 in der Ukraine unter Sowjetführer Josef Stalin genannt, der Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Putin zu erstem Auslandsbesuch des Jahres in Kirgistan eingetroffen

Russlands Präsident Wladimir Putin ist am Donnerstag in der zentralasiatischen Republik Kirgistan eingetroffen. Es ist sein erster Auslandsbesuch in diesem Jahr. Es ist auch das erste Mal, dass der Kremlchef seit Erlass des Haftbefehls des Weltstrafgerichts in Den Haag Russland verlassen hat. In Kirgistan droht dem 71-Jährigen anders als in vielen anderen Ländern der Erde keine Festnahme wegen Kriegsverbrechen gegen die Ukraine.

Mit dem kirgisischen Präsidenten Sadyr Schaparow vereinbarte er den Aufbau einer gemeinsamen Flugabwehr. Zudem traf er am Abend auch Aserbaidschans Staatschef Ilham Aliyev, wobei die Gespräche über die Lage der Konfliktregion Berg-Karabach unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand.

Das wird am Freitag wichtig

Putin wird in Kirgistan am Gipfel der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) teilnehmen, in der frühere Sowjetrepubliken zusammenarbeiten. Putin will mit der Reise einmal mehr zeigen, dass er trotz der Sanktionen des Westens im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine international nicht isoliert ist./bal/DP/zb

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